28. Juni 2018

Kristine Bilkau: Eine Liebe, in Gedanken

Vor einigen Tagen las ich auf der Seite boersenblatt.net eine Kolumne zum Thema Buchcover, die mich so amüsiert hat, dass ich sie hier verlinken möchte. Die Journalistin Constanze Kleis beschreibt darin das Buchcover-Phänomen "Frauen, die aufs Wasser starren". "Frauen, die aufs Wasser starren" sind scheinbar gerade auf Buchtiteln en vogue, weswegen eine gewisse Häufung festzustellen ist. Da ich mich momentan frustrierend wenig in deutschen Buchhandlungen aufhalte, war mir diese Mode noch nicht bewusst aufgefallen - mit der Nase darauf gestoßen stellte ich aber fest, dass selbst ich innerhalb der letzten zwei Monate zwei Bücher gelesen habe, auf deren Covern Frauen aufs Wasser starren.


Über Verena Carls "Die Lichter unter uns" hatte ich bereits geschrieben. Letzte Woche habe ich nun Kristine Bilkaus "Eine Liebe, in Gedanken" gelesen. Die Bücher haben einen gewissen melancholischen Grundton gemeinsam, den das Covermotiv bereits widerspiegelt. Das ist aber auch schon ihre einzige Ähnlichkeit miteinander.

In "Eine Liebe, in Gedanken" räumt eine Tochter nach dem Tod ihrer verstorbenen Mutter deren Wohnung aus. Die namenlose Erzählerin findet alte Briefe und Fotos und verliert sich in Gedanken an das Leben der ruhelosen Antonia. Diese hatte mit Anfang 20 – lange vor der Geburt der Tochter – ihre große Liebe in Edgar gefunden. Die Erzählerin trägt zusammen, was sie über die Liebesgeschichte von Antonia und Edgar weiß. Und so erstehen die 1960er Jahre in „Eine Liebe, in Gedanken“ noch einmal auf. Antonia wächst einem dabei schnell ans Herz, diese beherzte, freiheitsliebende junge Frau, die gleichzeitig bereit ist, sich voll und ganz den Bedürfnissen ihres Edgars unterzuordnen. Gerade weil sie sich für eine traditionelle Versorgungsehe zu modern fühlt, stellt sie keine Forderungen an ihren Liebsten. Doch was will, was plant der grüblerische, vorsichtige Edgar eigentlich?

„Eine Liebe, in Gedanken“ war für mich anders als erwartet. Die Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Antonia und der Erzählerin wird eher indirekt beleuchtet, im Zentrum steht Antonias Liebe zu Edgar. Nacherzählt wird die Liebesgeschichte zwar von der Tochter, die hier jedoch fast als allwissende Erzählerin auftritt, bis sie gegen Ende des Buches wieder aus dem Schatten der Geschichte ihrer Mutter heraustritt. Und eigene Erfahrungen macht, die wie ein Nachhall erscheinen. So ermöglicht sie sich selbst wie dem Leser ein größeres Verständnis für Antonias Geschichte, ein größeres Verständnis vielleicht auch für Antonia. Es scheint fast, als würde die Erzählerin sich nach dem Tod der Mutter mehr auf deren Wünsche und Sehnsüchte einlassen können als zu ihren Lebzeiten. Dieser melancholische Roman nimmt damit ein versöhnliches Ende.

Hervorzuheben ist Bilkaus behutsame Sprache, mit der sie vorsichtig-zurückhaltend Gedanken, Gefühle und Erinnerungen schildert. Dabei sitzt jedes Wort. Der Roman kommt ohne Längen aus, erzählt, was nötig ist, mehr aber auch nicht. Ich habe den knappen Stil der Autorin als besonders berührend empfunden, er lässt genug Spielraum, um ihren präzisen Formulierungen nachzuschmecken. Die geschilderte Zeit war mir fremd, wurde mir aber nach und nach sehr nahegebracht. Am Ende dieser leisen Geschichte konnte ich wie die Erzählerin meinen Frieden mit ihr machen. Ein intensives Leseerlebnis und ein Roman, der seine Leser auch fordert: „Eine Liebe, in Gedanken“ ist zwar kein dickes Buch, aber trotzdem auch keins, das sich einfach so wegliest. Man braucht etwas Zeit sowie die Bereitschaft, sich stimmungsmäßig voll und ganz darauf einzulassen. Und muss am Ende aushalten, dass sich nicht alles zufriedenstellend aufklären lässt – wie im richtigen Leben. Vermutlich bleibt „Eine Liebe, in Gedanken“ gerade deswegen im Gedächtnis.

Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 12. März 2018
ISBN: 978-3630875187
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

12. Juni 2018

Hala Alyan: Häuser aus Sand

Hier ein weiteres Buch aus der Serie "Cover, deren Schönheit beim E-Book so gar nicht rauskommt". Trotzdem sei lobend erwähnt, dass gerade der DuMont Verlag oft wunderschöne Cover für seine Romane gestalten lässt. Ich hatte letzte Woche die Printausgabe von "Was man von hier aus sehen kann" in den Händen und fand auch diese optisch sehr gelungen. Ansonsten haben die beiden Bücher aber nichts gemein, außer dass ich sie beide sehr gerne gelesen habe.


