26. Juli 2018

Christopher Wilson: Guten Morgen, Genosse Elefant

Nachdem insbesondere der letzte Roman, den ich gelesen hatte, schwere Kost war, hatte ich das Bedürfnis, mich als nächstes in etwas Leichteres zu vertiefen. Auf den zweiten Blick wäre das nachfolgende Buch vermutlich ungeeignet gewesen - handelt es doch bei genauerer Betrachtung vom blutigen Ende der stalinistischen Ära. Auf den ersten Blick erkennt man jedoch bereits am Cover, dass es (auch) in die Kategorie Humor fällt und die salopp-lustige Sprache verführte mich sofort zum Weiterlesen.


So nah wie in „Guten Morgen, Genosse Elefant“ kommt man Ich-Erzählern selten, dieser hier spricht einen sogar immer wieder an. Im Jahr der Romanhandlung, 1953, ist Juri Zipit zwölfeinhalb Jahre alt. Er ist ein äußerst ungewöhnlicher Zwölfjähriger, was nicht zuletzt daran liegt, dass er mit sechs Jahren von einem Milchwagen angefahren wurde und vor eine Straßenbahn fiel, die ihn dann noch überfuhr. Sein Gehirn hat dabei leichten Schaden genommen, unter anderem leidet der Protagonist an mit Furchtlosigkeit gepaarter Impulsivität und sagt eigentlich immer, was ihm gerade in den Sinn kommt – nicht die beste Überlebensstrategie im Russland der 1950er Jahre. Beim Unfall keinen Schaden genommen hat hingegen Juris Gesicht, dass anscheinend reine Herzenswärme ausstrahlt und andere Menschen dazu bringt, Juri ihre Geheimnisse anzuvertrauen – worauf dieser allerdings gut verzichten könnte.
Unser ungewöhnlicher Romanheld lebt im Moskauer Zoo, da sein Vater dort der Chefveterinär ist. Und als solcher wird der Tierarzt eines nachts zu Genossen Elefant gerufen – womit allerdings kein Dickhäuter im Zoo gemeint ist. Sein neuer Patient, den einer seiner Minister als elefantenähnlich, nämlich „überaus mächtig, sehr weise und auch sehr freundlich, falls er nicht gerade sehr wütend wird“ beschreibt, entpuppt sich als Stalin höchstpersönlich. Der Diktator hat gerade einen leichten Schlaganfall hinter sich, will davon aber nichts hören. Juris Vater fällt durch seine Diagnose sogleich in Ungnade – aber Juri, mit seinem Engelsgesicht, wird als neuester Vorkoster des „Gärtners des menschlichen Glücks“ auserwählt. Der sogenannte Stählerne leidet nämlich unter der Angst, vergiftet zu werden – und diese ist nicht unberechtigt, hoffen doch eine Menge Menschen auf das Ableben des „Architekten der Freude“ …

Was ist „Guten Morgen, Genosse Elefant“ nun für ein Buch? Komödie, Satire? Ein historischer Roman? Ein Schlüsselroman? Von allem etwas, würde ich sagen. Juri versichert seinen Lesern: „Das was ich erzähle, ist alles wahr. Absolut, komplett, total wahr. Fast. Bis auf die paar Kleinigkeiten, die ich ändere. Ändern muss. Aber nur, was Zeiten angeht. Orte, Namen und Ereignisse.“
Unser Erzähler nimmt sich also die größte schriftstellerische Freiheit überhaupt heraus – und doch reicht es, sich auf Wikipedia das Kapitel zu Stalins letzten Wochen durchzulesen um große Parallelen zu erkennen, Namen zu entschlüsseln etc.

