20. Dezember 2018

Francesca Hornak: Sieben Tage wir

Weihnachten ist bekannterweise das Fest der Liebe und der Familie. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass „Sieben Tage wir“ immer die beste aller Ideen ist. Eine Woche im Kreis der Familie kann auch anstrengend werden – vor allem, wenn es keinerlei Möglichkeiten gibt, sich mal für ein paar Stündchen auszuklinken. Dennoch geht es in meinem zweiten Weihnachtsbuch dieser Saison wesentlich harmonischer zu als in "Hercule Poirot's Christmas" - ich denke, ich kann an dieser Stelle verraten, dass immerhin kein Familienmitglied ermordet wird!


Francesca Hornak schildert in „Sieben Tage wir“, wie sich eine Familie zwischen Weihnachten und Silvester quasi gegenseitig ausgeliefert ist – es gibt nämlich kein Entkommen, für niemanden: Zum ersten Mal seit Jahren feiert die 32-jährige Ärztin Olivia Birch wieder mit Eltern und Schwester das Fest der Liebe. Nicht komplett freiwillig: Die passionierte Ärztin hat gerade einen mehrmonatigen Einsatz im westafrikanischen Liberia hinter sich. Dort grassiert eine in ihren verheerenden Auswirkungen mit Ebola vergleichbare Epidemie und Olivia gehört zu einem Team ausländischer Ärzte, die unter größten Vorsichtsmaßnahmen Erkrankte behandeln. Doch kurz vor Weihnachten wird sie im Zuge eines Schichtwechsels nach Hause geschickt, hat sich dort jedoch sieben Tage unter Hausarrest zu begeben, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Kontakt zu anderen Menschen ist erlaubt, sofern diese die Quarantäne teilen. Und so hat das Weihnachtsfest für Olivia, ihre jüngere Schwester Phoebe und ihre Eltern auch ein bisschen was von Isolationshaft. Relativ früh wird klar, dass das anstrengend werden könnte: Mutter Emma will ihre heimgekehrte Tochter mal so richtig verwöhnen, aber lieber keine die Weihnachtsstimmung verderbenden Geschichten aus Liberia hören. Die Schwestern halten sich gegenseitig für arrogant bzw. oberflächlich, der Vater geht dem Rest der Familie so gut es geht aus dem Weg. Außerdem hat er ein Geheimnis vor seinen Lieben – doch er ist längst nicht der Einzige, der in dieser Familie etwas verschweigt.

Das Gemütlichkeit heraufbeschwörende Cover von „Sieben Tage wir“ scheint einen kuscheligen Weihnachtsroman anzukündigen und in weiten Teilen ist das Buch auch eine Feelgood-Lektüre. Es menschelt unentwegt, die Familienmitglieder kommen sich näher und gehen wieder auf Distanz zueinander, ein unerwarteter Besucher wirbelt die Woche zusätzlich durcheinander – teilweise wirkt es, als wären die Protagonisten zusammen in einer Schneekugel eingeschlossen, die kräftig durchgeschüttelt wird. Trotz Quarantäne passiert so viel, dass kaum Zeit bleibt, darüber nachzudenken, ob der Zufall nicht doch etwas zu oft zuschlägt. Der Roman liest sich fast von allein, die höchst unterschiedlichen Charaktere sind allesamt stimmig ausgestaltet und ich habe bald mit jedem von ihnen mitgefiebert. Und musste irgendwann die Erfahrung machen, dass auch in einem Weihnachtsroman nicht alles eitel Sonnenschein ist – damit hat mich die Autorin dann doch kalt erwischt. „Sieben Tage wir“ ist eine schöne Feiertagslektüre – ohne Kitsch und Schmalz, aber mit viel Herz und einer Botschaft, die wiederum zu Weihnachten passt: Auch wenn man sich voneinander entfernt hat, kann man wieder zusammenrücken.

Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 12. Oktober 2018
ISBN: 978-3548290898
Preis: 13,00 € (E-Book: 9,99 €)

14. Dezember 2018

Agatha Christie: Hercule Poirot's Christmas

Bücher mit Weihnachtsbezug sind die perfekte Lektüre für die Adventszeit. Wenn „Christmas“ schon im Titel vorkommt, kann nichts mehr schiefgehen, sollte man meinen … steht allerdings außerdem noch der Autorenname „Agatha Christie“ auf dem Cover, lässt das bereits erahnen, dass es nicht zwangsläufig besinnlich wird. Die Autorin selbst kündigt in ihrer Widmung quasi an, es krachen zu lassen. Sie hat sie an ihren Schwager gerichtet, der offensichtlich ein großer Fan ihrer Werke war, sie aber gleichzeitig zunehmend blutleer fand – im wahrsten Sinne des Wortes, denn Christie schrieb ihm: „You yearned for a good, violent murder with lots of blood.“ Den wollte sie ihm mit diesem Krimi bescheren und stellte ihrem Text auch noch ein Zitat aus „Macbeth“ voran, das nichts Gutes verheißt. Na dann: frohe Weihnachten!


Ich war also vorgewarnt, dass „Hercule Poirot‘s Christmas“ mir eher Gänsehaut als Wärme ums Herz einbringen würde – aber da ich Agatha Christies Krimis sehr gerne lese, war das kein Hinderungsgrund. Und so vertiefte ich mich in die Weihnachtsvorbereitungen auf dem britischen Anwesen Gorston Hall, wo eine Familienzusammenkunft ansteht: Der greise Patriarch Simon Lee versammelt zum Fest der Liebe seine vier Söhne mit ihren Ehefrauen (sofern vorhanden) um sich, außerdem hat er sein einziges Enkelkind eingeladen. Als Überraschungsgast findet sich noch der Sohn eines früheren Geschäftspartners ein. Die Stimmung ist nicht ganz so gut, doch darauf legt es der alte Mann auch nicht an, im Gegenteil: Er hat einen ziemlich seltsamen Humor und zieht sein eigenes, kleines Vergnügen daraus, seine Familienangehörigen zu demütigen – wissend, dass die sich das zähneknirschend gefallen lassen werden, um ihr Erbe nicht zu gefährden. Und so hat eigentlich fast jeder von Simon Lees Nachkommen ein Motiv, als der Fiesling noch vor Beginn der eigentlichen Feierlichkeiten ermordet aufgefunden wird – aber „Whodunit“? Wer war’s?

Agatha Christie hat das Rad nicht neu erfunden. Letztes Jahr im Dezember las ich den Krimi einer Zeitgenossin, „Geheimnis in Rot“ von Mavis Doriel Hay, der zwei Jahre vor dem 1938 erschienenen „Hercule Porot’s Christmas“ publiziert worden war und genau die gleiche Ausgangssituation hat: Das ungenießbare Familienoberhaupt ist ermordet worden, fast jeder hätte gute Gründe. Aber gerade Weihnachten ist ja auch ein Fest der Traditionen, und so stört es gar nicht, dass einem die Grundidee dieses Weihnachtskrimis nicht unbedingt originell vorkommt. Agatha Christie wäre nicht die Queen of Crime, wenn sie ihrem Werk nicht wieder eine ganz besondere, ziemlich unvorhersehbare eigene Note verliehen hätte – ein 08/15-Krimi ist es keinesfalls. Ich habe sehr gerne (und wie so oft erfolglos) mitgerätselt, wer Simon Lee umgebracht hat. In weihnachtliche Stimmung hat mich das nicht unbedingt versetzt, die Lektüre hat aber wie immer großen Spaß gemacht. Und auch wenn die Mengen geflossenen Blutes für einen Christie-Krimi tatsächlich überdurchschnittlich sind, gehört er dennoch verlässlich in die Kategorie „Cosy Crime“. Klare Dezember-Empfehlung!

