30. Oktober 2019

Bernhard Aichner: Der Fund

Grandioser Pageturner voller Wahnwitz

Dieser Thriller ist ein echtes Juwel. Das Cover sieht unscheinbar aus, doch in dem gelben Buchblock verbergen sich jede Menge Wahnwitz und Originalität. Der Erzählstil ist komplett ungewöhnlich. Kurz gesagt: Bereits nach wenigen Seiten bekam ich eine Ahnung vom Potential dieser Geschichte, die mich dann auch postwendend süchtig werden ließ.


„Der Fund“, um den es in dem gleichnamigen Thriller von Bernhard Aichner geht, wird von Supermarktverkäuferin Rita gemacht. Die unscheinbare und unbescholtene Mittfünfzigerin hat etwas entdeckt und entwendet – eine Entscheidung mit tödlichen Folgen: Bereits zu Beginn des Buches ist klar, dass Rita eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Aber was ist bloß passiert?

Das fragt sich auch ein männlicher Ermittler, über den sonst absolut nichts zu erfahren ist. Kapitel mit wörtlicher Rede – der Ermittler fragt, die oder der Befragte antworten – wechseln sich mit Rückblenden aus Ritas Leben ab. Die Kapitel sind kurz, der Erzählstil temporeich und die vielen Befragungen ergeben jede Menge Puzzlestücke – einzelne Anekdoten, von denen viele nicht zusammenhängen. Oder doch?

Die Ausgangssituation von „Der Fund“ ist so simpel wie der Plot einzigartig. Überdies ist Bernhard Aichner ein Meister des Menschlichen – er schildert Ängste, Sehnsüchte, Abgründe und Leidenschaften so lebendig, dass man die Figuren richtiggehend vor sich sieht. Und wann immer man denkt, man hätte die Geschichte endlich durschaut, vollführt der Autor eine 180 Grad-Wendung, die nicht vorhersehbar war und alle Ideen zum Einsturz bringt. Ein ungewöhnlicher, grandios erzählter Pageturner, der etwas wagt und alles gewinnt. Ich bin immer noch begeistert.

Verlag: btb Verlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 30. September 2019
ISBN: 978-3442757831
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

14. Oktober 2019

Veronika Peters: Die Dame hinter dem Vorhang

Von einer Dame, die ihrer Zeit voraus war

Nachdem ich gerade erst mit Annette von Droste-Hülshoff ins frühe 19. Jahrhundert eingetaucht bin, habe ich nun schon den nächsten Roman über eine Literatin gelesen, die ihrer Zeit weit voraus war. Im Gegensatz zur Droste sagte mir Edith Sitwell allerdings gar nichts, bis ich dieses vom Wunderraum Verlag farbenfroh-hübsch gestaltete Buch zur Hand nahm. Dabei war die 1887 geborene Engländerin ein Paradiesvogel ihrer Zeit und hatte ein für eine Frau damals ungewöhnliches Leben: Sie verfasste schon als Kind erste Werke, machte exzentrische Auftritte zu ihrem Markenzeichen, heiratete niemals und wurde 1954 vom Britischen Königshaus zur Dame geadelt.


Veronika Peters stellt Edith Sitwell in ihrem Buch „Die Dame hinter dem Vorhang“ gleich zwei ergebene Freundinnen zur Seite, die sie langjährig begleiten: Die erste ist Emma Banister, Gärtnertochter auf dem Adelssitz Renishaw, wo Familie Sitwell lebt. Emma ist sechs Jahre älter als Edith, doch die Mädchen freunden sich trotzdem heimlich an – was wohl vor allem daran liegt, dass „die kleine Miss E.“ Sitwell ein zutiefst einsames Kind ist, von seinem Vater mit Nichtbeachtung und seiner Mutter gar mit Verachtung gestraft. Emma bleibt viele Jahre die Vertraute von Edith und arbeitet schließlich als Hausmädchen im Herrenhaus.
Jahrzehnte später – und das ist der Beginn dieses nicht immer chronologisch erzählten Romans – bittet die inzwischen auf die 40 zugehende Edith Sitwell ihre Kindheitsfreundin, deren Tochter Jane Banister, knappe 18 Jahre alt,  als Hausmädchen einstellen zu dürfen. Aus Sicht dieser Jane, die ab da ihr Leben an der Seite von Sitwell verbringt, ist dieses Buch dann auch geschrieben. Es handelt von Freundschaft, Loyalität und Fürsorge und es hat mich fast geschmerzt, dass beide Banister-Frauen reine Erfindung sind. Sie habe ich in „Die Dame hinter dem Vorhang“ gut kennengelernt, während mir die Hauptfigur Edith Sitwell mit ihren Schrullen, Launen und Eigenarten doch ein Rätsel blieb. Als Dame Edith Alter und Möglichkeiten erreicht hatte, dem nachzugehen, was ihre Berufung war – Schreiben, Vortragen, Inszenieren, Fördern – hatte sie schon viele Verletzungen erlitten, war gewohnt, sich zu inszenieren und hinter einer dramatischen Fassade zu verstecken. Was wirklich in ihr vorging, wusste wohl kaum jemand. Veronika Peters Roman ist eine Hommage an ein exzentrisches Unikat, die sich federleicht lesen lässt, obwohl Dame Edith nicht wirklich greifbar wird. Allerdings habe ich mich insgeheim doch gefragt, ob dieses Buch der Künstlerin nicht viel zu brav und unaufgeregt gewesen wäre.