Worin Autor Christopher Wilson allerdings das größte Geschick beweist, ist die Darstellung des Schrecklichen durch die Augen eines Kindes, dem Angst und Verzweiflung krankheitsbedingt fremd sind. Er lässt seinen Juri dessen Beobachtungen auf solch eine kurios-komische Art und Weise schildern, dass sich selbst das Furchtbarste erträglich lesen lässt. Und trotzdem bleibt klar, dass es das Furchtbarste ist, dass Juri in seiner Sonderstellung nur der Hofnarr ist, der das für jeden anderen Unerträgliche erträglich darstellt. Und so liest sich der Roman locker-flockig, ohne eine seichte Lektüre zu sein. Je mehr man über die stalinistische Ära weiß, desto mehr kann man dabei vermutlich rauslesen. „Guten Morgen, Genosse Elefant“ hat eine größere Tiefe, als der erste Blick enthüllt. Der enthaltene Humor ist quasi der Zucker im Kuchen, er macht die Bitternis des Ganzen durchgängig bittersüß.

Gerne hätte ich noch herausgefunden, wie Christopher Wilson auf die Idee kam, dieses Buch zu schreiben. Er scheint Engländer zu sein, hat die Psychologie des Humors ergründet und kreatives Schreiben unterrichtet. Vielleicht wollte er mit seinem Roman demonstrieren, wie Humor alles erträglicher gestalten kann. In jedem Fall hat er mit Juri einen Helden geschaffen, den seine Leser sofort ins Herz schließen und so schnell nicht wieder vergessen werden.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 16. August 2018
ISBN: 978-3462050769
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

20. Juli 2018

Lize Spit: Und es schmilzt

Dieser erste und bisher einzige Roman der flämischen Autorin Lize Spit (Jahrgang 1988) war 2016 ein Bestseller in Belgien und den Niederlanden, es wurden 160.000 Exemplare verkauft. Kein Wunder, dass der S. Fischer Verlag ihn als Spitzentitel in sein Herbstprogramm 2017 aufgenommen hatte. Zur Ankündigung verwendete er folgenden vielversprechenden Slogan: „Ein Buch, das alles gibt und alles verlangt“. Der generelle Hype sowie diese Ankündigung machten mich neugierig – was würde das Buch mir geben, was von mir verlangen? Mit relativ hohen Erwartungen begann ich die Lektüre dieses optisch sehr schönen Romans mit grünem Schnitt.


Obwohl von Anfang an klar ist, dass die Handlung von „Und es schmilzt“ in Belgien angesiedelt ist, musste ich mir das immer wieder in Erinnerung rufen – ich hatte nämlich fortlaufend das Gefühl, einen skandinavischen Roman zu lesen, der irgendwo spielt, wo das Land spärlich besiedelt ist, die Tage kurz und die Menschen schweigsam und in sich gekehrt sind. Die Atmosphäre ist von Anfang an von einer kaum wahrnehmbaren Düsternis geprägt, obwohl noch gar nichts Düsteres passiert ist. Die Autorin Lize Spit kann ohne Frage schreiben, sie weiß, wie man eine Dramaturgie aufbaut und legt die Psyche ihrer Hauptfigur nach und nach auf herzzerreißende Weise offen. Generell hat mich die Darstellung ihrer weiblichen Protagonisten dabei stärker überzeugt als die der männlichen, die mir insbesondere gegen Ende des Romans unglaubwürdig gefühlskalt und passiv vorkamen.

Was hat das Buch nun von mir verlangt? Auf den ersten 100 Seiten: vor allem einen langen Atem. Als Leser erlebt man „Und es schmilzt“ aus Sicht von Protagonistin Eva. Es geht um den Sommer 2002, in dem sie 13 oder 14 ist – und um die Jetzt-Zeit, während der sie ungefähr doppelt so alt sein dürfte. Die erwachsene Eva reist das erste Mal seit vielen Jahren in ihr Heimatdorf Bovenmeer. Sie ist dort zu einer Feier eingeladen und fährt nach längerem inneren Ringen hin, einen großen Eisklotz in ihrem Gepäck.