Verlag: Harper
Seitenzahl: 282
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 26. September 2013 (Erstausgabe: 1938)
ISBN: 978-0007527540
Preis: 7,49 € (E-Book: 6,99 €)

8. Dezember 2018

Care Santos: Als das Leben vor uns lag

Dieses Buch handelt von fünf Freundinnen, aber eigentlich ist es kein Buch über Freundschaft, sondern eines über zwischenmenschliche Beziehungen aller Art, den Umgang mit Veränderungen, über Mut und Emanzipation und das Spanien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ganz schön viele Themen, von denen einige mehr angerissen als auserzählt werden. Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde der Buchcommunity "Lesejury" gerne gelesen.


Man sieht sich bekanntermaßen immer zweimal im Leben, und das erste Mal war in diesem Fall "Als das Leben vor uns lag". Mit "uns" sind die Protagonistinnen des Romans gemeint, die ehemaligen Internatsschülerinnen Olga, Marta, Lolita, Nina und Julia, die das letzte Mal im Alter von ca. 14 Jahren zusammensaßen. Es war der Abschiedsabend, bevor die Zwillinge Olga und Marta das Internat verließen. Doch an diesem Abend ist etwas geschehen, das Leben von einem der Mädchen nahm eine unumkehrbare Wendung. Inzwischen sind die früheren Freundinnen Mitte 40, eine von ihnen initiiert ein Wiedersehen und alle sagen zu. Doch sind sie auch alle so glücklich und erfolgreich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat?

Die spanisch-katalanische Autorin Care Santos hat einen in Barcelona angesiedelten Roman geschrieben, dessen Haupthandlung an zwei Abenden stattfindet – in den Jahren 1950 und 1981. In der Zwischenzeit hat sich natürlich viel getan – im Leben der Protagonistinnen wie auch in der spanischen Politik. Das Land ist ein anderes, aus den fünf Mädchen von damals sind gestandene Frauen geworden, die einiges erlebt haben. Eine von ihnen stellt fest: „Das Leben ist immer riskant, wie ein reißender Strom. Es gibt Menschen, die glücklich und zufrieden am Ufer entlanggehen und die Verwüstungen im Leben der anderen betrachten, und es gibt andere, die ins Wasser fallen und von der Strömung mitgerissen werden. Manche kommen nicht heil raus. Andere […] können sich an irgendetwas festhalten oder an irgendjemandem.“ Am beschriebenen Abend des Jahres 1981 kommt nach und nach ans Licht, zu welcher Kategorie jede der einzelnen Frauen gehört. Und schließlich wird auch über die Katastrophe des Jahres 1950 gesprochen, die vier von ihnen relativ gut verdrängt hatten.

Die Autorin schafft es, jeder ihrer fünf Protagonistinnen gerecht zu werden. Sie hat sehr unterschiedliche Charaktere erschaffen, von denen keiner ins Klischee abrutscht. Anhand der von den Frauen berichteten Erlebnisse lässt sich der Wandel Spaniens miterleben wie auch ein Stück weibliche Emanzipationsgeschichte. Gleichzeitig wartet Care Santos mit einigen überraschenden Wendungen auf. Herausgekommen ist ein kurzweiliger Roman über Beziehungen, Vergebung und die verschiedenen Arten von Liebe. Und die tröstliche Erkenntnis, dass das Leben zwar nicht mehr komplett vor den Frauen liegt, aber auch mit Mitte 40 noch voller neuer Möglichkeiten sein kann.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 30. November 2018
ISBN: 978-3404177516
Preis: 10,00 € (E-Book: 8,99 €)

2. Dezember 2018

John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie

Wenn man diesen Buchtitel hört, erwartet man fast automatisch einen schmalzigen Liebesroman. Das Cover beruhigt dann jedoch: So schmalzig kann er nicht sein, sonst wäre er nicht im Diogenes Verlag erschienen. Abgesehen davon hat das Coverbild so gar nichts Kitschiges: Ein Mann und eine Frau entfernen sich voneinander, er scheinbar entschlossenen Schrittes, sieh etwas langsamer, doch auch unbeirrbar wirkend. Beide sehen etwas verloren aus und ihre Schatten sind länger als sie selbst.


„Liebe ist die beste Therapie“ ist der neueste Roman des 73-jährigen amerikanischen Anwalts und Jura-Professors John Jay Osborn. Er wirkt allerdings wie von einem Paartherapeuten verfasst, basierend auf dessen kumulierten Erfahrungen. Das Buch ist tatsächlich nicht mehr oder weniger als die Schilderung einer Paartherapie, einziger Schauplatz ist das Sprechzimmer von Sandy, der Therapeutin. Die 31 Kapitel schildern ihre Sitzungen mit Charlotte und Steve, die sich getrennt haben, aber herausfinden wollen, ob ihre Ehe noch eine Zukunft hat. Meist kommen die beiden zusammen zu Sandy, manchmal sitzt aber auch nur einer von ihnen vor der Therapeutin.

Sandy sagt Steve bereits in seiner ersten Einzelsitzung, dass die Chance, seine Ehe zu retten, bei 1:1000 liegt. Dass Liebe die beste Therapie ist, würde diese Therapeutin sicherlich nicht unterschreiben, „Liebe allein reicht nicht“ oder „Kommunikation ist die beste Therapie“ träfe den Kern dieses Buches schon eher, klänge als Titel aber zugegebenermaßen nicht besonders vielversprechend. Apropos Versprechen: Der Verlag wirbt auf der Umschlagrückseite damit, dass der Roman „Ihre Beziehung mehr verändern könnte als jede Paartherapie“. Kann das Buch das halten? Ich glaube nicht. Dabei ist es durchaus interessant, Charlotte und Steve lesend zu begleiten. Einem Laien wie mir schienen Sandys Methoden zum Teil unorthodox, sie hatte ab und an einen verblüffenden Blick auf die Dinge, stellte öfters Fragen, die mich (und auch die beiden Protagonisten) überraschten und hielt wenig von Regeln und Absprachen. Glücklicherweise macht Osborn dem Leser zumindest einen Teil ihrer Gedanken zugänglich, so dass ich während der Lektüre ein gewisses Verständnis dafür entwickelte, auf was es Sandy ankam – oft genug tappte ich jedoch auch genauso im Dunkeln wie der untreue Ehemann Steve. Gerne hätte ich noch mehr über die Therapeutin erfahren, es gab einige neugierig machende Anspielungen auf ihr Leben außerhalb ihres Sprechzimmers, aber dabei blieb es leider. „Liebe ist die beste Therapie“ hätte das Potential gehabt, ein vielschichtiger und auch unterhaltsamer Roman zu werden, konzentriert sich aber eisern auf das, was innerhalb der vier Wände des Sprechzimmers beredet wird. Das macht den Roman sicherlich einzigartig – aber auch etwas spröde.

Wie hat mir das Buch nun gefallen? Als sehr ungewöhnliches Lektüreerlebnis hat es durchaus einen gewissen Reiz, keine Frage. Groß bewegt hat es mich allerdings nicht und Spannung kam auch keine auf. Ich will nicht ausschließen, dass der Roman seinen Lesern unterbewusst hilft, ihre Antennen für zwischenmenschliche Kommunikation zu verbessern. Dass er jedoch lebensverändernd wirken kann, glaube ich kaum.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 24. Oktober 2018
ISBN: 978-3257070439
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

25. November 2018

JP Delaney: Believe Me. Spiel Dein Spiel. Ich spiel es besser.

JP Delaneys 2017 erschienener Thriller „The Girl Before“ ist ein spannend klingender Bestseller, von dem ich bereits gehört hatte. Daher habe ich mich sehr über die Gelegenheit gefreut, ein Rezensionsexemplar von „Believe Me“ zu lesen, dem neuesten Buch des Autors, das gleichzeitig ein früheres Werk von ihm ist, mit dem Delaney jedoch nicht zufrieden war. In seiner Danksagung am Ende des Buches schreibt er, dass er durch den Erfolg von „The Girl Before“ „die Chance einer Neuauflage“ von „Believe Me“ bekam, die Urversion jedoch stark verändert hat, weil er mit ihr schon nach Erscheinen nicht mehr zufrieden war: „Ich hatte das Gefühl eine interessante Idee verschwendet zu haben, weil das Buch nicht gut genug gelungen war.“ Tja.