In „Häuser aus Sand“ begleitet der Leser Palästinenserin Alia durch fünf Jahrzehnte: 1963 steht sie kurz vor ihrer Hochzeit mit ihrer Jugendliebe Atef, 2014 ist sie eine alte Frau, die ein ruheloses Leben hinter sich hat. Alia hat ihre frühe Kindheit in Jaffa verbracht, in Nablus die Zeit bis zu ihrem ersten Ehejahr, ihre Kinder sind in Kuweit zur Welt gekommen und als diese aus dem Haus waren, ist sie nach Amman gezogen. Alle Umzüge eint, dass diese nicht freiwillig geschahen, sondern aus Flucht oder Vertreibung resultierten. Und so scheint Alia immer nur in vergänglichen „Häusern aus Sand“ gewohnt zu haben – eine Beduinin wider Willen. Auch wenn sie sich nirgends mehr so heimisch fühlte wie in Nablus, ist ihr Leben erfüllt. Der Leser erlebt es auszugsweise mit – mal aus Alias Sicht, mal aus der verschiedener Familienmitglieder. Mit jedem neuen Kapitel wechselt die Perspektive, gleichzeitig gibt es einen Zeitsprung, mal um ein Jahr, mal um zehn. So entfaltet sich nach und nach eine komplexe Familiengeschichte, in der geliebt, gestritten und getrauert wird. Kinder werden erwachsen, Menschen kommen sich näher und entfernen sich voneinander, hadern oder schließen Frieden mit sich selbst. Autorin Alyan hat ein kunstvolles Gefüge geschaffen und macht das Leben der Familie Yacoub quasi im Zeitraffer erfahrbar. Vor meinem inneren Auge entstanden dabei Bilder von Orten, die ich bislang höchstens aus den Nachrichten kannte. Nun rieche ich beim Gedanken an Jaffa schon fast den Duft sonnengereifter Orangen und kann mir die sengende Hitze in Kuweit so ansatzweise vorstellen wie das quirlige Großstadtleben in Beirut.

Auch wenn Alia und ihre Familie immer wieder umziehen müssen, handelt „Häuser aus Sand“ längst nicht nur von räumlichen Veränderungen. Es geht auch um Generationskonflikte, den Bruch mit Traditionen und die Rückbesinnung auf Werte. Schon Alias Kinder entwickeln sich so unterschiedlich, dass sie selbst nur staunen kann. Der Verlust von Traditionen, Ritualen und auch Bindungen scheint durch die häufigen Ortswechsel begünstigt. Doch auch wenn die einzelnen Familienmitglieder zum Teil über tausende Kilometer verstreut voneinander leben, wenn sie im Alltag kaum mehr arabisch sprechen und ihr gegenwärtiges Leben keinerlei Rückschlüsse auf ihre eigentlichen Wurzeln mehr zulässt, muss das laut Alyan nicht den kompletten Heimatverlust bedeuten. Denn Heimat ist nicht zwangsweise an einen Ort gebunden, auch Familie kann Heimat sein, so unähnlich sich ihre Mitglieder auch sein mögen. So der Tenor von „Häuser aus Sand“ - und das ist nur einer der tröstlichen Gedanken, die ich aus diesem sprachlich schönen und inhaltlich nachdenklich machenden Roman mitgenommen habe.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 396
Erscheinungsdatum: 18. Juni 2018
ISBN: 978-3832198558
Preis: 24,00 € (E-Book: 19,99 €)

6. Juni 2018

Marie Reiners: Frauen, die Bärbel heißen

In meiner letzten Rezension habe ich das Cover des besprochenen Buches sehr hervorgehoben. Dieses dagegen wäre mir in einer Buchhandlung eventuell nicht weiter aufgefallen bzw. hätte mich nicht unbedingt nach dem Roman greifen lassen - zwei sich unterhaltende Raben vor dem Fernseher? Nachdem ich inzwischen so manches über Hauptfigur Bärbel erfahren habe, empfinde ich es allerdings durchaus als passend. Und glaube nicht, dass sich die Raben wirklich noch unterhalten können ...


„Frauen, die Bärbel heißen“ – mit denen hat Drehbuchautorin Marie Reiners schon Erfahrung, ist sie doch Schöpferin der großartigen Krimiserie „Mord mit Aussicht“, in der es ebenfalls eine Bärbel gibt. Diese hat allerdings wenig Ähnlichkeiten mit der Hauptfigur in Reiners erstem Roman: Die 54-jährige Bärbel Böttcher ist eine arbeitslose Tierpräparatorin, die mit ihrer Hündin Frieda sehr zurückgezogen lebt und damit durchaus zufrieden ist. Als sie beim Gassigehen eine Leiche findet, wird ihr Leben jedoch gehörig durcheinandergewirbelt – die Polizei befragt sie, ein Reporter lauert ihr auf und schließlich steht auch noch die Ehefrau des Opfers vor ihrer Tür und greift zu ziemlich rabiaten Methoden, als Bärbel sie abzuwimmeln versucht. Dabei möchte Bärbel doch einfach nur Tartar essen und Shoppingsendungen gucken. Doch wie heißt es schon bei Schiller: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Wobei Bärbels Nachbar nicht das Problem ist – auch wenn er sie im weiteren Verlauf des Buches als „sonderbar“, „psychisch gestört“ und „unheimlich“ beschreibt. Und Eigenbrötlerin Bärbel ganz und gar nicht zu den Frömmsten gezählt werden kann, aber immerhin nach dem Motto „leben und leben lassen“ zu handeln versucht – vor allem aus Eigeninteresse, sie will schließlich einfach nur ihre Ruhe.

Als Dermoplastikern hat Hauptfigur Bärbel – wie auch ihre Hündin Frieda – keine Scheu vor Körperflüssigkeiten jeglicher Art und ist auch wenig zimperlich. Die Ich-Erzählerin hat mich immer wieder überrascht – positiv, den kompletten Roman hindurch jagt ein unvorhersehbares Ereignis das nächste, und zwar auf herrlich schräge Art und Weise. „Frauen, die Bärbel heißen“ ist ein bisschen Krimi, ein bisschen Charakterstudie und vor allem skurril. Trotzdem ist es Reiners gelungen, ihre Romanhandlung irgendwie gar nicht so abwegig erscheinen zu lassen. Ein paar schöne Seitenhiebe gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen, mit dem die Autorin langjährige Erfahrungen hat, gibt’s obendrauf. Ich habe mich bei der Lektüre fortlaufend amüsiert und Bärbel am Ende nur ungern ziehen lassen. Allerdings hoffe ich auf eine Fortsetzung, denn die Geschichte scheint mir noch lange nicht auserzählt – eigentlich fängt sie gerade erst so richtig an. „Frauen, die Bärbel heißen“ sind offensichtlich immer für Überraschungen gut!

