20. August 2019

Johann Scheerer: Wir sind dann wohl die Angehörigen

Dieses Buch hat mich auf den ersten Blick gereizt – schon durch seinen Titel. Die „Angehörigen“ stehen selten im Mittelpunkt, das Wort wir in der Regel nur verwendet, um Menschen in Zusammenhang zu anderen zu setzen, um die es dann eigentlich geht. Überdies wird „Angehörige“ vor allem in unerfreulichen Kontexten verwendet, man muss es nur googeln und kommt auf Treffer wie: „Tatort heute: Dürfen Angehörige wirklich an den Unglücksort?“, „Freunde und Angehörige nehmen Abschied“, „Informationen für Angehörige und Partner erkrankter Personen“.
In diesem Buch geht es jedoch hauptsächlich um die Angehörigen, und zwar um die eines prominenten Entführungsopfers: Jan Philipp Remtsmaa wurde 1996 gekidnappt und über einen Monat festgehalten. Er hat über diesen Albtraum bereits ein Jahr später ein Buch veröffentlicht. 21 Jahre danach legte sein Sohn dann seine Erinnerungen vor.


Johann Scheerer gelingt in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ ein schwieriger Spagat: Er schreibt zum einen aus seiner Perspektive im Jahr 1996, als er gerade mal 13 Jahre alt war. Zum anderen streut er immer wieder Informationen ein, die er erst später erfahren hat, weil sie ihm entweder bewusst vorenthalten wurden oder generell noch nicht bekannt waren. Beides fließt stimmig und ohne Brüche ineinander. Dennoch ist „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ keine lückenlose Chronologie einer Entführung und will es auch gar nicht sein. Scheerer schildert einfach immens furchtbare 33 Tage im Leben eines Teenagers, der abrupt aus seiner Normalität gerissen wird und sich in einem Albtraum wiederfindet: Der Vater entführt und zwei „Angehörigenbetreuer“ der Polizei im Haus, die mit der Mutter sowie Freunden der Familie allnächtlich auf den Anruf der Entführer warten. Entführer, die ihren ersten Brief unter einer scharfen Handgranate deponierten – wäre das Ganze fiktiv, käme es einem an manchen Stellen schon etwas dick aufgetragen vor.

Doch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ schildert die wahren Begebenheiten und erzählt von unerträglichen Durststrecken, die Scheerer auch für den Leser fühlbar macht: Die Ungewissheit zermürbt, während beständig auf Nachrichten und Anweisungen der Entführer gewartet wird, auf ein Lebenszeichen des Vaters, ab und an auch auf die Polizei. Mehrmals entsteht der Eindruck, dass sich diese bei der Organisation der Lösegeldübergaben nicht mit Ruhm bekleckert hat, doch Scheerers Buch ist keine Abrechnung. Der Autor bewertet das Verhalten anderer kaum, sondern bleibt hier in seiner 13-jährigen Perspektive und schildert sein inneres Chaos zwischen Hilfs- und Fassungslosigkeit. Dazu kommen manchmal unverhofft leichte Momente, gefolgt von Schuldgefühlen. Die Qual des Jungen macht nachvollziehbar, was kaum jemand selbst erlebt haben dürfte. Schon lesend ist die Geschichte an einigen Stellen schwer auszuhalten, obwohl ihr Ausgang ja bekannt ist. Scheerer tritt aus der Anonymität der Angehörigen hervor und schildert, wie es ihm ergangen ist. Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass ihm diese persönliche Aufarbeitung des Traumas eventuell gutgetan haben könnte – zumindest wünsche ich es ihm.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 1. März 2018
ISBN: 978-3492059091
Preis: 20,00 € (E-Book: 18,99 €)