„Believe Me“ beginnt durchaus interessant. Die Engländerin Claire Wright besucht eine Schauspielschule in New York. Sie ist so begabt, dass sie ein Stipendium bekommen hat, das ihre Lebenshaltungskosten jedoch nicht abdeckt. Eine Arbeitserlaubnis erhält sie als Ausländerin allerdings nicht und arbeitet schließlich gegen Cash als Treuetesterin, die verheirateten Männern im Auftrag von deren Ehefrauen Avancen macht. Dabei ist sie sehr erfolgreich – außer bei Universitätsprofessor Patrick Fogler, der sie abblitzen lässt. Am nächsten Morgen wird seine Ehefrau ermordet aufgefunden. Sowohl er als auch Claire stehen zunächst unter Verdacht. Und als die Polizei der jungen Schauspielschülerin ein Angebot macht, kann sie quasi nicht ablehnen, gerät aber zunehmend in einen Interessenskonflikt, weil sie Patrick Fogler immer attraktiver findet …

Das Verhalten der Figuren erschien mir relativ bald nicht mehr besonders schlüssig. Irgendwann kam es dann jedoch zu einem Twist, der mich extrem überrascht hat. Überraschende Wendungen sind ein Markenzeichen von guten Thrillern, aber so richtig glaubwürdig erschienen mir die Geschehnisse auch danach nicht. Die Figuren wirkten zum Teil komplett verquer oder blieben plötzlich merkwürdig blass. Ereignisse, die jeden normalen Menschen extrem irritiert hätten, wurden von ihnen schnell vergessen oder abgetan. Überdies fehlte mir ein anderes Markenzeichen von guten Thrillern: Spannung. Nicht, dass es mich nicht mehr interessiert hätte, wer die Ehefrau von Patrick Fogler ermordet hat, aber den Figuren schien es zum Teil egal und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass sie noch an einer Beantwortung dieser Frage interessiert waren.
Ein drittes Markenzeichen von guten Thrillern: die Auflösung. Ich finde, damit steht und fällt ein Buch dieses Genres und erwartete nach dem langen, müden Dahinplätschern der Handlung eine Überraschung – die auch kam und auf der ich nach wie vor herumdenke, da sie einige Geschehnisse in einem anderen Licht beleuchtet. Ich fand die Auflösung nicht schlecht und das Verhalten mancher Protagonisten erscheint mir im Nachhinein schlüssiger. Doch es ändert nichts daran, dass sich das Leseerlebnis eher belanglos gestaltete. „Believe Me“ enthielt einige faszinierende Elemente – Baudelaires Skandal-Gedichtband „Le Fleurs Du Mal“ spielt eine große Rolle, auch die Einblicke in Claires Schauspielunterricht und -verständnis fand ich gelungen. Aus dem ganzen Stoff hätte man mehr rausholen können, glaube ich – wie es wohl auch der Autor dachte, als er seine Geschichte nochmal überarbeitete. Aber in meinen Augen ist es ihm immer noch nicht gelungen. „Believe me“ ist trotz vielversprechender Ansätze nicht komplett stimmig und erst recht nicht spannend, das Gesamtkonzept krankt. Schade, ich hatte mir mehr versprochen.

Verlag: Penguin
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 10. September 2018
ISBN: 978-3328103264
Preis: 15,00 € (E-Book: 9,99 €)

11. November 2018

Daniel Kehlmann: Tyll

Dieses Buch habe ich schon vor fast zwei Wochen ausgelesen, mich bislang jedoch vor der Rezension gedrückt. Der Grund: Ich habe große Zweifel, ob meine Besprechung diesem großartigen, vielschichtigen Roman gerecht werden kann. Ich habe ihn als einzigartig empfunden und somit hat er auch eine ganz besondere Rezension verdient.


Als ich anfing, Daniel Kehlmanns „Tyll“ zu lesen, war ich noch nicht so begeistert. Ich hatte das Buch quasi unaufgefordert ausgeliehen bekommen, bin generell kein besonderer Fan historischer Romane und dass mir gesagt wurde, dieser hier hätte quasi keine Handlung, machte ihn nicht unbedingt attraktiver.

Wobei es gar nicht stimmte: „Tyll“ hat durchaus Handlung. Sie steht allerdings nicht unbedingt im Vordergrund. Der Roman liest sich mehr wie ein Zeitzeugnis, was das 2017 veröffentlichte Buch natürlich in keiner Weise ist. Aber Kehlmann verleiht seinen Figuren einen Ton und eine Sprache sowie dem ganzen Roman eine solch ungewöhnliche Atmosphäre, dass man als Leser mehr in den Dreißigjährigen Krieg eintaucht, als ich es für überhaupt möglich gehalten hätte. Dabei war mir dieser Stoff anfangs sehr fremd, mein Wissen über die damalige Zeit höchst begrenzt. Die acht langen Kapitel, aus denen sich der Roman zusammensetzt, bauen außerdem nicht chronologisch aufeinander auf, was die Lektüre anfangs etwas sperrig macht. Dennoch ist „Tyll“ zu jeder Zeit sehr gut lesbar. Doch das große Ganze zu verstehen, fällt erst einmal schwer, da auch unterschiedliche Figuren im Mittelpunkt der jeweiligen Kapitel stehen, während andere, bisherige Hauptfiguren höchstens noch einmal als Randfigur vorkommen. Auch der titelgebende „Tyll“, eine Till Eulenspiegel nachempfundene Figur, ist kaum eine Hilfe, obwohl er in jedem der Kapitel zumindest auftaucht. Dennoch bleibt er eine nebulöse Figur, mit der sich kaum warm werden lässt. Dies gilt jedoch für alle Protagonisten: Das Identifikationspotential ist außerordentlich gering. Dennoch zieht der Roman einen nach und nach in seinen Bann, was auch daran liegt, dass Kehlmann all die von ihm geschaffenen losen Ende früher oder später auf kunstvollste Art und Weise zusammenführt. Irgendwann lichtet sich der Nebel, Figuren tauchen zum wiederholten Mal auf, Verbindungen werden klar und irgendwann sogar die historischen Zusammenhänge. Wie sich alles zusammenfügte, fand ich höchst faszinierend. Was mich zudem begeisterte: Wie eine längst vergangene, höchst elende Zeit plötzlich so greifbar, so nachvollziehbar und fühlbar wurde. Kehlmann lässt verschiedenste fiktive und historische Figuren zu Wort kommen, die Perspektive der hart schuftenden Müllersfrau kommt genauso vor wie die des vermeintlich Gelehrten, die der Königin und die des Narren.

Und so ist „Tyll“ ein außergewöhnlicher Roman, der mich anfangs leicht abgeschreckt und zu seinem Ende hin richtiggehend begeistert hat – und außerdem einer, den ich glatt nochmal lesen könnte, um auch wirklich alle Zusammenhänge zu begreifen. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal ein derartiges Buch gelesen zu haben. „Tyll“ ist große Literatur und nur zu empfehlen.

Verlag: Rowohlt
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2017
ISBN: 978-3498035679
Preis: 22,95 € (E-Book: 19,99 €)

5. November 2018

Chloe Benjamin: Die Unsterblichen

„Worte haben immer nur die Bedeutung, die man ihnen verleiht.“ Diesen Satz las ich gerade in einem eher mittelmäßigen Thriller, doch er passte noch besser zu dem Roman, den ich kurz zuvor beendet hatte. Er handelte von Worten in Form einer Prophezeiung, die das Leben von vier Geschwistern nachhaltig beeinflusst hat. Aber hätte die Prophezeiung auch diese Wirkung gehabt, wenn ihr die Kinder, die sie hörten, weniger Bedeutung zugemessen hätten?