Verlag: FISCHER Scherz
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 8. März 2018
ISBN: 978-3651025233
Preis: 16,99 € (E-Book: 14,99 €)

28. Mai 2018

Natalie Buchholz: Der rote Swimmingpool

Cover wirken auf einem E-Book-Reader naturgemäß etwas trist, werden sie doch nur in Graustufen angezeigt. Meist ist mir das egal, aber manche Bücher sehen so farbenfroh aus, dass ich das Originalcover doch noch einmal daneben stellen muss. Hier spiegelt schon die satte rote Farbe das dekadente Sommergefühl des Romans wieder. Man sieht außerdem, dass hier etwas in Bewegung geraten ist - und fängt man dann an zu lesen, stellt man fest, dass das nicht nur auf das Wasser des abgebildeten roten Swimmpingpools zutrifft.


„Der rote Swimmingpool“ ist ein sommerlich leichter Coming-of-Age-Roman, in dem der Leser Hauptfigur Adam durch Höhen und Tiefen begleitet. Dabei gibt es zwei parallele Handlungsstränge; Vergangenheit – hauptsächlich die Monate vor Adams 18. Geburtstag – und Gegenwart – irgendwann im Laufe seines 19. Lebensjahres – wechseln sich kapitelweise ab. Adams Erwachsenwerden und Selbstfindung sind ein holpriger Prozess, nachhaltig gestört von der für ihn aus heiterem Himmel kommenden Trennung seiner Eltern, die doch immer ein Vorzeigepaar gewesen waren: Seine Mutter eine extravagante Französin, sein Vater ein erfolgreicher Unternehmensberater, der seiner Frau einen rotgekachelten Swimmingpool in den Garten bauen ließ, nachdem sie die französische Küste so vermisste. Doch plötzlich ist alles vorbei, Adam versteht die Welt nicht mehr und niemand will sie ihm erklären.
Während das Unheil in der Vergangenheit seinen Lauf nimmt, gibt es für Adam in der Romangegenwart Hoffnung: Er lernt Tina kennen und scheint sich zum ersten Mal zu verlieben. Dumm nur, dass sein bester Freund Tom ebenfalls ein Auge auf sie geworfen hat …

Autorin Natalie Buchholz hat die Geschichte geschickt konstruiert. Die beiden Handlungsstränge gleichen sich zeitlich immer mehr an, bis der Leser schließlich erfährt, welche Ereignisse der Vergangenheit zur Gegenwart geführt haben. Das ist gut gemacht und steigert die Spannung in diesem Roman, in dem ab und an auch die Zeit stillzustehen scheint: Wenn die Mutter ihre Bahnen durch den Pool zieht oder Adam mit seinen Freunden am See abhängt, kann man die Atmosphäre eines wolkenlosen, trägen Sommertages, an dem niemand etwas von einem will, quasi mit Händen greifen. Adam wächst dem Leser ans Herz, seine inneren Kämpfe sind nachvollziehbar, man leidet fast mit. Etwas blass bleiben dagegen seine Eltern, die für Adams Verwirrung und Orientierungslosigkeit verantwortlich sind. Aber auch das ist gut dargestellt: Anfangs noch die Helden seiner Kindheit, gelangt Adam schließlich zur Erkenntnis, dass seine Eltern auch nur Menschen sind – und dabei vielleicht sogar besonders fehlbare Exemplare.

Ich habe „Der rote Swimmingpool“ gerne gelesen. Dabei brauchte ich ein paar Kapitel, um wirklich in die Geschichte mit ihren beiden Zeitsträngen hineinzufinden, aber danach konnte ich das Buch kaum mehr aus der Hand legen. Eine leichte, aber doch anrührende und nachdenklich machende Lektüre – ob nun an einem heißen Sommertag an einem roten Swimmingpool gelesen oder nicht.

Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 14. Mai 2018
ISBN: 978-3446259096
Preis: 19,00 € (E-Book: 14,99 €)

14. Mai 2018

Christine Féret-Fleury: Das Mädchen, das in der Metro las

Manches lese ich, obwohl mich die Leseprobe nicht komplett überzeugt hat. Natürlich lese ich längst nicht immer die Leseprobe eines Romans, bevor ich mich für seine Lektüre entscheide, aber hier hatte ich es getan. Sie handelte von einer täglich zur Arbeit pendelnden jungen Frau, die in der Pariser Metro las, und hielt damit absolut, was der Buchtitel versprach. Mich irritierte allerdings ein wenig, wie träumerisch die junge Frau wirkte, wie sehr in ihre Gedankenwelt versponnen.
Aber ich wollte dieses Buch trotzdem lesen. Zum einen fand ich das Cover sehr gelungen, zum anderen mag ich Bücher über Bücher. Dazu kam, dass die Handlung in der Leseprobe noch nicht wirklich begonnen hatte, und so hatte ich mir sowieso noch keinen wirklichen Eindruck von der Erzählung machen können.


Protagonistin Juliette ist „Das Mädchen, das in der Metro las“. Sie liest vor allem morgens und abends, auf dem Hin- und Rückweg zu ihrer sie langweilenden Arbeit in einem Maklerbüro. Außerdem beobachtet sie die anderen pendelnden Leser und ihre Bücher und macht einige skurrile Beobachtungen. Insgesamt führt sie ein ruhiges, ereignisloses Leben – ein Leben, wie es sich ihre Mutter immer für sie gewünscht hat: ohne größere Probleme, Sorgen, Aufregungen. Dass es zu einer radikalen Veränderung ihres Lebens führt, als sie einmal spontan beschließt, ein paar Stationen früher aus der Metro auszusteigen und einen kleinen Spaziergang zu machen, ist dann auch am wenigsten für Juliette selbst abzusehen. Doch als sie den Antiquariats-ähnlichen Laden „Bücher ohne Grenzen“ bemerkt und betritt, kommen Ereignisse ins Rollen, die Hauptfigur und Leser gleichermaßen überraschen.

