Etwas ganz Besonderes.
Was für ein Buch! Die Protagonistinnen sind alle sehr unterschiedliche Charaktere, die innerhalb einer Zeitspanne von ca. 100 Jahren geboren wurden, größtenteils in England. Sie eint, dass sie Persons of Color (BPoC) sind und unter anderem afrikanische Wurzeln haben.
Die Autorin Bernadine Evaristo gibt den Geschichten in „Mädchen, Frau
etc.“ Struktur, indem sie die ersten vier Kapitel nach dem gleichen
Schema anordnet: mit je drei Unterkapiteln, die jeweils den Namen der
Figur tragen, deren Leben auf ungefähr 40 Seiten beleuchtet wird. Zwei der drei Unterkapitel-Protagonistinnen sind außerdem Mutter und Tochter, die dritte zumindest mit einer von beiden bekannt.
Los geht es mit Amma, einer bisexuellen Theaterregisseurin kurz vor der
Premiere ihres ersten im National Theatre in London aufgeführten
Stücks. Und mit der nachfolgenden Premierenparty schließt sich auch der
Kreis; ihr ist das fünfte und letzte Kapitel dieses Romans gewidmet.
Der
klare Aufbau hat mir bei der Orientierung im Buch geholfen; der
Zusammenhang der episodenhaften Geschichten lässt sich gut erfassen. Ich
empfehle Lesepausen und habe nach jeder Frauenfigur eine gemacht. Die
geschilderten Erfahrungen und Entwicklungen sind so verschieden, dass
ich sie erst einmal auf mich wirken lassen wollte. Evaristo ergründet
die Charaktertiefen ihrer Figuren; auf verhältnismäßig wenigen Seiten
kommt sie jeder Einzelnen sehr nah. Das liest sich intensiv und nicht
immer ganz einfach. Kapitel, deren Fokus auf zwischenmenschlichen
Verwicklungen liegt, habe ich zum Teil verschlungen, andere beschäftigen
sich expliziter mit dem Genderthema und sind dadurch theoretischer. Im
Laufe des Kapitels zu Megan/Morgan wurde mit „sier“ sogar ein neues
Personalpronomen verwendet, von dem ich noch nie gehört hatte, weswegen
es meinen Lesefluss erst einmal ziemlich ausgebremst hat.
An
Evaristos besonderen Stil habe ich mich dagegen schnell gewöhnt: Sie
benutzt kaum Punkte, sondern Absätze, um ihre Sätze zu strukturieren.
Dass die Zeichen am Ende eines Satzes meist fehlen, ist mir kaum
aufgefallen, aber mit ihren Absätzen verleiht die Autorin ihrem Text
noch einmal viel mehr Wucht und betont zum Teil sogar einzelne Wörter,
was das Leseerlebnis extra eindrücklich werden lässt.
Mich hat
sehr fasziniert, wie Evaristo ihre Frauenfiguren mit deren vielfältigen
Geschichten und Erfahrungen zum Leben erweckt. Sie sind so divers, wie
Frauen nur sein können: aufopferungsvoll, borniert, ehrgeizig,
ängstlich, rassistisch, stolz, fürsorglich, arrogant, verliebt,
gehässig, antriebslos … Die Geschichte jeder einzelnen hätte für die
Hauptfigur eines eigenen Romans gereicht, und mehr als einmal habe ich
mir gewünscht, dass die Autorin noch einen über sie schreiben wird: z.B.
über Bummi, die in Nigeria eine von Verlusten geprägte Kindheit hatte
und das Leben ihrer Tochter Carole, einer Oxford-Absolventin, kaum mehr
nachvollziehen kann. Oder über ebendiese Carole, die ein Trauma
überlebt, Freundschaften geopfert, gekämpft und sich angepasst hat, um
es als schwarze Frau in der Londoner Businesswelt nach oben zu schaffen,
die aber trotzdem nicht glücklich wirkt. Über Hattie, die ihren Hof bis
ins hohe Alter allein bewirtschaftet und ihre weitverzweigte
Nachkommenschaft zu großen Teilen nicht besonders mag. Sie alle sind
stark und verletzlich und haben Erfahrungen gemacht, die man sich kaum
vorstellen kann, wenn man weiß ist. Bernadine Evaristos Roman ist
horizonterweiternd, bereichernd, sensationell gut geschrieben und hat
mich sowohl begeistert als auch zum Nachdenken angeregt.
Verlag: Tropen
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 23. Januar 2021
ISBN: 978-3608504842
Preis: 25,00 € (E-Book: 19,99 €)
Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.