Der Romansommer 2002 beginnt träge, wie auch der Tag der großen Feier, wie auch die Kapitel zu beiden Handlungssträngen. Doch irgendwann scheinen die kleinen, zunächst bedeutungslos wirkenden Ereignisse eine gefährliche Abwärtsspirale zu entwickeln, aus der der Ausstieg zwar möglich erscheint – aber findet er auch wirklich statt? Die Handlung schreitet schneller voran, die Anzahl verstörender Details nimmt zu, alles in allem ist das Gelesene immer schwerer zu ertragen, ab irgendeinem Punkt musste ich mich regelrecht zwingen, um weiterzulesen. Eva erfährt in diesem Sommer mehrere Formen von unglaublichen Verletzungen und unglaublichem Verrat. Eigentlich ein empathisches Mädchen mit einem funktionierenden inneren moralischen Kompass, hat sie eine große Schwäche: ihre emotionale Bedürftigkeit. Eva will gesehen, geliebt und gebraucht werden und hat von ihrer Familie dahingehend wenig zu erwarten: Das Interesse ihrer Eltern gilt in erster Linie dem Alkohol, ihren Kindern stehen sie dagegen mit einer Mischung aus Überforderung, Gleichgültigkeit und gelegentlicher Grausamkeit gegenüber. Der große Bruder flüchtet sich in sein naturwissenschaftliches Interesse, die kleine Schwester in Zwangsneurosen. Evas Überlebensstrategie sind ihre Freundschaften. Aber kann sie so den toxischen Sommer 2002 überstehen?

Ausführlicher kann ich auf den Inhalt dieses Romans kaum eingehen, ohne zu viel zu verraten. Abverlangt hat er mir beim Lesen tatsächlich außer einem langen Atem noch einiges mehr, „ein Buch, das alles verlangt“ kann man von mir aus so stehen lassen. Aber hat mir „Und es schmilzt“ auch etwas gegeben – außer einem Kopfkino, das ich hoffentlich eines Tages wieder vergessen werde? Ich weiß es nicht. Sicher bin ich mir dagegen, dass ich diesen Roman weder verschenken noch empfehlen werde. Trotzdem bleibt für mich die Frage nach dem Warum. Soll „Und es schmilzt“ mit seinen schonungslosen Schilderungen schocken? Die Abgründe der menschlichen Natur aufzeigen? Warnen, genauer hinzusehen? All das tut der Roman. Ist das ein Gewinn, eine Bereicherung für seine Leser? Ich bin mir da nicht so sicher.

Verlag: S. Fischer Verlag
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 24. August 2017
ISBN: 978-3103972825
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €).
Der Roman erscheint am 24. Oktober 2018 im Taschenbuch für 12,00 €.

10. Juli 2018

Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip

Von Meg Wolitzer hatte ich noch nie gehört, dabei hat sie schon etliche Romane geschrieben, von denen zwei auch verfilmt wurden. Mehrere ihrer Bücher standen auf der New-York-Times-Bestsellerliste und auch einen deutschen SPIEGEL-Bestseller kann sie bereits vorweisen. Ihre Themen scheinen immer zwischenmenschliche Beziehungen sowie deren Abgründe zu sein - worüber ich im Allgemeinen durchaus gerne lesen.


Mit diesem Roman hatte ich anfangs dennoch ein bisschen zu kämpfen. Alles an ihm schien sperrig: Der Beginn, die Charaktere, die Handlung. Autorin Meg Wolitzers Art, Dinge zu beschreiben, fand ich jedoch von Anfang an ansprechend – in „Das weibliche Prinzip“ gibt es weise Sätze wie „Beziehungen waren ein Luxus, den sich nur Menschen leisten konnten, die nicht in einer Krise steckten“. Oder: „Ich denke manchmal, dass Introvertierte, die sich beigebracht haben, extrovertiert zu sein, die effektivsten Menschen der Welt sind.“ Ich habe mir einige interessante Gedanken markiert, doch manchmal wirkte der Stil der Autorin auch etwas überladen auf mich.