Ich möchte diese Ereignisse nicht vorwegnehmen – bei einem nur 174 Seiten umfassenden Buch ist sonst schnell der halbe Roman erzählt. Nur so viel: Es geht immer wieder um Bücher, Autorin Christine Féret-Fleury betreibt ein richtiggehendes Literatur-Namedropping. Immer wieder wird thematisiert, dass das richtige Buch zur richtigen Zeit durchaus etwas bewirken und ein Leben verändern kann. Trotz aller Bibliophilie bleibt jedoch nicht unerwähnt, dass Lesen kein Ersatz für leben ist – Bücher können ein Leben bereichern, aber wer über das Lesen sein Leben vergisst, verpasst ebenfalls etwas. Protagonistin Juliette erfährt all das am eigenen Leib. Die Häufung dieser Ereignisse gerade gegen Romanende hat mich dabei sehr überrascht; ich bin mir immer noch nicht ganz klar darüber, was ich nun eigentlich davon halte. „Das Mädchen, das in der Metro las“ hat stellenweise etwas Zauberhaftes, das mich an „Die fabelhafte Welt der Amélie“ erinnerte. Andere Elemente wollten nicht so recht zu dieser märchenhaften Stimmung passen, wie der Leser wird auch „Das Mädchen, das in der Metro las“ schmerzhaft in die Realität zurückgeholt. Und das Romanende ist eigentlich wieder ein Anfang, dem dann auch noch eine Bücherliste folgt, die schon ein halber Klassikerkanon ist. Puh!

Der träumerische Grundton zu Beginn des Buches verliert sich über die Langstrecke zwar, aber dass am Ende dann alles so schnell ging – so ganz kam ich da doch nicht mit. Vielleicht wollte Autorin Féret-Fleury hier zu viel auf zu wenig Seiten erreichen. Die Autorin hat lange als Verlagslektorin gearbeitet und bringt ihre Liebe zu Büchern auf vielfache Weise zum Ausdruck, aber ihrer eigentlichen Handlung hätte sie für meinen Geschmack mehr Seiten einräumen sollen.

Was bleibt, ist das Gefühl, irgendetwas verpasst zu haben. „Das Mädchen, das in der Metro las“ ist kein schlechtes Buch, scheint aber inhaltlich nicht komplett ausgegoren. Eine gelungene Hommage an die Literatur, aber als Roman nicht komplett überzeugend. Vielleicht hätte mich das Cover doch vorwarnen sollen?

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 176
Erscheinungsdatum: 22. Mai 2018
ISBN: 978-3832198862
Preis: 18,00 € (E-Book: 14,99 €)

9. Mai 2018

Verena Carl: Die Lichter unter uns

Manchmal spricht einen einfach schon das Cover an. Dieses hier fiel mir gleich auf mit seinen Blau- und Weißtönen, zu denen das fröhliche Gelb von Rahmen und Buchrücken nicht ganz zu passen scheint. Obwohl die abgebildete Frauenfigur nur von hinten zu sehen ist, lässt sich bestens vorstellen, dass sie sehnsüchtig aufs Meer schaut. So wird der Leser auch gleich auf die melancholische Stimmung des Romans vorbereitet, die mir dann allerdings manchmal etwas zu viel wurde.


Die aufs Meer blickende Frau könnte Anna sein, die Hauptfigur in "Die Lichter unter uns". Ihre zweite (und letzte) Urlaubswoche auf Sizilien ist bereits angebrochen. Ihr Mann Jo und sie waren hier vor Jahren in den Flitterwochen in der vornehmen Villa Mare. Inzwischen haben sie zwei Kinder, den sechsjährigen Bruno und die elfjährige Judith und an einen Urlaub in dem Nobelhotel ist nicht mehr zu denken, die gebuchte, günstige Ferienwohnung jedoch nur ein schaler Ersatz. Und auch Flitterwochengefühle stellen sich nicht ein, das Paar scheint sich auseinandergelebt und nicht mehr viel zu sagen zu haben. Anna funktioniert als Mutter, wirkt jedoch abwesend und hängt meist ihren trüben Gedanken nach. Bis sie eines Abends Alexander beobachtet und es zu einem kurzen Blickkontakt zwischen ihnen kommt. Alexander, Anfang 50, gepflegt, erfolgreich, wohlhabend, auf der Sonnenseite des Lebens und im Urlaub mit seinem studierenden Sohn aus erster Ehe und seiner jungen, schwangeren Frau. Zumindest ist das die Fassade, die Anna sieht – und die sie anzieht. Ist sein Leben nicht viel attraktiver als ihres – bzw. wäre ihr Leben nicht viel attraktiver, wenn es an seiner Seite stattfände?

Der Romanbeginn ist in erster Linie aus Annas Perspektive geschildert und wirkt durch ihre Unzufriedenheit schnell deprimierend. Doch Autorin Carl lässt ihre Leser bald auch hinter die Fassade von Erfolgsmensch Alexander blicken. Nach und nach werden die anderen erwachsen Figuren ebenfalls zu Erzählern und es zeigt sich, dass nicht alles Gold ist, was glänzt. Die Kirschen in Nachbars Garten sind süßer – zumindest ist das die Vorstellung auf der eigenen Seite des Zauns. Über der ganzen Szenerie hängt ein Hauch von Vergänglichkeit, Herbst, Verwesung: Urlaub und Feriensaison gehen gleichermaßen zu Ende – und vielleicht auch Annas Ehe?