Chloe Benjamins „Die Unsterblichen“ beginnt 1969 in der Lower East Side in New York. Die vier Kinder der Familie Gold langweilen sich in ihren Ferien und als sie von einer Wahrsagerin hören, die ihren Besuchern deren Todesdaten vorhersagt, verspricht das endlich etwas Abwechslung in die Ödnis dieses Sommers zu bringen. Sie spüren die Frau gemeinsam auf – nichtahnend, dass der Besuch jedes ihrer Leben nachhaltig beeinflussen wird: Das der vorsichtigen und vernünftigen dreizehnjährigen Varya, des selbstsicheren elfjährigen Daniel, der lebenshungrigen neunjährigen Klara und des Nesthäkchens, dem siebenjährigen Simon. Denn was bedeutet es, wenn man seinen eigenen Todestag zu kennen glaubt? Lebt man bewusster? Versucht man, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen? Konzentriert man sich aufs Leben oder aufs Überleben? Wird das Ganze zur self-fulfilling prophecy oder schafft man es dauerhaft, eine solche Prophezeiung als Humbug abzutun?

Benjamin erzählt die Lebensgeschichten der Geschwister hintereinander weg. Alle vier schlagen sehr unterschiedliche Wege ein, doch die Autorin schafft es, jedes Leben gleichermaßen nachvollziehbar zu schildern. Und so lässt sie ihre Leser in die Schwulenszene San Franciscos Ende der 1970er Jahre eintauchen, eine der Figuren von ihren ersten Bühnenerfahrungen bis nach Las Vegas begleiten, eine berufliche Sinnkrise miterleben und sich schließlich mit Primatenforschung beschäftigen. Dass diese Entwicklungen alle schlüssig scheinen und jeder dieser höchst unterschiedlichen Charaktere auf seine Weise überzeugt, fand ich beachtlich. Trotz der – nicht nur örtlichen – Entfernungen zwischen den Protagonisten, ist „Die Unsterblichen“ eine Liebeserklärung an Verbundenheit durch familiäre Bande, die bleibt, auch wenn letztere zeitweise recht locker sitzen mögen. Als sich die Autorin jedoch im letzten Teil des Buches der auf den ersten Blick unscheinbarsten Figur widmet, bekam es für mich nochmal eine andere Tiefe. Der vermeintlich übersinnliche Aspekt des Ganzen, die Prophezeiung der Wahrsagerin, verliert dabei zunehmend an Bedeutung. Vielmehr geht es um den Umgang mit Angst, mit Vergänglichkeit und die verschiedenen Konsequenzen, die sich daraus ziehen lassen. Und so besitzt „Die Unsterblichen“ auch noch eine tiefergehende Ebene und ist nicht nur eine mystisch angehauchte, intensiv erzählte Familiengeschichte, wobei es auch als solche eine berührende und lesenswerte Lektüre gewesen wäre.

Verlag: btb Verlag
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 29. Oktober 2018
ISBN: 978-3442758197
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

29. Oktober 2018

Mhairi McFarlane: Sowas kann auch nur mir passieren

Meine Chick-Lit-Phase (Wikipedia übersetzt den Begriff mit "Mädels-Literatur") habe ich weitestegehend in meinen 20ern hinter mir gelassen. Manchmal mache ich jedoch Ausnahmen, wenn ich auf eine gehörige Portion nicht zu flachen Humors hoffen kann, trotz des garantierten Happy Ends interessante Wendungen vorausahne und die Liebesgeschichte nicht zu flach und 08/15-mäßig erscheint. Ein Garant für außergewöhnlich unterhaltsame Chick-Lit ist die Engländerin Mhairi McFarlane, von der ich alle bisherigen Romane gelesen habe. Es war also klar, dass ich mir auch ihr neuestes Werk nicht entgehen lassen würde:


„Sowas kann auch nur mir passieren“ steht in Tradition seiner vier Vorgänger. Der Roman enthält die typischen Elemente, die in allen Büchern der Autorin vorkommen: Humor, emotionalen Tiefgang, das Reifen einer Persönlichkeit nicht zuletzt durch die Hilfe ihrer großartigen Freunde und eine Liebesgeschichte, die mit gewissen Irrungen und Wirrungen verbunden ist. Wobei mir gerade diese etwas zu kurz kam und mir dafür das Ende einen Tick zu rosarot war. Ansonsten wäre das Lied zum Buch allerdings Travis‘ „Why does it always rain on me?”. Hauptfigur Georgina schlittert in weiten Teilen des Romans von einer verkorksten/peinlichen/deprimierenden Situation in die nächste. Die 30-jährige Kellnerin, die eigentlich gerne Schriftstellerin werden würde, wird gleich zu Beginn des Romans als Bauernopfer gefeuert, erwischt ihren Freund mit einer anderen und als sie einen neuen Job in einem Pub ergattert, muss sie feststellen, dass einer der Manager ihre erste große Liebe war, sich jetzt jedoch nicht mal mehr an sie erinnert. McFarlanes Humor wirkt wie immer entschärfend, ihr Wortwitz macht das Ganze amüsant, aber dennoch hat die Protagonistin so viel Pech, dass es mir manchmal doch schwerfiel, weiterzulesen, weil sie mir so leidtat. Passenderweise ist über jedem Kapitel eine Regenwolke abgebildet.

Während dieser Pechvogel von Hauptfigur überaus sympathisch ist, ist ihr Gegenspieler, ihr Ex-Freund Robin, ein totaler Fiesling. Auch in McFarlanes übrigen Büchern spielen verkorkste frühere Beziehungen immer eine Rolle, doch kamen sie mir sonst nicht ganz so schwarzweiß gezeichnet vor. Noch mehr gestört hat mich jedoch die Tatsache, dass im Klappentext von „Sowas kann auch nur mir passieren“ ein den besagten Ex-Freund betreffendes Detail verraten wird, das im Buch aber erst gegen Ende des Romans herauskommt (in der E-Book-Ausgabe nach über 80%). Diesen Spoiler hätte es nicht gebraucht, lieber Knaur Verlag.
Alles in allem habe ich mich gut amüsiert und werde sicher auch beim nächsten Buch der Autorin wieder zugreifen (allerdings in der Hoffnung, dass es in Ton und Originalität stärker an ihre früheren Erfolge anknüpft). Allen, die Mhairi McFarlane noch nicht kennen, sei jedoch einer ihrer anderen vier Romane ans Herz gelegt – die waren in meinen Augen noch eine Prise humorvoller, inhaltlich runder und irgendwie ausgewogener.

Verlag: Knaur Taschenbuch
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 2. November 2018 (E-Book: 29. Oktober 2018)
ISBN: 978-3426520765
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

21. Oktober 2018

Jane Harper: Ins Dunkel

Team-Incentives dienen der Mitarbeitermotivation und/oder -belohnung. Sie sollen die Identifikation mit dem Unternehmen steigern, die Stimmung und den Zusammenhalt im Team fördern und Anreize für die Mitarbeiter schaffe, ihr Bestes zu geben. Derartige Events können total lustig sein, manchmal ist die Stimmung aber auch etwas krampfig. So gut wie nie geraten sie aber so aus den Fugen wie in dem folgenden Thriller:


Jane Harpers „Ins Dunkel“ handelt von einem Team-Incentive, das fürchterlich schief geht. Zehn Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BaileyTennants werden, nach Geschlechtern getrennt, für vier Tage auf unterschiedlichen Trekking-Routen durch das australische Giralang-Massiv geschickt. Die Männer kommen noch vor der vereinbarten Zeit am gemeinsamen Ankunftspunkt an, doch von ihren fünf Kolleginnen fehlt jede Spur – noch stundenlang. Schließlich erreichen auch die Frauen ihr Ziel, doch sie sind in einem desolaten Zustand – und nur noch zu viert …

Wo ist Alice Russell? Davon handelt „Ins Dunkel“. Gleich der Prolog stellt klar: „Später waren sich die vier Frauen nur in zwei Dingen einig. Erstens: Niemand hatte gesehen, wie die Wildnis Alice Russell verschluckte. Und zweitens: Alice hatte eine so scharfe Zunge, dass man sich daran schneiden konnte.“

Bald sucht die örtliche Polizei nach der Vermissten, doch nicht nur die. Auch die Kollegen von der Steuerfahndung helfen bei den Ermittlungen. Denn Alice Russell sollte als geheime Informantin dazu beitragen, dunklen Machenschaften von BaileyTennants auf die Spur zu kommen. Steht ihr Verschwinden in irgendeinem Zusammenhang damit? Die Tatsache, dass vor 20 Jahren ein Massenmörder sein Unwesen im Giralang-Massiv getrieben hat, tut es ja sicherlich nicht – oder?

