Harter Perspektivwechsel
Der 1978 geborene Josua wächst vaterlos in einem Entwicklungsland auf. Seine gottesfürchtige Mutter schafft es mit verschiedenen Gelegenheitsjobs gerade so, ihre drei Kinder zu ernähren, aber eine Wohnung mit fließendem Wasser oder eine höhere Schulbildung kann sie ihnen nicht ermöglichen. Nach seiner Schulzeit arbeitet sich Josua vom Straßenverkäufer zum Parkplatzwächter hoch und fährt irgendwann sogar Taxi. Manchmal erscheint ihm das Glück zum Greifen nah, doch das Schicksal schlägt immer wieder zu und in einer hoch korrupten Diktatur und Mangelwirtschaft ist es nahezu unmöglich, etwas auf die Beine zu stellen. Dabei will Josua doch nur raus aus Elend, Schmutz und Hoffnungslosigkeit. Aber kann ihm das in seiner Heimat überhaupt gelingen – oder ist der einzige Ausweg die Migration ins gelobte Land auf der anderen Seite des Mittelmeers?
Soweit, so bekannt, mag der ein oder andere jetzt denken – aber Stopp! Christian Torkler beschreibt in „Der Platz an der Sonne“ nicht die Geschichte eines afrikanischen Flüchtlings, der von Europa träumt. Im Gegenteil: Jousa Brenner wächst in Berlin auf, der Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, die nach drei Weltkriegen immer noch halb in Schutt und Asche liegt, obwohl die reichen afrikanischen Demokratien Entwicklungshilfe leisten und nairobische Partnergemeinden neue Kirchendächer spendieren. Sehnsuchtsziel von Josua und seinen Kumpels ist dann auch Matema im reichen Tanganyika: „Wenn wieder einer weg war, hieß es, der ist in den Süden …“. Doch in seinem leicht schnodderigen Tonfall, der sich durch das gesamte Buch zieht, schildert er auch gleich den Haken an der Sache: Die reichen schwarzen Bongos wollen keine Armutsflüchtlinge. Aber was hat ein perspektivloses Weißbrot wie er schon zu verlieren?
Torkler betreibt den Perspektivwechsel in „Der Platz an der Sonne“ in einer so detaillierten Konsequenz, dass er mir richtig an die Nieren gegangen ist. Gedanklich nachzuvollziehen, warum ein afrikanischer Flüchtling nach Deutschland kommt, ist das eine – vom Elend im Entwicklungsland Preußen und der Sehnsucht nach Afrika zu lesen, aber etwas völlig anderes. Es braucht kaum noch Fantasie, um sich dieses im Roman sechsgeteilte Deutschland, in dem so einiges schiefgelaufen ist, vorzustellen: den Dreck, die nach drei Kriegen kaum wiederaufgebaute Infrastruktur, Kriegsruinen, schimmelige Wohnungen, scharfe Grenzen und ein komplett korruptes System. Torkler führt seinen Lesern gnadenlos vor Augen, was für ein großer Zufall es ist, in welche Verhältnisse man geboren wird und dass es gar nicht so viele historische Fehlentscheidungen braucht, um ein Land im Chaos versinken zu lassen. Dass die vage Hoffnung auf eine bessere Zukunft reichen kann, um alles hinter sich zu lassen, wird äußerst nachvollziehbar illustriert. Genau wie das Fluchtthema: Hier soll es in umgekehrter Richtung übers Mittelmeer gehen – doch schon der Weg zur Küste ist eine grausame Odyssee, die ihre Opfer fordert.
„Der Platz an der Sonne“ hat mich stellenweise kalt erwischt und ziemlich deprimiert. Torkler schildert schonungslos, wie das Leben in einem gänzlich anderen Deutschland aussehen könnte. Keine Feelgood-Lektüre, sondern ein harter Perspektivwechsel, der sich absolut lohnt. Man kann seine Komfortzone auch lesend verlassen – und weil Torkler einen auf jeder einzelnen Seite dazu zwingt, bereichert dieses Buch mindestens so sehr, wie es verstört.
Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 2. September 2018
ISBN: 978-3608962901
Preis: 25,00 € (E-Book: 19,99 €)
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27. November 2019
14. Oktober 2018
Andreas Eschbach: NSA
Von diesem Autor hatte ich noch nie zuvor etwas gelesen, mehrere seiner Titel waren mir aber trotzdem ein Begriff. Er hat viele Bestseller geschrieben, einige stehen auch im Romanregal, weil mein Mann sie gekauft und gelesen hat. Ich nicht, mir erschienen sie thematisch immer etwas zu abgedreht. Aber dann habe ich auf der Plattform "Lesejury" des Bastei Lübbe Verlags in den neuesten Roman des Autors reingelesen. Nicht, dass die Geschichte dieses Buches nicht abgedreht wäre - im Gegenteil - , aber sie hat mich sofort dermaßen gepackt, dass ich mich sehr gefreut habe, als ich das Buch im Rahmen einer Leserunde lesen durfte. Und darum geht es:
… es im Dritten Reich bereits ein überall verfügbares Internet sowie Big Data gegeben hätte? Ein gruseliger Gedanke, dem sich Autor Andreas Eschbach in seinem neuen Roman „NSA“ auf 796 Seiten widmet – wobei es ihm gar nicht so sehr um die Frage ging, was dann damals passiert wäre. Im Rahmen der Leserunde stellte Eschbach klar, dass ihn vielmehr folgende Überlegung bewegt hat: „Was wäre, wenn heute, da es all das gibt, noch einmal ein solches Regime an die Macht käme?“ Die Antwort, die der Autor in seinem Roman gibt, ist immens verstörend.
Was wäre, wenn …
… es im Dritten Reich bereits ein überall verfügbares Internet sowie Big Data gegeben hätte? Ein gruseliger Gedanke, dem sich Autor Andreas Eschbach in seinem neuen Roman „NSA“ auf 796 Seiten widmet – wobei es ihm gar nicht so sehr um die Frage ging, was dann damals passiert wäre. Im Rahmen der Leserunde stellte Eschbach klar, dass ihn vielmehr folgende Überlegung bewegt hat: „Was wäre, wenn heute, da es all das gibt, noch einmal ein solches Regime an die Macht käme?“ Die Antwort, die der Autor in seinem Roman gibt, ist immens verstörend.
„NSA“ beginnt im Februar 1942.
Deutschland befindet sich im Krieg, doch das ist nicht der Grund, warum sich
das Nationale Sicherheits-Amt (kurz: NSA) in Weimar im Ausnahmezustand
befindet. An diesem Tag besucht der zweitmächtigste Mann des Reiches, Heinrich
Himmler, die Behörde, um sich ein Bild von ihren Möglichkeiten zu machen. Falls
er nicht von der Nützlichkeit des Amtes überzeugt werden kann, droht die
Schließung, was für die männlichen Angestellten ohne Zweifel einen
Einberufungsbefehl zur Folge hätte. Doch die Mitarbeiter sind vorbereitet,
Himmler die Möglichkeiten von Big Data vor Augen zu führen. Und Big Data ist in
dieser alternativen Vergangenheit tatsächlich noch weiter als heute, im Jahr
2018: So lassen sich zum Beispiel alle Einkäufe, die eine Person getätigt hat,
lückenlos nachvollziehen – zumindest seit dem 1.07.1933, dem Tag, an dem das
Bargeld in dem Deutschland dieser Alternativweltgeschichte abgeschafft wurde.
Seitdem zahlen alle Bürger mit Geldkarte oder dem sich seit 1934 sprunghaft
verbreitenden Volkstelephon (sic!). Über das man übrigens auch ins sogenannte
Weltnetz gehen, etwas ins Deutsche Forum schreiben oder Elektropost versenden
kann.