Carl formuliert sprachlich schöne Sätze, sie findet stimmige Metaphern für ihren von Molltönen durchzogenen Roman. Gekonnt lässt sie ihren Lesern einen gewissen Interpretationsspielraum, ohne dass diese komplett im Trüben fischen – das fand ich bei der Lektüre sehr angenehm und anregend. Dennoch brauchte ich eine Weile, um mich auf die Geschichte einzulassen. Es fällt nicht leicht, mit Anna warm zu werden, einer gestandenen Frau, die sich wie ein junges Mädchen einer gedanklichen Schwärmerei ergibt und für die das Familienleben oft nur noch eine Pflichtübung zu sein scheint. Auch die anderen Figuren sind nicht unbedingt Sympathieträger. Doch ihre Geschichten sind komplexer angelegt, als es auf den ersten Blick scheint und so entwickelt sich der Roman und zieht den Leser langsam mit. Als ich schon nicht mehr damit gerechnet habe, hat mich dieses Buch doch noch berührt und schließlich nachdenklich zurückgelassen. Als Sommer- oder gar Urlaubslektüre möchte ich es nicht empfehlen, aber zum Herbst könnte es stimmungsmäßig gut passen.

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 25. April 2018
ISBN: 978-3103973631
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

30. April 2018

Trevor Noah: Born a crime

Diese autobiographischen Geschichten haben meinen Südafrika-Urlaub sehr bereichert und mir Einblicke in das Land gegeben, die mir sonst weder in Kapstadt, Johannesburg noch auf der Garden Route vermittelt wurden. Sie wurden nicht im eigentlichen "Romanregal" fotografiert, weil ich sie gar nicht mehr nach Hause mitgenommen, sondern gleich nach der Lektüre weiter verliehen habe. Manchmal muss man Prioritäten setzen!


Der deutsche Titel dieses grandiosen Buches ist „Farbenblind“. Warum, hat sich mir nicht erschlossen, denn die Gesellschaft, in die der Südafrikaner Trevor Noah 1984 hineingeboren wird, ist nicht „farbenblind“, sondern zutiefst farbenfixiert, was er von klein auf zu spüren bekommt. Trevor Noahs Hautfarbe belegt ab dem Tag seiner Geburt, dass gegen „Immorality Act No. 5“ der Apartheidsgesetze verstoßen wurde: Er ist farbig – obwohl er eine schwarze Mutter hat. Was nur bedeuten kann, dass sein Vater weiß ist, und dass er und Trevors Mutter den genannten Paragraphen missachtet haben, der Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben sexuelle Beziehungen untersagt und Verstöße mit bis zu fünf Jahren Gefängnis ahndet. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Titel der englischen Ausgabe auf einen Blick: „Born a crime“. Was für ein Start ins Leben – ein Leben, in dem der weiße Vater in der Öffentlichkeit panisch die Flucht vor seinem „Daddy“ rufenden Kleinkind ergreift, die Mutter zum Spaziergang im Park gerne eine farbige Freundin mitnimmt und die schwarze Großmutter den Enkel in ihrer Hütte versteckt hält, wenn er sie in Soweto besucht. Trevor Noah ist mit einer besonderen Sensibilität in Bezug auf Hautfarben aufgewachsen – gezwungenermaßen. Er konnte sich die hier gemeinte „Farbenblindheit“ nicht leisten.

In seinen autobiographischen Rückblicken lässt er den Leser an seiner Kindheit und Jugend in Johannesburg teilhaben. Mit fantastischer Leichtigkeit schildert Noah, was es für ihn als farbiges Kind bedeutet hat, im Apartheids- und Postapartheids-gebeutelten Südafrika aufzuwachsen. Bereits auf den ersten Seiten schafft er es mühelos, auch seine ausländischen Leser in diese zutiefst rassistische Welt mitzunehmen und ihren Horizont zu erweitern.
Ich habe Trevor Noahs „Born a crime“ als Geschenk empfunden. Der Autor ist nur zwei Jahre jünger als ich. Er ist unter Bedingungen aufgewachsen, die mir kaum fremder sein könnten und schafft es trotzdem, seine damaligen Lebensumstände gleichsam unterhaltsam und nachvollziehbar zu schildern. Er nimmt seine Leser an die Hand und erklärt, worauf ein nicht-südafrikanischer Leser vermutlich nicht kommt: Wieso bleiben Menschen freiwillig in Townships wohnen? Wieso kam es vor, dass schwarze Mütter ihre Söhne „Hitler“ nannten? Wieso hatten Gebetskreise in Soweto die Hoffnung, dass Gott ein farbiges Kindes eher erhören würde als schwarze Frauen?

Trevor Noah musste von klein auf lernen, was es heißt, anders zu sein, wuchs er doch in einem Land auf, dass Menschen ausschließlich über ihre Hautfarbe und Stammesangehörigkeit definierte. Er lernte nach und nach, sich wie ein Chamäleon an seine Umgebung anzupassen – sein Schlüssel war dabei die Sprache, er beherrschte neben Englisch noch isiXhosa, isiZulu und andere und verblüffte damit, dass er sich so nicht in die Schublade sortieren ließ, in die der typische Farbige gesteckt wurde. Meine naive Vorstellung war ja, dass sich das Thema Hautfarbe mit dem Ende der Apartheid in Südafrika zu größeren Teilen erledigt hätte, doch diese wurde schnell ausgeräumt.

Eine Freundin, die das Buch auf Deutsch angelesen hat, äußerte sich mir gegenüber enttäuscht über die Einfachheit der Sprache. Bei meiner Lektüre auf Englisch ist mir nicht aufgefallen, dass Noahs Stil in irgendeiner Art und Weise schlicht wäre. Ich kenne die Übersetzung jedoch nicht und bin im Englischen sicher nicht so sprachsensibel wie im Deutschen. Es ist klar, dass Trevor Noah kein Literat ist – das ist nicht sein Metier. Der Südafrikaner ist ein höchst erfolgreicher Comedian, der seit 2015 als Nachfolger von Jon Stewart die Late-Night-Show „The Daily Show“ in den USA moderiert. Er ist Unterhalter und hat ein höchst unterhaltsames und trotzdem sehr reflektiertes Buch geschrieben – angesichts des Inhalts ist das in meinen Augen eine große Leistung.