13. August 2019

Wiebke Lorenz: Einer wird sterben

Ist dieser Trend, Psychothriller mit ihrer Endsequenz anfangen zu lassen, eigentlich schon älter? Das Stilmittel an sich ist bestimmt nicht neu, aber kam es früher auch so oft zum Einsatz? Die letzten beiden Psychothriller, die ich gelesen habe, starteten jeweils mit ihrem dramatischen Finale. In „Something in the water“ hebt die weibliche Hauptfigur für ihren Mann ein Grab aus (was ich immerhin ganz originell beschrieben fand), in meinem neuesten Lesestoff stirbt jemand in den Armen seines Partners. Die Namen der handelnden Figuren werden hier nicht genannt, doch im Verlauf der Lektüre lässt sich nicht allzu schwer zusammenreimen, wer da beschrieben wird. Vermutlich soll die Sequenz zusätzliche Spannung aufbauen, was in meinem Fall allerdings nicht so gut geklappt hat: Ich hatte hier eher das Gefühl, jemand hätte mir ungebeten das Ende verraten.


Wiebke Lorenz‘ Psychothriller „Einer wird sterben“ basiert auf einer so banalen wie irritierenden Grundbedrohung: Ein unbekanntes Auto parkt in einer ruhigen, beschaulichen Wohnstraße. Die beiden Fahrzeuginsassen steigen jedoch nicht aus. Der Mann und die Frau bleiben einfach im Auto sitzen – erst stunden-, dann tagelang. Und lassen die Anwohner dadurch immer nervöser werden.

Laut Klappentext las die Autorin eine Zeitungsmeldung über ein so parkendes Auto und entwickelte aus dieser Ausgangssituation ihre fiktive Geschichte. Besonders Lorenz‘ Hauptfigur, die junge Hausfrau Stella Johannsen, beunruhigt das Auto nachhaltig. Schnell ist sie davon überzeugt, dass es nur wegen ihr und ihrem Mann dastehen kann – schließlich haben sie beide etwas zu verbergen. Doch nach und nach zeigt sich, dass sie nicht die einzigen Anwohner in der Blumenstraße sind, die Geheimnisse haben. Trotzdem gehen Stella mehr und mehr die Nerven durch – vielleicht auch, weil sie allein ist: Ihr Mann Paul, ein Frachtpilot, kann sie zwar ab und an übers Telefon trösten, ist ansonsten jedoch gerade am anderen Ende der Welt unterwegs. Und so ist Stella ihrer Panik ausgeliefert, vor allem nachts. Wie sie zwischen Angst und Hysterie schwankt, wird sehr eindringlich beschrieben, hat mir aber um so deutlicher die Schwäche des Plots vor Augen geführt: Zwar gibt es durch das parkende Auto eine gefühlte Bedrohung, dieser kann sich Stella aber eigentlich gut entziehen, denn ist sie unterwegs, folgt der Wagen ihr nicht. Ich weiß nicht mehr, ob ihr Mann oder ihr Therapeut es telefonisch vorschlagen ob sie selbst darüber nachdenkt: Wenn Stella einfach für ein paar Tage in ein Hotel gezogen wäre, hätte sie sich den Spuk vom Hals geschafft. Da sie überzeugt ist, dass ihr Mann alles in Ordnung bringen wird, sobald er heimkehrt, wäre das eine ziemlich pragmatische Lösung gewesen. Stattdessen dreht Stella aber immer mehr durch, was mir zunehmend auf die Nerven ging. Überdies wirkte der Plot stellenweise recht überladen: Fast jeder Nachbar verbirgt etwas vor den anderen Bewohnern der Blumenstraße und über die Auflösung wollen wir gar nicht reden. Dennoch: Letztere hat mich dann doch unerwartet beeindruckt. Sie schafft es, alle Vorkommnisse lückenlos zu erklären – das hatte ich mir zwischenzeitlich beim besten Willen nicht mehr vorstellen können. Das offene Ende hätte ich dagegen nicht unbedingt gebraucht. So wirklich getroffen hat „Einer wird sterben“ meinen Geschmack also nicht.