Autorin Harper lässt ihre Leser lange im Dunkeln tappen, während diese wiederum die zunächst noch fünf Frauen auf ihrem Trekking-Trip ins Dunkel begleiten. Kapitelweise wechseln sich die Schilderungen über den Ablauf des Trips und die Ermittlungen des Polizisten Aaron Falk und seiner Kollegin ab. Die Gruppendynamik während des Teamevents und die mühsame Suchaktion in der Romangegenwart lassen einen dabei kaum zu Atem kommen. Vieles scheint möglich, doch was ist wirklich passiert?

„Ins Dunkel“ ist ein atmosphärisch dichter, immens gekonnt geschriebener Thriller, den ich in kürzester Zeit verschlungen habe. Es ist bereits das zweite Buch, in dem Jane Harper ihren Federal Agent Aaron Falk ermitteln lässt. Dabei lässt es sich bestens ohne Vorkenntnisse lesen, macht aber großen Appetit auf ihren Erstling. Harper konzentriert sich auf eine noch überschaubare Anzahl von Figuren, in deren Seelenleben sie einige Einblicke gibt. Die Charakterstudien werden von Kapitel zu Kapitel komplexer und verlieren sich doch nicht in irrelevanten Details. Die psychische Ausnahmesituation der verirrten Frauen ist fast am eigenen Leib zu spüren, die Spannung flacht zu keinem Zeitpunkt ab. Jedem Thriller-Liebhaber nur zu empfehlen – vielleicht aber nicht gerade als Lektüre während eines Wanderwochenendes oder Team-Incentives. Wobei das den Abenteuer-Faktor sicherlich erhöhen würde.

Verlag: Rowohlt Taschenbuch
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 24. Juli 2018
ISBN: 978-3499274732
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

14. Oktober 2018

Andreas Eschbach: NSA

Von diesem Autor hatte ich noch nie zuvor etwas gelesen, mehrere seiner Titel waren mir aber trotzdem ein Begriff. Er hat viele Bestseller geschrieben, einige stehen auch im Romanregal, weil mein Mann sie gekauft und gelesen hat. Ich nicht, mir erschienen sie thematisch immer etwas zu abgedreht. Aber dann habe ich auf der Plattform "Lesejury" des Bastei Lübbe Verlags in den neuesten Roman des Autors reingelesen. Nicht, dass die Geschichte dieses Buches nicht abgedreht wäre - im Gegenteil - , aber sie hat mich sofort dermaßen gepackt, dass ich mich sehr gefreut habe, als ich das Buch im Rahmen einer Leserunde lesen durfte. Und darum geht es:



Was wäre, wenn …


… es im Dritten Reich bereits ein überall verfügbares Internet sowie Big Data gegeben hätte? Ein gruseliger Gedanke, dem sich Autor Andreas Eschbach in seinem neuen Roman „NSA“ auf 796 Seiten widmet – wobei es ihm gar nicht so sehr um die Frage ging, was dann damals passiert wäre. Im Rahmen der Leserunde stellte Eschbach klar, dass ihn vielmehr folgende Überlegung bewegt hat: „Was wäre, wenn heute, da es all das gibt, noch einmal ein solches Regime an die Macht käme?“ Die Antwort, die der Autor in seinem Roman gibt, ist immens verstörend.

„NSA“ beginnt im Februar 1942. Deutschland befindet sich im Krieg, doch das ist nicht der Grund, warum sich das Nationale Sicherheits-Amt (kurz: NSA) in Weimar im Ausnahmezustand befindet. An diesem Tag besucht der zweitmächtigste Mann des Reiches, Heinrich Himmler, die Behörde, um sich ein Bild von ihren Möglichkeiten zu machen. Falls er nicht von der Nützlichkeit des Amtes überzeugt werden kann, droht die Schließung, was für die männlichen Angestellten ohne Zweifel einen Einberufungsbefehl zur Folge hätte. Doch die Mitarbeiter sind vorbereitet, Himmler die Möglichkeiten von Big Data vor Augen zu führen. Und Big Data ist in dieser alternativen Vergangenheit tatsächlich noch weiter als heute, im Jahr 2018: So lassen sich zum Beispiel alle Einkäufe, die eine Person getätigt hat, lückenlos nachvollziehen – zumindest seit dem 1.07.1933, dem Tag, an dem das Bargeld in dem Deutschland dieser Alternativweltgeschichte abgeschafft wurde. Seitdem zahlen alle Bürger mit Geldkarte oder dem sich seit 1934 sprunghaft verbreitenden Volkstelephon (sic!). Über das man übrigens auch ins sogenannte Weltnetz gehen, etwas ins Deutsche Forum schreiben oder Elektropost versenden kann.
Die totale Vernetzung und Überwachung bietet ungeahnte Möglichkeiten. Zum Beispiel wird vor Himmlers Augen live der Frage nachgegangen, ob ein signifikant überdurchschnittlicher Kalorienverbrauch kein Hinweis darauf sein könnte, dass in einem Haus mehr Menschen leben, als offiziell bekannt …

Nach einer eindrücklichen Vorstellung des Nationalen Sicherheits-Amtes und dessen Möglichkeiten nimmt Andreas Eschbach seine Leser dann erst einmal in eine noch ein paar Jahre weiter zurückliegende Vergangenheit mit. Die beiden Hauptfiguren des Romans, Helene Bodenkamp und Eugen Lettke, werden von Kindesbeinen an vorgestellt. Sie, Arzttochter aus gutem Hause, deren beste Freundin jüdische Wurzeln hat und er, stets auf den eigenen Vorteil bedachter Sohn eines Kriegshelden des Ersten Weltkriegs, sind sehr unterschiedliche Charaktere. Ihre Wege kreuzen sich im NSA, wo sie als hochtalentierte Programmstrickerin und er als Analyst eingestellt werden

Der Roman zeichnet das Leben der Protagonisten nach und so findet man sich als Leser wie nebenbei in einer Art alternativem Dritten Reich wieder, das gleichzeitig fremd und vertraut wirkt. Bekannte Namen wie die von Anne Frank, den Geschwistern Scholl und Josef Mengele tauchen auf, doch der Kontext ist teils verändert, das Geschehen nimmt einen anderen Verlauf. Die Romanlektüre fühlt sich an, als hätte Eschbach die bekannten Fakten mit den heutigen technischen Möglichkeiten in eine Rührschüssel gegeben und alles kräftig durchgemixt. Dann fügt er noch eine ordentliche Prise „worst case“ hinzu. Heraus kommt ein Roman, der es in sich hat, weil er sich nachvollziehbar liest und das Gedankenexperiment immer weiter auf die Spitze treibt. Die Handlung nimmt mehr und mehr an Fahrt auf. Immer, wenn man sich an die verstörenden Gegebenheiten halbwegs gewöhnt hat, setzt der Autor noch einen drauf – und noch einen, und noch einen. Mitunter ist es schwer auszuhalten – gerade weil das Ganze so glaubwürdig scheint. Die beschriebene Technik und was sie ermöglicht, das ganze fiktionale Konstrukt ist immens durchdacht. Eschbach schont weder seine Figuren noch seine Leser. Mir war bis zum Ende nicht klar, wo das alles hinführen würde und nach dem Romanende musste ich erst einmal wieder zu mir finden. „NSA“ ist eine ganz klare Warnung vor dem Unvorstellbaren – das nach der Lektüre gar nicht mehr so unvorstellbar scheint, weil der Autor die existierende Vergangenheit mit bereits mehr oder weniger existierender und angewandter Technologie verknüpft hat. Bedenkt man, dass er eigentlich verdeutlichen wollte, was wäre, wenn ein derartiges Regime heute an die Macht käme, wird aus der Alternative History fast eine Dystopie. In jedem Fall hallt die Geschichte nach und sensibilisiert in Bezug auf den Umgang mit Daten. Keine Feelgood-Lektüre, aber eine, die das Zeug hat, die eigene Perspektive zu verändern und den Blick zu schärfen – durch eine furchtbare Ahnung davon, dass vermutlich nichts undenkbar oder unmöglich ist.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 800
Erscheinungsdatum: 28. September 2018
ISBN: 978-3785726259
Preis: 22,90 € (E-Book: 16,99 €)