„Born a crime“ vermittelt dem Leser eine leise Ahnung davon, was Apartheid für die Betroffenen wirklich bedeutet hat - und was in Südafrika bis heute im Argen liegt. Es verdeutlicht, warum "Farbenblindheit" bis heute ein frommer Traum ist und ist trotzdem nicht verbittert, sondern feiert das Leben. Ich kann es nur empfehlen.

Verlag: Spiegel & Grau
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 19. September 2017 (Hardcover: 15. November 2016)
ISBN: 978-0525509028
Preis: aktuell 7,99 € (E-Book: 4,49 €)

Ist am 6. März 2017 auf Deutsch beim Karl Blessing Verlag unter dem Titel "Farbenblind" erschienen. Preis: 19,99 € (E-Book: 15,99 €).

21. April 2018

Celeste Ng: Kleine Feuer überall

Dieses gestern erschienene Buch ist der zweite Roman der Amerikanerin Celeste Ng (sprich: Ing). Bereits der erste, "Was ich Euch nicht erzählte", stieß wohl bei Publikum und Kritikern sowohl in den USA als auch hierzulande auf große Resonanz. An mir ist er 2016 komplett vorbeigegangen, aber ich denke, ich werde die Lektüre nachholen, denn der Zweitling der Autorin hat mir außerordentlich gut gefallen.


Schon am Anfang von „Kleine Feuer überall“ löst sich buchstäblich alles in Rauch auf: Das Haus der wohlhabenden Familie Richardson im Clevelander Vorzeige-Vorort Shaker Heights brennt ab. Die drei älteren Kinder der Familie können nur tatenlos zusehen, während das jüngste, das den Brand mutmaßlich gelegt hat, verschwunden ist. Wie konnte es zu dieser Katastrophe kommen?
Nach dem fulminanten Einstieg in das Buch hatte ich, um im Bild zu bleiben, gleich Feuer gefangen. Doch dann lässt es Autorin Ng langsam angehen und rollt die Geschichte von Anfang an auf, wobei sie sich als überaus geschickte Erzählerin erweist. „Kleine Feuer überall“ handelt von zwei Familien, den Richardsons und den Warrens. Letztere sind die alleinerziehende Künstlerin Mia mit ihrer Tochter Pearl, die die neuen Mieter der Richardsons sind. Die Warrens scheinen das genaue Gegenteil ihrer Vermieter zu sein: Sie leben wie moderne Nomaden, während letztere eine der alteingesessenen Familien in Shaker Heights sind. Die Warrens haben einen minimalistischen Lebensstil, der nicht zuletzt ihrem schmalen Geldbeutel geschuldet ist, während sich die Richardsons über ihre Finanzen keine Gedanken machen müssen. Am meisten unterscheiden sich die Mütter der jeweiligen Familien: Mia Warren ist ein Freigeist, während Elena Richardson ganz nach den in Shaker Heights geltenden Konventionen lebt und das – zum Wohle der Gesellschaft – auch von anderen erwartet. Doch Gegensätze können sich bekanntlich anziehen und so findet die 15-jährige Pearl Warren bald Anschluss bei den Richardson-Kindern. Die nur unwesentlich jüngere Izzy Richardson zieht dagegen Mia Warrens radikaler und unkonventioneller Lebensstil an. Die Warrens und die Richardsons scheinen sich gut zu ergänzen, doch Mias und Elenas konträre Einstellungen kommen sich irgendwann in die Quere. Und dann wird auch noch eine Lebenslüge aufgedeckt …

„Kleine Feuer überall“ hat mich schnell in seinen Bann gezogen. Der Kontrast, den die unterschiedlichen Lebensentwürfe von Mia Warren und Elena Richardson zueinander bilden und was ihre jeweiligen Kinder daraus machen, ist mitreißend geschildert. Als Leser kommt man nicht umhin, sich zu (hinter-)fragen: Wie tolerant ist man selbst gegenüber anderen Lebensweisen? Was ist einem wichtiger: Idealismus oder Pragmatismus? Und was ist einem selbst ein vermeintlich „gutes“ Leben wert?

Einige Figuren wirken anfangs etwas eindimensional, doch Celeste Ng räumt ihnen Platz für Entwicklungen ein, zeichnet ihre Vergangenheit nach und lässt den Leser so die Beweggründe jedes Einzelnen verstehen. Auch die immer größer werdenden Verknüpfungen zwischen den beiden Familien werden nachvollziehbar geschildert und als Leser fühlt man förmlich, wie die Verkettung verschiedener Ereignisse etwas ins Rollen bringt, das nicht mehr aufzuhalten ist. Ich habe die Richardsons und Warrens am Ende des Buches nur schweren Herzens wieder verlassen, wüsste ich doch zu gern, wie es mit ihnen weitergeht. „Kleine Feuer überall“ kann ich nur empfehlen, sie haben mich berührt, gefesselt und beschäftigt. Ich konnte das Buch schon nach dem ersten Drittel kaum mehr aus der Hand legen und habe auch nach der Lektüre noch einige Zeit über das Romangeschehen und die Frage nach dem “richtigen“ Leben sinniert. Der Funke ist komplett übergesprungen!

Verlag: dtv Verlagsgesellschaft
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 20. April 2018
ISBN: 978-3423281560
Preis: 22,00 € (E-Book: 19,59 €)

8. April 2018

Anthony Horowitz: Die Morde von Pye Hall

Mein letzter Blogbeitrag enthielt eine kleine Hommage an Agatha Christie, nachdem ich gerade mal wieder einen ihrer Krimis gelesen hatte. Gänzlich unerwartet passte ein Buch, das ich nur eine Woche später las, perfekt dazu. Selbst Agatha Christies Enkel hat einen kleinen Auftritt - zumindest in einer der beiden ineinander verschaltelten Geschichten, die sich zwischen diesen beiden Buchdeckeln verbergen ...