Und dann sprang der Funke doch noch über. Rückblickend denke ich, dass das geschah, nachdem der größte Coming-of-Age-Teil überstanden war. Natürlich verhalten sich die Hauptfigur und ihre Freunde mit Anfang/Mitte 20 noch nicht ganz erwachsen, aber die Irrungen und Wirrungen, die Schulabschluss und Universitätsbeginn mit sich bringen, waren irgendwann überstanden – für sie und für mich.
„Das weibliche Prinzip“ handelt von der ehrgeizigen Greer Kadetsky, die zu Beginn des Buches ihr Studium am Ryland College beginnt, nachdem ihre Eltern ihre Anmeldung in Yale vermasselt haben. Während ihre Jugendliebe Cory nach Princeton geht und ihm die Welt von nun an zu Füßen zu liegen scheint, fühlt sich Greers neues Leben im Vergleich zunächst minderwertig an – zumindest für sie selbst. Doch sie findet bald Freunde am Ryland College und obwohl die Dichte an interessanten Abendveranstaltungen natürlich nicht mit der in Princeton mithalten kann, hört Greer an ihrer Hochschule einen Vortrag, der ihr Leben verändern wird: Den der Feministin Faith Frank. Diese Figur, die zu Beginn des Romans Mitte 60 ist, habe ich mir als eine Art Alice Schwarzer vorgestellt: bekannte Feministin und Bestsellerautorin mit eigener Zeitschrift, die ihre erfolgreichste Zeit bereits hinter sich hat. Im Roman ist Faith Frank immer noch eine Galionsfigur der Frauenbewegung, der man gerne zuhört, doch die Auflagenzahlen ihres Magazins „Bloomer“ sinken und andere Feministinnen mit radikaleren Ansichten erhalten inzwischen mehr Aufmerksamkeit als sie. Dennoch ist Faith Franks Vortrag für Greer eine Art Erweckungserlebnis, der ihr Leben nachhaltig prägt – nicht zuletzt, weil sie danach noch ein kurzes Gespräch mit der Rednerin führen kann und sich nach dem Studium bei „Bloomer“ bewirbt.

Greer wird nach und nach eine begeisterte Feministin und bleibt dabei eine glühende Bewunderin Faith Franks. Doch nach ihrem Abschluss am Ryland College, wenn der Leser sie durch die ersten Jahre ihres Arbeitslebens begleitet, muss die Hauptfigur entdecken, dass man zwar für das Wohl der Frauen im Allgemeinen kämpfen kann, das jedoch nicht bedeutet, dass man sich den eigenen Freundinnen immer loyal und fair gegenüber verhält. Was macht erfolgreicher – Kompromisslosigkeit oder Abwägen? Greer lernt, kämpft und muss sich schließlich selbst behaupten – und das regt zum Nachdenken an. Wichtige Nebenrollen spielen neben Faith Frank Greers Freundin Zee und Cory, der mit Princeton das große Los gezogen zu haben schien. Aber: „Er würde immer ein Mensch sein, der nicht weglief, sondern half“ – wieder so ein starker Wolitzer-Satz von der Art, wie sie in diesem Roman massenhaft zu finden sind. Schon für diese Art von Beschreibungen lohnt es sich, „Das weibliche Prinzip“ zu lesen.
Die Selbstfindung der Protagonisten mitzuerleben sowie kapitelweise auch mal hinter die Fassade von Faith Frank und anderen Figuren blicken zu können, riss mich nach dem ersten Buchdrittel doch mit. Die Charaktere in diesem komplexen Romankonstrukt sind außergewöhnlich vielschichtig. Autorin Meg Wolitzer macht es ihren Lesern nicht immer leicht, doch die Lektüre lohnt sich. „Das weibliche Prinzip“ bietet jede Menge gedankliche Anregungen, nicht nur über Bedeutung und Entwicklung des Feminismus in der heutigen Zeit, sondern auch darüber, was wirklich wichtig im Leben ist.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 496
Erscheinungsdatum: 16. Juli 2018
ISBN: 978-3832198985
Preis: 24,00 € (E-Book: 18,99 €)