9. Oktober 2018

Katja Lange-Müller: Drehtür

Am Mittwoch beginnt die Frankfurter Buchmesse! Leider wieder ohne mich. Aus der Ferne habe ich aber natürlich verfolgt, wer gestern den Deutschen Buchpreis 2018 erhalten hat: Nicht Maxim Biller und seine „Sechs Koffer“, sondern Inger-Maria Mahlke mit "Archipel". Diesen rückwärts erzählten Roman habe ich bislang nicht gelesen, hoffe aber, das bald nachholen zu können.

Trotzdem bin ich am vergangenen Wochenende noch halbwegs in der Buchpreis-Thematik geblieben mit der Lektüre eines Buches, das immerhin auf der Longlist stand – allerdings schon 2016. Nachdem es in diesem Sommer im Taschenbuch erschienen ist, hatte ich zugegriffen.


Eine „Drehtür“ spielt eine wesentliche Rolle in dem gleichnamigen Roman von Katja Lange-Müller. Würde man ihn als Theaterstück inszenieren oder gar verfilmen, wäre sie der bedeutendste Teil der Kulisse. Denn Hauptfigur Asta Arnold bewegt sich kaum von ebendieser Drehtür weg, die sie aus dem Gebäude des Münchener Flughafens zu einem Aschenbecher geführt hat, wo sie nun eine Camel nach der anderen raucht. Die Ich-Erzählerin kommt gerade aus Nicaragua, wo sie als Krankenschwester für eine internationale Hilfsorganisation gearbeitet hat, bis sie ihre Arbeitgeber mit einem One-Way-Ticket nach Deutschland in den unfreiwilligen Ruhestand schickten. Da steht die Gestrandete nun und kommt irgendwie nicht mehr vom Fleck. Was bleibt der ewigen Helferin noch, wenn ihre Hilfe nicht mehr erwünscht ist? Asta Arnold raucht und lässt ihren Gedanken freien Lauf; und so liest sich der gesamte Roman wie ein einziger Stream of Consciousness. Immer wieder fallen der Protagonistin Reisende, im Flughafen Angestellte und einmal sogar eine Katze ins Auge, die in ihr Erinnerungen an frühere Wegbegleiter auslösen – teils so starke Erinnerungen, dass sie glaubt oder glauben will, vielleicht sogar diese alten Bekannten selbst am Münchener Flughafen zu sehen. Doch sie spricht keinen von ihnen an, stattdessen raucht sie und denkt an vergangene Zeiten. Einige ihrer Erinnerungen sind so ausführlich, dass sie fast Kurzgeschichtencharakter haben, andere bleiben Fragmente. Sie führen zu nichts, außer zu neuen Beobachtungen und neuen Geschichten. Asta Arnold blickt auf ein bewegtes Leben zurück, das man als Leser doch nur sehr auszugsweise kennenlernt, weil sie an das, was ihr nicht genehm ist, nur kurz oder gar nicht denken mag, eventuelle Zusammenhänge für sich behält. Und obwohl die Figur dadurch nicht komplett erfassbar wird, wächst sie einem irgendwie ans Herz und man wünscht sich fast, man könnte sie von dieser Drehtür wegführen, in der Hoffnung, das könnte Asta dazu bringen, nach vorne zu blicken. Denn wie die Tür kreist die Protagonistin seit ihrer Ankunft am Flughafen nur um sich selbst, ohne Ziel. Ob sie den Absprung schließlich schafft, sei hier nicht verraten.

„Drehtür“ ist in einem saloppen, trotzig-starken Ton geschrieben, durch den man sofort eine Beziehung mit der aus Nicaragua Entlassenen aufbaut. Man taucht mit ihr in ihre Erinnerungen ein und am Ende auch wieder daraus hervor. Nach der Lektüre fragte ich mich leicht desorientiert, was das jetzt war und kann diese Frage kaum beantworten. Aber ich habe Asta Arnold gerne Gesellschaft an ihrer Drehtür geleistet und werde an die ein oder andere ihrer Anekdoten sicher noch einmal zurückdenken.

Verlag: FISCHER Taschenbuch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 11. August 2016 (Hardcover-Ausgabe)
ISBN: 978-3596298891
Preis: 11,00 € (E-Book: 10,99 €)

5. Oktober 2018

Maxim Biller: Sechs Koffer

In drei Tagen (am Montag, den 8.10.) wird bereits der Deutsche Buchpreis 2018 verliehen. Ich habe keinen Favoriten für den Preis, allerdings habe ich leider auch nur eines der Bücher von der diesjährigen Shortlist gelesen. Dieses war für mich jedoch schon einmal nicht der beste deutschsprachige Roman des Jahres. Es ist zwar virtuos geschrieben, hat mich aber seltsam kalt gelassen.


Maxim Billers „Sechs Koffer“ ist ein schmales Bändchen von ungefähr 200 Seiten, die der Autor bestens nutzt. Er fächert in seinem Roman eine Familiengeschichte auf, in die der Leser 1965 ein- und 2016 wieder aussteigt. Der Ich-Erzähler ist 1960 in Russland geboren und verbringt seine frühe Kindheit in Prag, bevor seine Familie 1970 nach Westdeutschland zieht. Die Parallelen zu seinem Schöpfer Maxim Biller sind offensichtlich: Beide sind im gleichen Jahr geboren (Biller allerdings in Prag), beide sind Kinder russisch-jüdischer Eltern und beide kommen im Alter von 10 Jahren in die BRD. Selbst die Namen der Mutter und Schwester sind gleich (Rada und Elena/Jelena). Trotzdem ist der Roman nicht autobiografisch, Biller selbst stellt in seinem Einzelportrait für den Deutschen Buchpreis klar, dass er Fakten und Fiktion wild durcheinandergewirbelt hat: „Dagegen ist […] ein Eintopf nichts […] und ich kann Ihnen nur eins sagen: Die meisten Sachen, die in diesem Buch erzählt werden, sind komplett erfunden.“

Und so bleibt zumindest zu hoffen, dass Billers eigener Opa nicht 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde, wie der seines Ich-Erzählers. Dieser verdächtigt ein enges Familienmitglied, den Großvater denunziert zu haben – bzw. werden nach und nach sogar mehrere Familienmitglieder verdächtigt. Wie nebenbei wird die Großfamilie knapp porträtiert: Neben dem Vater, der Mutter und der Schwester gibt es noch drei Onkel und eine angeheiratete Tante. Im Hintergrund spielen sich kleinere Erlebnisse rund ums Erwachsenwerden ab. Das Ganze ist gut lesbar, sprachlich schön erzählt und vom Ton her meist reduziert-lakonisch. Berührt hat mich der Text jedoch kaum. Wirklich mitfühlen konnte ich mit keiner der relativ blass bleibenden Figuren, ich fand zwar einige von ihnen durchaus interessant, aber nicht so nahbar, dass mich ihr Wohl und Wehe irgendwie bewegt hätten. So ähnlich ging es mir auch mit Biller, wenn ich ihn früher in der Sendung „Das Literarische Quartett“ sah, wo „Sechs Koffer“ übrigens am 10. August 2018 besprochen wurde.
Nachdem ich den Roman gelesen hatte, habe ich mir die Sendung angeschaut und teile den Wunsch der Autorin Sasha Marianna Salzmann, die zu Gast war: „Ich würde mir wünschen, dass ich mich in die Figuren hineinversetzen kann.“ Thea Dorn ergänzt später: „Maxim Biller geht dem unendlichen Schmerzpotential, das in dieser Geschichte steckt, nicht wirklich nach.“ Beides geht für mich Hand in Hand: Dadurch, dass bei den Figuren anscheinend nur an der Oberfläche gekratzt wird, bleibt die Erzählung ziemlich emotionslos, obwohl es angesichts der Handlung und Protagonisten so viel mehr Möglichkeiten gegeben hätte.