„Die Morde von Pye Hall“ haben mich gleich auf den ersten Seiten verblüfft. Ich-Erzählerin Susan Ryeland, Cheflektorin eines kleinen Londoner Buchverlags, beschreibt, wie sie es sich in ihrer schnuckeligen Eigentumswohnung für ein Lesewochenende gemütlich macht. Ihr Bestsellerautor Alan Conway hat gerade den achten Band seiner äußerst erfolgreichen Krimireihe abgegeben, sie freut sich auf die Lektüre. Und dann geht es quasi auch schon los – mit besagtem Manuskript. Irgendwie nahm ich an, Protagonistin Ryeland würde hineinlesen und dann schnell durch irgendein Ereignis bei ihrer Lektüre gestört werden, was mich als Leserin dann wieder in ihre Erzählgegenwart zurückkatapultiert hätte – aber weit gefehlt. Stattdessen bin ich selbst in Alan Conways neuen Krimi „Morde von Pye Hall“ versunken – über 300 Seiten lang ohne Unterbrechung!

Das Buch „Morde von Pye Hall“ im Buch „DIE Morde von Pye Hall“ (verwirrend, ich weiß) ist ein Cosy Crime um einen Hercule Poirot-ähnlichen Ermittler namens Atticus Pünd. Es spielt im Jahr 1955 und ist ein typischer Whodunnit. Vom Stil her erinnert „Morde von Pye Hall“ an Agatha Christie. Nachdem ich gerade noch das Leben einer Verlagslektorin im Jahr 2015 gedanklich begleitet hatte, brauchte ich ein paar Seiten, um in das stilistisch doch anders geartete Cosy Crime einzutauchen. Doch das machte zunehmend Spaß, bis es etwas abrupt endete und ich mich wieder im Leben von Susan Ryeland wiederfand. Diese wird wie der Leser aus ihrer Lektüre gerissen – das Manuskript ist nämlich unvollständig, die letzten Kapitel fehlen. Ein Missgeschick, denkt die Protagonistin, doch dann hört sie im Radio, dass ihr Bestsellerautor unerwartet verstorben ist. Sie begibt sich auf die Suche nach dem verschollenen Buchende, entdeckt jedoch nach und nach noch etwas ganz anderes …

„Die Morde von Pye Hall“ haben mir gleich doppeltes Lesevergnügen bereitet – kein Wunder, enthält das Buch doch zwei unterschiedlich geartete Krimis in einem. Durch die Buch-im-Buch-Thematik gibt es außerdem noch ein paar nette Einblicke in die Buchbranche. Insgesamt fand ich den einen Krimi von der Auflösung her gelungener als den anderen, aber das ist Kritik auf hohem Niveau – beide Geschichten sind spannend, verwickelt und zum Miträtseln. Dass der Autor Anthony Horowitz in einem Buch zwei komplett verschiedene Geschichten miteinander verquickt, die sich auch stilistisch unterscheiden, aber beide gleichermaßen glaubwürdig und intensiv erzählt sind, fand ich sehr raffiniert. Ein kunstvoll geschriebenes Buch – Experiment geglückt, Leser gefesselt! Auch das schick gestaltete Cover möchte ich noch erwähnen – optisch heben sich „Die Morde von Pye Hall“ ebenfalls von der Masse ab. Klare Empfehlung für alle Liebhaber klassischer Krimis und raffiniert verschachtelter Erzählungen!

Verlag: Insel
Seitenzahl: 605
Erscheinungsdatum: 11. März 2018
ISBN: 978-3458177388
Preis: 24,00 € (E-Book: 19,99 €)

2. April 2018

Agatha Christie: The ABC Murders

Ich mag Cosy Crimes, klassische Whodunnits. Und ab und an lese ich gerne einen Krimi von der Großmeisterin der Whodunnits: Agatha Christie. Früher mochte ich ihre Miss Marple weitaus lieber als Hercule Poirot, aber inzwischen habe ich mich auch mit ihm angefreundet. Die meisten Romane über ihren belgischen Ermittler schrieb Agatha Christie in den 1930ern - sie sind also schon ordentlich in die Jahre gekommen, was man an der Sprache auch durchaus merkt. Doch ansonsten gilt: Mord verjährt nicht ... und Raffinesse auch nicht!


„The ABC Murders“ wurden bereits vor 82 Jahren zum ersten Mal veröffentlicht, als einer von den 33 Krimis, in denen Agatha Christie ihren Hercule Poirot ermitteln lässt – hier zusammen mit seinem Freund Captain Hastings, der die Rolle eines Sidekicks einnimmt und so ahnungslos ist wie der Leser. Bzw. ist der Leser so ahnungslos wie er – Captain Hastings fungiert nämlich auch als Erzähler. In einem Vorwort kündigt er an, auch einige Szenen zu schildern, bei denen er nicht präsent war, die er aber im Nachhinein glaubt, wahrheitsgetreu aufschreiben zu können. Diese Szenen machen einen besonderen Reiz des Buches aus: Durch sie weiß der Leser mehr, als Captain Hastings während des jeweiligen Standes der Ermittlungen wissen konnte. Doch Christie wäre nicht Christie, wenn sie ihren Lesern nicht trotz deren Wissensvorsprüngen stets eine ordentliche Nasenlänge voraus wäre.
„The ABC Murders“ beginnen vielversprechend: Poirot erhält einen Brief, in dem er von einem Unbekannten herausgefordert wird. Dieser nennt sich ABC und kündigt einen Mord an – mit Datums- und Ortsangabe. Poirot ist beunruhigt, während die Polizei das Schreiben nicht ernst nimmt. Dann geschieht jedoch tatsächlich ein Mord in der Ortschaft Andover, am angekündigten Tag. Und bald erhält Poirot den nächsten Brief von ABC …

Christie scheint sich hier auf ungewohntem Terrain zu bewegen: Mit ABC hat sie einen Serienmörder erschaffen, der sich vor Poirot brüsten will. Doch reicht das als Motiv für mehrere kaltblütige Morde? Poirot selbst steht vor einem Rätsel. Der Mörder scheint ungehindert agieren zu können, ohne dass der belgische Detektiv mit dem stolzen Schnurrbart irgendeine Chance hat, einzugreifen. Doch dann, im furiosen Finale, holt er wie gewohnt aus. Und Christie lässt ihre Leser mal wieder ungläubig-fasziniert zurück.
 „The ABC Murders“ sind ein gelungenes Beispiel dafür, dass gute Krimis nicht aus der Mode kommen. Inhaltlich kann der Fall mühelos mit heutigen Cosy Crimes mithalten (wobei ein Serienmörder vielleicht nicht ganz so cosy ist, wie man es sonst von Christie gewohnt sein mag). Einzig die Sprache wirkt etwas altmodisch und ich stieß im Englischen auf mehr unbekannte Vokabeln als bei zeitgenössischen Krimis. Doch das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Agatha Christie ist und bleibt die Queen of Crime, die ihre Leser auch im 21. Jahrhundert noch mühelos verblüfft.