Verlag: Wunderraum
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 23. September 2019
ISBN: 978-3336548088
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

3. Oktober 2019

Agatha Christie: The Murder on the Links

Solider Fall mit irritierender Nebenhandlung

Hätte Agatha Christie Liebesromane geschrieben, würde sich heute kein Mensch mehr an ihr Werk erinnern – spätestens nach der Lektüre dieses Krimis bin ich davon überzeugt. Sicher hat man 1923, als dieses Buch auf Englisch erschien, anders über Zwischenmenschliches berichtet als heute. Dennoch: Die von Christie geschilderten Verbrechen scheinen fast zeitlos, wirken auch heute weder durchschaubar noch antiquiert. Beschreibt die Autorin dagegen Flirts und Liebesschwüre, wird zumindest mir ganz anders vor lauter Fremdscham.


Agatha Christies „The Murder on the Links“ ist eigentlich ein vielversprechender Fall: Poirot und seinen getreuen Gefährten Hastings ereilt der schriftliche Hilferuf eines in Frankreich lebenden Millionärs, der um sein Leben zu bangen scheint, jedoch in seinem Brief nicht ins Detail geht. Und obwohl sich der belgische Detektiv und sein Kompagnon direkt auf den Weg machen, treffen sie Herrn Renauld nicht mehr lebend an. Er wurde nachts auf dem Golfplatz erstochen. Seine Frau ist am Ende, sein Sohn verschweigt etwas, ein französischer Detektiv versucht, Poirot die Schau zu stehlen. Außerdem mischen gleich mehrere junge Frauen mit. Und so ist in „The Murder on the Links“ ganz schön was los. Der Fall ist ziemlich verzwickt, und zugegebenermaßen auch etwas überkonstruiert. Aber das hat mich kaum gestört. Und richtig gut gefallen hat mir, dass Poirot, anders als in Christies späteren Werken, nicht nur kryptische Andeutungen zu seinen Ermittlungen von sich gibt, sondern seine Gedanken mehrmals zumindest in Ansätzen teilt. Als ich dann nach 60% des E-Books einen plausiblen Verdacht hatte, was geschehen sein könnte, war ich fast stolz – das passiert mir bei Christie-Krimis eher selten.
Als nach 69% des Buches allerdings Poirot-Freund Hastings eine ähnliche Idee kam, desillusionierte mich das ziemlich. Denn wenn selbst er etwas merkt, muss die Sache einen Haken haben. Im Wikipedia-Eintrag zu „Mord auf dem Golfplatz“ steht, dass Christie selbst zugegeben hat, diese von ihr geschaffene Figur nicht zu mögen – kein Wunder. Es ist in der Kriminalliteratur kein Einzelfall, dass ein ermittelndes Genie einen loyalen Freund hat, neben dem es umso mehr glänzt, ohne die Bodenhaftung ganz zu verlieren. Aber Arthur Hastings stellt sich in „The Murder on the Links“ stellenweise so treudoof-dumm an, dass die Lektüre schon fast wehtut.
Apropos Wehtun: Und dann gibt es hier auch noch eine Liebesgeschichte, die zumindest aus heutiger Sicht so gar nicht überzeugt. Die „Queen of Crime“ wäre sicher niemals eine „Queen of Love“ geworden. „The Murder on the Links“ war allerdings auch erst ihr dritter Krimi, sie stand noch am Beginn ihrer Karriere. Es war übrigens auch ihr erstes auf Deutsch erscheinendes Buch (1927). Vielleicht muss man es als Frühwerk betrachten.
Habe ich „The Murder on the Links“ nun gerne gelesen? Trotz allem ja. Würde ich das Buch empfehlen? Wohl nur Christie-Fans.

Verlag: Harper Collins
Seitenzahl: 319
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 21. Mai 2015 (Erstausgabe: 1923)
ISBN: 978-0008129460
Preis: 7,99 € (E-Book: 1,07 €)