23. April 2021

Igor Levit und Florian Zinnecker: Hauskonzert

Pointiertes Porträt.

Zum Welttag des Buches noch ein Buchtipp von mir: Ich habe gerade „Hauskonzert“ beendet und bin begeistert. „Hauskonzert“ ist, wie auch am Ende thematisiert wird, nicht das typische „Pianistenbuch“ (wobei es zugegebenermaßen das erste Pianistenbuch ist, das ich überhaupt gelesen habe). Und es handelt auch längst nicht nur vom Klavierspielen. Themen sind eine Erfolgsgeschichte mit vielen Rückschlägen, die Rezeption von Kunst, aber auch der Umgang von Menschen miteinander. Das Ganze ist klar und schnörkellos geschrieben und macht gleichzeitig die Faszination von klassischer Musik und die Leidenschaft dafür spürbar.


Autor Florian Zinnecker ist stellvertretender Ressortleiter der Wochenzeitung "Die Zeit" und auch das merkt man „Hauskonzert“ an: Es liest sich wie ein langes, fesselndes und immer wieder auch pointiertes Porträt, das ich gar nicht mehr zur Seite legen wollte.
Dabei hatte ich mich mit Igor Levit bislang nur wenig beschäftigt und höre klassische Musik äußerst selten. Dass dieses Buch mich von Anfang an gepackt hat, lag sicher auch am ungewöhnlichen Blick hinter die Kulissen des Konzertbetriebs. Aber vor allem an der Skizzierung von Levits Person: Sie wirkt komplett authentisch, denn da wird ein Künstler mit Ecken und Kanten und Schwächen sehr menschlich beschrieben – und das im Kontext eines Jahres, das gerade für Künstler sehr schwierig war. Auch das macht den Reiz dieses Buches aus: Geplant wurde es im Dezember 2019, der Konzerttourneeplan für 2020 stand, und dass er ab Mitte März pandemiebedingt komplett umgeworfen werden würde, war noch nicht abzusehen. Levits Perspektive auf diese Zäsur – als Pianist, der sich Rang und Namen bereits erspielt hat – ist spannend zu lesen.

Und dann beschäftigen sich Igor Levit und Florian Zinnecker noch mit Themen, die so gar nichts mit Kunst zu tun haben, mit denen ersterer aber immer wieder konfrontiert wird: Antisemitismus, Rassismus, Hetze. Der Hass im Netz flammt auf, seit Levit sich zu gesellschaftspolitischen und ökologischen Themen öffentlich äußert. Was ihn dabei antreibt und wie er damit umgeht, wird in „Hauskonzert“ ebenfalls angesprochen. Und so gibt es hier Einblicke und Denkanstöße, die dieses „Pianistenbuch“ tatsächlich einzigartig machen.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 12. April 2021
ISBN: 978-3-446-26960-6
Preis: 24,00 € (E-Book: 17,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

18. April 2021

Leïla Slimani: Dann schlaf auch du

Das unvorstellbare Grauen.

Eine Nanny, die ihre Schützlinge ermordet – das klingt albtraumhaft und ist eigentlich kein Thema, über das ich Romane lesen möchte. Für dieses Buch habe ich zum Glück eine Ausnahme gemacht und konnte mich seinem Sog kaum entziehen.


Das Grauen ist auf den ersten Seiten von „Dann schlaf auch du“ bereits passiert: Louise, die „Nounou“ von Kleinkind Mila und Baby Adam, hat das ihr anvertraute Geschwisterpaar umgebracht. Es scheint unfassbar, war sie doch der Glücksfall, die gute Fee, die dem Ehepaar Myriam und Paul ermöglichte, trotz Kindern Karriere zu machen. Die ganz selbstverständlich Überstunden schob, Gäste bekochte, das Haus gemütlich und rein hielt. Die sich bereits nach wenigen Tagen unersetzlich gemacht hatte, nie etwas forderte und nie klagte.
Und ihre Arbeitgeber? Ein junges, ehrgeiziges Paar, das alles richtig machen wollte – auch wenn der Spagat zwischen familiärer Nähe und professioneller Distanz bisweilen seine Tücken hatte.

Die große Frage, die die Lektüre von „Dann schlaf auch du“ von Anfang an begleitet, ist natürlich die nach dem Warum. Leïla Slimani liefert keine einfachen Antworten darauf. Sie schildert stattdessen, wie Myriam und Paul Louise erstmals treffen, sie einstellen und wie das Leben mit Nounou so läuft. Ab und an berichten kurze Kapitel von Louises Leben außerhalb der Altbauwohnung der Familie im 10. Arrondissement von Paris. Hinzu kommen nach und nach kleine Einblicke in die Vergangenheit. Und so baut sich eine untergründige Spannung auf, die kaum zu erfassen und noch schwieriger zu beschreiben ist. Klar ist nur: Es bahnt sich etwas an.

Slimanis Figuren sind komplex. Die Autorin legt ihre Gedanken und Gefühle nicht komplett offen, macht sie aber doch in vielen kurzen Kapiteln hinreichend nahbar. Für mich hätte dieser Roman durchaus länger und ausführlicher sein können, speziell die Perspektive einer nur in Rückblicken auftauchenden Nebenfigur hätte mich sehr interessiert. Dennoch: Als Komposition ist „Dann schlaf auch du“ perfekt. Und hat mich nachhaltiger beeindruckt als so mancher Thriller.