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 331
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 26. September 2013, der Krimi an sich erschien jedoch am 6. Januar 1936 erstmals.
ISBN: 978-0007527533
Preis: 6,99 € (E-Book: 5,99 €)

24. März 2018

Abby Fabiaschi: Für immer ist die längste Zeit

Dieses Buch ist erst vor ein paar Tagen erschienen. Dank der Buchcommunity Lovelybooks konnte ich es bereits Anfang März lesen und war begeistert. Den Titel empfand ich zwar als relativ nichtssagend, hoffte aber aufgrund der Leseprobe, dass es mir gefallen würde. Eine gewisse Unsicherheit blieb jedoch zunächst, da der Roman eigentlich zu einer Art von Büchern gehört, die ich ungern lese: den traurigen. Zumindest ließ das die Ausgangshandlung vermuten.


Maddy ist tot und lässt ihren Mann Brady und ihre 16-jährige Tochter Eve in größter Verzweiflung zurück. Sie scheint aus heiterem Himmel Selbstmord begangen zu haben. Der Ehemann ein Workaholic, die Tochter gerne mal ein pubertäres Ekel – Maddys Leben war nicht ganz so glücklich, wie es angesichts der heilen Kleinfamilie nach außen schien. Aber war das für sie wirklich Grund genug, um sich das Leben zu nehmen?

Der Roman setzt wenige Wochen nach Maddys Ableben ein und zeigt ein zerrissenes Vater-Tochter-Gespann, das nicht weiß, wie es ohne die patent-resolute Ehefrau und Mutter miteinander umgehen soll – geschweige denn, wie ein Weiterleben ohne sie überhaupt funktionieren kann. Doch noch davor – Überraschung – lernt der Leser Maddy kennen. Die ist zwar tot, bislang aber trotzdem nicht komplett im Jenseits angekommen. Stattdessen schwebt sie über den Dingen – im wahrsten Sinne des Wortes. Bekümmert schaut sie auf ihre Hinterbliebenen hinab und hat bereits beschlossen, einen Ersatz für sich zu suchen – in Form der so freundlichen wie toughen Grundschullehrerin Rory. Außerdem hat Maddy herausgefunden, dass sie ihren Lieben Impulse senden kann. Doch wird es ihr dadurch gelingen, das Leben von Brady und Eve positiv zu beeinflussen? Der Leser erfährt es nach und nach.
Autorin Abby Fabiaschi hat jedes Kapitel ihres Buches klar gegliedert: Zuerst kommt Maddy zu Wort, dann Tochter Eve und schließlich Ehemann Brady. Wenn Maddy gerade nicht versucht, ihren Lieben Trost und gute Ideen zu übermitteln, lässt sie verschiedene Phasen ihres Lebens durchaus kritisch Revue passieren. Eve und Brady dagegen kämpfen mit unterschiedlichen Schuldgefühlen und sind ansonsten erst einmal damit beschäftigt, zu funktionieren. Während ihr Vater sich in die Arbeit flüchtet, merkt Eve, dass sie nicht nur ihre Mutter verloren hat; auch ihr Freundeskreis erscheint ihr auf einmal unreif und oberflächlich. Brady dagegen kommt sich vor wie in einem schlechten Film, als ihm nun vor allem alleinstehende Nachbarinnen mit tief ausgeschnittenen Dekolletés ihre Hilfe anbieten. Letztere Szenen zeigen eine unerwartete Facette des Buches: Trotz der tragischen Ausgangssituation ist es tatsächlich immer wieder komisch. Alle drei Familienmitglieder legen mindestens gedanklich gerne mal eine gehörige Portion Sarkasmus an den Tag, und so gibt es tatsächlich öfters einen Comic relief.  Aber natürlich wird auch getrauert. Aufgearbeitet. So gut es geht nach vorne geschaut. Eve und Brady kriegen das nicht unbedingt immer zeitgleich hin. Es wird deutlich: Jeder geht mit seiner Trauer anders um. Nebenbei noch die Energie aufzubringen, auf jemand anderen zuzugehen, scheint unmöglich. Was aber, wenn man nur noch einander hat?

Abby Fabiaschi schildert die Situation ihrer Hauptfiguren in ihrer ganzen emotionalen Komplexität. Es wird geweint, getobt, getrauert, gehadert, geätzt, aber auch gelacht. Der Leser taucht komplett in das Gefühlschaos der Protagonisten ein – mir sind dabei alle gleichermaßen ans Herz gewachsen. Herausgekommen ist ein bewegendes und so tiefgründiges wie erfrischendes Buch über die Liebe, das Leben und den Umgang mit Verlusten. Ich habe gelacht, hin und wieder ein Tränchen vergossen und öfters kleine Lesepausen eingelegt, weil mich „Für immer ist die längste Zeit“ emotional gefordert hat. Das jedoch stets auf eine gute Art und Weise. Der Roman kann einen gar nicht kalt lassen und regt an, sich mit verschiedensten Themen auseinanderzusetzen. Ich habe selten ein Buch gelesen, das so viele verschiedene Emotionen bei mir hervorrief und trotz seiner Unterhaltsamkeit so weise auf mich wirkte.

Verlag: FISCHER Krüger
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 21. März 2018
ISBN: 978-3810524799
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)