Stellenweise habe ich mich gewundert, welche belanglosen Anekdoten in diesen kurzen Text Einzug fanden – die flüchtige Zugbekanntschaft mit Hormonstau zum Beispiel, der unbedeutende Kuss der Cousine. Handlungsstränge von offensichtlich größerer Bedeutung wurden dagegen nicht auserzählt. Wie durch Zeiten und Orte gejagt wird, kann als kunstvoll bezeichnet werden, aber mehr wäre an dieser Stelle tatsächlich mehr gewesen, finde ich. Ich hatte mir auf jeden Fall mehr versprochen, nachdem ich Biller als scharfen Kritiker kennengelernt hatte. Aber, um hier doch tatsächlich mal Dr. Eckart von Hirschhausen zu zitieren: „Der Wegweiser muss den Weg nicht mitgehen“ … Die „Sechs Koffer“ sind kein schlechtes Büchlein, hinterlassen aber keinen bleibenden Eindruck bei mir. Ob sie wohl am kommenden Montag den wichtigsten Literaturpreis Deutschlands gewinnen werden? Ich bin sehr gespannt.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 208
Erscheinungsdatum: 8. August 2018
ISBN: 978-3462050868
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

28. September 2018

Agatha Christie: And then there were none

Diesen absoluten Klassiker habe ich vor ca. 18 Jahren schon einmal gelesen – damals allerdings auf Deutsch und noch unter dem Titel „Zehn kleine Negerlein“. Als „Ten little Niggers“ wurde der Roman im Jahr 1939 in England erstveröffentlicht, doch schon als er 1940 in den USA erschien, wählte man als Titel „And then there were none“ – laut Wikipedia „mit Rücksicht auf die afroamerikanische Bevölkerung“, was mich positiv überrascht hat: Ich hätte gar nicht gedacht, dass damals schon sprachliche Rücksicht genommen wurde. Ab 1985 wurde der amerikanische Titel auch in Großbritannien verwendet.
Die Titelhistorie im deutschsprachigen Raum liest sich fast diametral: Die deutsche Erstveröffentlichung geschah unter dem Titel „Letztes Weekend“ im Jahr 1944, doch ab 1982 wurde der Krimi unter dem Titel „Zehn kleine Negerlein“ veröffentlicht. Während man sich also in den 1980er Jahren überall im englischsprachigen Raum vom Originaltitel verabschiedete, wurde er im deutschsprachigen Raum erst eingeführt. 2003 stieg man dann auch hierzulande auf „Und dann gabs keines mehr“ um.
Sowohl alter als auch neuer Titel verweisen auf einen Abzählreim, der in diesem Krimi eine bedeutende Rolle spielt – in der aktuellen englischen Ausgabe ist allerdings von „Ten little soldiers“ die Rede.


„And then there were none“ gilt als erfolgreichster Krimi aller Zeiten, laut Wikipedia wurden 100 Millionen Exemplare verkauft. Ich würde ihn jedem empfehlen, der noch nichts von der Queen of Crime gelesen hat, aber zumindest einmal in ihr umfangreiches Werk hineinschnuppern will. Hier gibt es keine Miss Marple, keinen Hercule Poirot, keine Anspielungen auf ältere Werke, nur einen meisterhaft konstruierten Fall mit einer glasklaren Ausgangssituation und einer schlüssigen, aber meiner Meinung nach unmöglich zu erratenden Auflösung. Obwohl Agatha Christie „And then there were none“ bereits vor 80 Jahren geschrieben hat, hat die Geschichte nichts von ihrer Spannung eingebüßt. Die Grundidee ist so einfach wie fesselnd: Zehn einander unbekannte Menschen werden unter verschiedenen Vorwänden in eine Luxusvilla auf einer kleinen, einsamen Insel gelockt. Nach dem ersten Abendessen findet die gute Stimmung ein jähes Ende: Eine zuerst nicht zuordbare Stimme verliest zehn Anklagen – jeder der Anwesenden wird mit einem ungesühnten Tötungsdelikt in Verbindung gebracht. Schock und Empörung sind groß, man ist sich schnell einig, die Insel am nächsten Morgen wieder verlassen zu wollen. Doch ein Sturm zieht auf und schon einer der Anwesenden wird nicht mal mehr diesen ersten Abend überleben …

Beim Wiederentdecken des Krimis musste ich an einen anderen denken, den ich vor ein paar Monaten gelesen habe. Die Autorin hat sich eventuell sogar von Agatha Christie inspirieren lassen; sie schilderte ein Klassentreffen in einer abgelegenen Hütte im Wald, bei der gleich mehrere der ehemaligen Klassenkameraden nach und nach ermordet werden. Dieser Krimi hatte mich ziemlich enttäuscht: Er war verworren, überladen und die Auflösung am Ende einfach billig. Der Unterschied zu „And then there were none“ ist wie Tag und Nacht: Agatha Christie geht sehr reduziert vor. Die Anzahl der handelnden Figuren ist überschaubar, über das Leben der einzelnen Protagonisten erfährt man nur so viel wie nötig. Auch der Schauplatz ist schnell beschrieben, selbst der unbekannte Mörder macht seine Absichten relativ deutlich klar. Und dennoch tappt man als Leser komplett im Dunkeln – bis zur Auflösung. Diese ist höchst raffiniert, schlüssig durchdacht und glaubwürdig. Und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass man von alleine darauf kommen kann – ganz großes Kino! Dessen war sich auch die Autorin bewusst; der englischen E-Book-Ausgabe ist eine Notiz von ihr vorangestellt: „I had written this book because it was so difficult to do that the idea had fascinated me. […] I wrote the book after a tremendous amount of planning, and I was pleased with what I had made of it. It was clear, straightforward, baffling, and yet had a perfectly straightforward explanation […] It was well received and reviewed, but the person who was really pleased with it was myself, for I knew better than any critic how difficult it had been.”

“And then there were none” war Agatha Christies 26. Krimi. Sie schrieb ihn also mit großer Erfahrung und ihre Einschätzung des Textes zeugt von einem gesunden Selbstbewusstsein. Ich kann nur sagen: zu Recht!

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 400
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 3. März 2003, der Krimi an sich erschien jedoch am 6. November 1939 erstmals.
ISBN: 978-0007136834
Preis: 5,99 € (E-Book: 5,99 €)

24. September 2018

Rachel Khong: Das Jahr, in dem Dad ein Steak bügelte

Als wirklichen Nachteil von E-Books empfinde ich nach wie vor den Verlust der Haptik und die auf Readern in der Regel öde wirkende Darstellung von Buchcovern. Beim folgenden Titel fehlte das Cover sogar komplett, was eventuell daran lag, dass ich die Buchdatei nicht gekauft, sondern als Leseexemplar zur Rezension bekommen habe. In jedem Fall ist es schade, denn das Buch hat einen sehr farbenfrohen, fröhlichen Titel, was auf dem Handy zumindest ansatzweise rauskommt.