Verlag: FISCHER Scherz
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 27. Februar 2019
ISBN: 978-3651025417
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

6. August 2019

Agatha Christie: Das Böse unter der Sonne

Greife ich zu einem Krimi von Agatha Christie, weiß ich in der Regel, was mich erwartet, obwohl der Ausgang des jeweiligen Falls für mich stets unvorhersehbar ist. Neulich hatte ich allerdings einmal einen komplett untypischen Poirot erwischt, der mir nicht besonders gefallen hatte. Und so war ich bei der Lektüre des 22. Falls, den Christie um ihren belgischen Meisterdetektiv geschrieben hat (und ihres 29. Kriminalromans überhaupt) dann sehr beruhigt, dass alles wieder in gewohnter Manier zuging.


„Das Böse unter Sonne“ spielt in einem exklusiven Hotel auf einer kleinen britischen Insel, die über einen während der Flut stets überschwemmten Damm mit dem Festland verbunden ist. Hercule Poirot verbringt hier seinen Urlaub, wie noch einige andere: Paare, Familien, Alleinreisende. Die Idylle zerbricht, als ein weiblicher Gast ermordet in einer Badebucht aufgefunden wird. Die frühere Schauspielerin Arlena Stuart Marshall, die mit Ehemann und Stieftochter angereist war, wurde erwürgt. Wie immer dauert es nur ein paar Seiten, bis Poirot die örtliche Polizei, bei der er zufällig jemanden kennt, bei ihren Ermittlungen unterstützt. Wie immer stellt er unorthodoxe Fragen und wird vom ein oder anderen dafür belächelt. Wie immer lässt er niemanden an seinen Gedankengängen teilhaben, klärt den Fall jedoch lückenlos auf, sobald er alle zum großen Finale versammelt hat. Und wie immer macht in Poirots Ausführungen jedes noch so kleine Detail Sinn. Einer Miturlauberin setzt der Detektiv sogar auseinander, dass seine Arbeit durchaus mit dem Lösen eines besonders schwierigen Puzzles vergleichbar ist.

Alle mysteriösen Vorfälle in „Das Böse unter der Sonne“ lassen sich am Ende erklären. Mich hat das bei der Auflösung so beeindruckt, dass mir erst später auffiel, dass Christie ein anderes wichtiges Krimielement diesmal etwas vernachlässigt hat: das Motiv. Der Grund, aus dem Arena Stuart Marshall sterben musste, macht bei näherer Betrachtung nicht besonders viel Sinn. Kurz: Der Mord wäre eigentlich nicht nötig gewesen. Das mag für viele Morde gelten, aber hier kommentiert es niemand, nicht mal Poirot – wodurch dann doch der Eindruck entsteht, dass das Motiv hier mehr schlecht als recht zusammengezimmert wurde, während die Durchführung des Mordplans dagegen richtiggehend kunstvoll ist. Lässt man auch sie nochmal Revue passieren, muss man allerdings feststellen, dass das Ganze leicht hätte schief gehen können. Der Mörder / die Mörderin hat hohe Risiken auf sich genommen, was angesichts des kaum vorhandenen Motivs doppelt erstaunlich ist. Doch vielleicht muss auch gar nicht alles im Detail erklärt werden, braucht der Täter / die Täterin hier gar keinen guten Grund – „das Böse unter der Sonne“ existiert eben einfach.

Obwohl sich das Ende also nicht allzu schwer zerpflücken ließe, hat mir dieser Krimi insgesamt gut gefallen. Es ist ein typischer Poirot-Fall, der zum Miträtseln einlädt, es dem Leser nicht allzu schwer macht, einen Überblick über Figuren und Geschehnisse zu behalten und dann am Ende doch wieder verlässlich verblüfft. „Das Böse unter der Sonne“ ist ein Krimiklassiker, der sich auch 78 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch sehr gut lesen lässt.

Ich habe eine ältere Ausgabe von "Das Böse unter der Sonne" gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 13. Juni 2015; „Das Böse unter der Sonne“ erschien jedoch bereits 1945 erstmals auf Deutsch (und 1941 auf Englisch)
ISBN: 978-3455650273
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)