Die totale Vernetzung und Überwachung
bietet ungeahnte Möglichkeiten. Zum Beispiel wird vor Himmlers Augen live der
Frage nachgegangen, ob ein signifikant überdurchschnittlicher Kalorienverbrauch
kein Hinweis darauf sein könnte, dass in einem Haus mehr Menschen leben, als
offiziell bekannt …
Nach einer eindrücklichen Vorstellung
des Nationalen Sicherheits-Amtes und dessen Möglichkeiten nimmt Andreas
Eschbach seine Leser dann erst einmal in eine noch ein paar Jahre weiter
zurückliegende Vergangenheit mit. Die beiden Hauptfiguren des Romans, Helene
Bodenkamp und Eugen Lettke, werden von Kindesbeinen an vorgestellt. Sie,
Arzttochter aus gutem Hause, deren beste Freundin jüdische Wurzeln hat und er,
stets auf den eigenen Vorteil bedachter Sohn eines Kriegshelden des Ersten
Weltkriegs, sind sehr unterschiedliche Charaktere. Ihre Wege kreuzen sich im
NSA, wo sie als hochtalentierte Programmstrickerin und er als Analyst
eingestellt werden
Der Roman zeichnet das Leben der
Protagonisten nach und so findet man sich als Leser wie nebenbei in einer Art
alternativem Dritten Reich wieder, das gleichzeitig fremd und vertraut wirkt.
Bekannte Namen wie die von Anne Frank, den Geschwistern Scholl und Josef
Mengele tauchen auf, doch der Kontext ist teils verändert, das Geschehen nimmt
einen anderen Verlauf. Die Romanlektüre fühlt sich an, als hätte Eschbach die
bekannten Fakten mit den heutigen technischen Möglichkeiten in eine
Rührschüssel gegeben und alles kräftig durchgemixt. Dann fügt er noch eine
ordentliche Prise „worst case“ hinzu. Heraus kommt ein Roman, der es in sich
hat, weil er sich nachvollziehbar liest und das Gedankenexperiment immer weiter
auf die Spitze treibt. Die Handlung nimmt mehr und mehr an Fahrt auf. Immer,
wenn man sich an die verstörenden Gegebenheiten halbwegs gewöhnt hat, setzt der
Autor noch einen drauf – und noch einen, und noch einen. Mitunter ist es schwer
auszuhalten – gerade weil das Ganze so glaubwürdig scheint. Die beschriebene
Technik und was sie ermöglicht, das ganze fiktionale Konstrukt ist immens durchdacht.
Eschbach schont weder seine Figuren noch seine Leser. Mir war bis zum Ende
nicht klar, wo das alles hinführen würde und nach dem Romanende musste ich erst
einmal wieder zu mir finden. „NSA“ ist eine ganz klare Warnung vor dem
Unvorstellbaren – das nach der Lektüre gar nicht mehr so unvorstellbar scheint,
weil der Autor die existierende Vergangenheit mit bereits mehr oder weniger
existierender und angewandter Technologie verknüpft hat. Bedenkt man, dass er
eigentlich verdeutlichen wollte, was wäre, wenn ein derartiges Regime heute an
die Macht käme, wird aus der Alternative History fast eine Dystopie. In jedem
Fall hallt die Geschichte nach und sensibilisiert in Bezug auf den Umgang mit
Daten. Keine Feelgood-Lektüre, aber eine, die das Zeug hat, die eigene
Perspektive zu verändern und den Blick zu schärfen – durch eine furchtbare
Ahnung davon, dass vermutlich nichts undenkbar oder unmöglich ist.
Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 800
Erscheinungsdatum: 28. September 2018
ISBN: 978-3785726259
Preis: 22,90 € (E-Book: 16,99 €)
Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 800
Erscheinungsdatum: 28. September 2018
ISBN: 978-3785726259
Preis: 22,90 € (E-Book: 16,99 €)
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