Verlag: Luchterhand
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 21. August 2017
ISBN: 978-3630875545
Preis: 20,00 € (Taschenbuchausgabe: 10,00 €, E-Book: 9,99 €)

11. April 2021

Agatha Christie: Kurz vor Mitternacht

Abgründiges Whodunit.

Mal wieder ein Agatha-Christie-Krimi ohne Miss Marple oder Hercule Poirot, wobei letzterer den hier ermittelnden Superintendenten Battle zumindest inspiriert. Das Buch erschien 1944 in Großbritannien und den USA, die deutsche Erstausgabe wurde zwei Jahre später veröffentlicht.


„Kurz vor Mitternacht“ beginnt mit einigen kurzen Kapiteln zu den einzelnen Hauptfiguren des Krimis, bevor diese auf dem malerisch an der Küste gelegenen Anwesen Gull’s Point zusammentreffen. Gastgeberin ist die schon einige Jahre verwitwete, bettlägerige Lady Tressilian, die von einer entfernten Verwandten namens Mary Aldin gepflegt wird. Besucht wird sie von Nevile Strange und seiner zweiten Ehefrau Kay. Der erfolgreiche Sportler Nevile ist so etwas wie der Ziehsohn von Lady Tressilian und sein Besuch wird einzig und allein davon getrübt, dass auch seine erste Ehefrau Audrey vor Ort ist. Ein Cousin von ihr verbringt die Sommertage ebenfalls auf Gull’s Point, während ein längst pensionierter Anwalt zwar im Hotel wohnt, aber freundschaftliche Beziehungen zur Hausherrin pflegt. Ein Jugendfreund von Kay komplettiert die Gesellschaft. Dass nicht alle Erwähnten diesen Spätsommer überleben, liegt auf der Hand.

Es erstaunt ebenfalls nicht, dass Agatha Christie es mal wieder schafft, ihre Leserinnen und Leser an der Nase herumzuführen. Einige mögliche Motive sind von Anfang an offensichtlich; kleine Randbemerkungen lassen erfahrene Krimi-Fans aufhorchen. Aber am Ende ist dann doch wieder alles anders – und trotzdem schlüssig. „Kurz vor Mitternacht“ ist ein sehr kurzweiliges Lesevergnügen. Nur auf die letzten zwei, drei Seiten hätte ich verzichten können, denn da soll es romantisch werden, was sich bei Agatha Christie immer ziemlich hölzern liest – hier merkt man am ehesten das Alter ihres Werks. Doch die Krimihandlung ist unverstaubt und dass dieser Fall vor fast 80 Jahren erdacht wurde, tut seiner Raffinesse keinen Abbruch.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Kurz vor Mitternacht“ gelesen; aktuell im Handel ist diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 14. März 2018; „Kurz vor Mitternacht“ erschien jedoch bereits 1946 erstmals auf Deutsch (und 1944 auf Englisch).
ISBN: 978-3455002263
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

5. April 2021

Katherine Collette: Das Einmaleins des Glücks

Gefühlslegasthenikerin im Gewissenskonflikt.

Die 37-jährige Mathematikerin Germaine ist anders als die anderen. Von Zahlen versteht sie viel, von Menschen wenig. Zwischentöne sind ihr fremd, Fettnäpfchen nicht – wobei sie meist noch nicht einmal bemerkt, wenn sie wieder einmal in eins gestolpert ist. Durch Vermittlung ihrer Cousine erhält sie eine Stelle bei der Stadtverwaltung und wird ausgerechnet am Beratungstelefon für Senioren eingesetzt, was ihr überhaupt nicht zusagt. Zum Glück hat die Bürgermeisterin Höheres mit der leidenschaftlichen Sudoku-Spielerin vor und schiebt ihr Spezialaufträge zu. Nach und nach stellt sich allerdings heraus, dass diese ganz und gar nicht im Interesse der Senioren sind. Und plötzlich steckt die sonst sehr auf ihren eigenen Vorteil bedachte Germaine in einem Gewissenskonflikt.


Wer Graeme Simsions „Rosie-Projekt“, „Rosie-Effekt“ und „Rosie-Resultat“ mochte, wird vermutlich auch Germaine ins Herz schließen, auch wenn das gar nicht so einfach ist. Die Gefühlslegasthenikerin hat nämlich nicht nur Probleme, ihre Mitmenschen zu verstehen, sie sind ihr auch relativ egal. Germaine fühlt sich verkannt, ist ehrgeizig und sehnt sich nach jemandem, der ihr Potential zu schätzen weiß. Nach und nach wird klar, dass sie in ihrem Leben einige große Enttäuschungen erlebt und sich daher einen ziemlich dicken Schutzpanzer zugelegt hat.

Germaines zwischenmenschliche Begriffsstutzigkeit ist ab und an ganz erheiternd, allerdings nutzt sich dieser Effekt mit der Zeit ab. Etwas bedauert habe ich, dass alle anderen Charaktere doch recht blass bleiben, obwohl sie durchaus Potential hätten. Autorin Katherine Collette hat offensichtlich ein Herz und Händchen für leicht skurrile, verschrobene Figuren, konzentriert sich aber komplett auf Germaine. Etwas mehr Abwechslung hätte die Geschichte bereichern können.

Trotzdem ist „Das Einmaleins des Glücks“ gut lesbar, hat mich immer mal wieder zum Schmunzeln gebracht und am Ende zufrieden zurückgelassen. Eine nette Zwischendurch-Lektüre.

Verlag: insel taschenbuch
Seitenzahl: 400
Erscheinungsdatum: 18. Januar 2021
ISBN: 978-3458681274
Preis: 11,00 € (E-Book: 10,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.