„Das Jahr, in dem Dad ein Steak bügelte“ erzählt genau das, was der Titel verspricht: Das Jahr im Leben der 30-jährigen Kalifornierin Ruth, in dem sie noch einmal zu Hause einzieht, und in dem ihr Vater schließlich versucht, auf ungewöhnliche Art und Weise ein Steak zuzubereiten. Grund dafür ist, dass er sich an die herkömmliche Zubereitungsart zumindest in diesem Moment nicht mehr erinnert. Ruths Vater, ein ca. 60 Jahre alter, erfolgreicher Geschichtsprofessor, ist an Alzheimer erkrankt. Als ihre Mutter sie an Weihnachten bittet, das nächste Jahr noch einmal zu Hause einzuziehen, hat die Tochter gerade den Boden unter den Füßen verloren; ihr Verlobter hat sie verlassen. Nach eigenem Empfinden sitzt sie im „Boot der Unverheirateten, Karrierelosen. Das eher eine Art Kanu ist.“ Sie braucht einen Neuanfang und kommt dem Wunsch ihrer Mutter nach. Das Jahr in ihrem Elternhaus beschreibt sie in knappen, tagebuchartigen Einträgen. Rachel Khongs Stil fand ich dabei sehr besonders: Sie lässt ihre Ruth fragmentarisch erzählen, in lakonischer Kürze teilt sie kleine Episoden aus ihrem Alltag mit. Sie beschreibt ihre Erlebnisse sachlich und kurz, viele Einträge umfassen maximal eine Seite. Und trotzdem schwingen Tragik, aber auch Komik, Trauer und Freude bei jeder Schilderung leise mit. Es geht dabei längst nicht nur um die Krankheit des Vaters, es geht um Familie, Liebe, Freundschaft, begangene Fehler und die Verarbeitung von unwiderruflich Vergangenem. Ihr reduzierter Stil hindert Rachel Khong in keinster Weise daran, ein ganzes Spektrum von Gefühlen auszudrücken, das hat mir sehr gefallen. Ruth ist keine ganz unsperrige Protagonistin, sie hat eine Reihe von mehr oder weniger liebenswerten Marotten, unter anderem sammelt sie Mandeln, die ungewöhnlich geformt sind und unnützes Wissen. Sie hat einen ungewöhnlichen Blick auf die Dinge: „Ich sah mir das Steak an und stellte fest, wie wunderbar du es angebraten hattest. Ich briet die andere Seite in einer Pfanne und dann salzten und aßen wir es.“

Auch wenn sie – wie sämtliche Romangeschehnisse – nicht detailliert beschrieben werden, schimmern die schweren Momente durchaus durch. Doch Khong lässt ihre Ich-Erzählerin nie ihre Leichtigkeit verlieren. Und so liest sich auch dieser Roman zwar durchgängig leicht, berührt dabei aber trotzdem tief. Ein schönes Buch.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 7. September 2018
ISBN: 978-3462049725
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

19. September 2018

Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen

Meist lese ich Romane, weil mich der Klappentext anspricht und die Handlung interessiert. Ein anderer Grund kann sein, dass ich den Autor bereits kenne und schätze. Manchmal ist auch das Cover ausschlaggebend. Bei diesem Buch hier gab es jedoch einen anderen Auslöser: Ich hatte das Gefühl, ich sollte lesen, was die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung als den „Ost-Roman des Moments“ und der stern als einen „der besten und wichtigsten Romane des Jahres“ bezeichnet hat. Ich hoffte, es würde mir helfen, zu verstehen; eine Antwort darauf zu finden, wer solche Menschen sein können, was sie geprägt hat: sich abgehängt fühlende „besorgte Bürger“, AFD-Wähler, hasserfüllte Rechtsextremisten.


Lukas Rietzschels Debüt „Mit der Faust in die Welt schlagen“ handelt vom Leben der sächsischen Familie Zschornack und schildert das Heranwachsen der Söhne Philipp und Tobias. Die Handlung beginnt im Jahr 2000 auf einer Baustelle, auf der gerade das neue Eigenheim der Zschornacks gebaut wird. Tobias ist ungefähr fünf Jahre alt, Philipp geht bereits in die Grundschule, der Vater arbeitet als Elektriker, die Mutter als Krankenschwester. Diese Ausgangssituation wirkt eigentlich hoffnungsvoll, und doch schwingt bereits auf jeder Seite eine gewisse Trostlosigkeit mit, die sich durch den gesamten Roman zieht. Eine Trostlosigkeit, die auch die Kinder schon zu spüren und in sich aufzunehmen scheinen. Die stillgelegte und langsam verfallende Ziegelesse in der Nachbarschaft. Arbeiter mit Ausbildungen, die nichts mehr wert sind. Das abschätzige Gerede über die Sorben, deren Sprache man nicht versteht. Der Kollege des Vaters, dessen Frau allein in den Westen gezogen ist und über den sich das Gerücht hält, er wäre Stasi-Spitzel gewesen.

Die Coming-of-Age-Geschichte von Philipp und Tobias zieht sich in drei großen Zeitabschnitten bis ins Jahr 2015. Kindheit und Jugend werden in einer losen Abfolge vor allem kleinerer Ereignisse geschildert. Sie verlaufen weder besonders glücklich noch besonders unglücklich; es gibt steife Familienfeiern und Misserfolge in der Schule – so weit, so normal. Prägend scheint jedoch eine gewisse Sprachlosigkeit in der Familie zu sein, die sich durch alle Generationen zieht. Die Großeltern schweigen, die Eltern schweigen. Die Kinder schweigen irgendwann auch, nachdem ihre Fragen zu lange unbeantwortet geblieben sind. In der Familie Zschornack wird über den Alltag gesprochen, aber nicht über die Vergangenheit. Nicht über Gefühle, nicht über Perspektiven, nicht über Zukunftsträume. Letztere gibt es wohl gar nicht; die Eltern scheinen schon vor langer Zeit resigniert zu haben und diese Resignation unbewusst an beide Kinder weiterzugeben. Man fühlt sich klein, man macht sich klein. Für die Söhne funktioniert das irgendwann nicht mehr.

Rietzschel, 1994 in Ostsachsen geboren und damit ungefähr im gleichen Alter wie seine Protagonisten, macht in seinem Erstling Macht- und Mutlosigkeit greifbar. Beides scheint sich von einer Generation auf die andere zu übertragen. Einige Figuren begehren dagegen auf, was aber nicht bedeutet, dass sie sich aktiv um ein besseres Leben bemühen. Stattdessen reift der Wunsch, „Mit der Faust in die Welt schlagen“ zu wollen. Es wird plausibel dargestellt, wie manche Jugendliche ihr Ventil finden: sich zusammenrotten, Stärke durch Einschüchterung Schwächerer demonstrieren. Andere flüchten sich in Alkohol und Drogen, das Glück scheint es nur im verhassten Westen zu geben, wo die Gutmenschen leben, die man nicht kennt und auch nicht kennenlernen will. Die Wut wächst, wenn man sich ungeliebt und vergessen fühlt. Der Hass auf das Fremde ist endlich ein Gefühl, über das man reden kann; die Fremden sind Menschen, denen man sich endlich mal überlegen fühlt. Es liest sich bedrückend in seiner Nachvollziehbarkeit.

Ich habe in diesem Roman nach dem einen Punkt gesucht, der der Wendepunkt war – der, an dem die Dinge hätten anders verlaufen können, wenn vielleicht ein, zwei Parameter anders geartet gewesen wären. Ich konnte ihn nicht finden. „Mit der Faust in die Welt schlagen“ lässt mich daher teils ratlos zurück. Und doch habe ich Einblicke in Denkweisen bekommen, die mir unbekannt waren, habe eine bessere Idee davon erhalten, was Trost-, Macht-, Mut- und Perspektivlosigkeit mit einem machen können. Lukas Rietschel hat einen Roman geschrieben, der nicht wertet, der keine Lösungen aufzeigt, der es dem Leser nicht leicht macht. Aber er klingt nach.

Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 7. September 2018
ISBN: 978-3550050664
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

9. September 2018

Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer

Praktisch jeder, dem ich in den letzten Tagen erzählte, dass ich gerade das neue Buch von Isabel Allende lese, verband diesen Namen mit ihrem vor 36 Jahren erschienen Debüt "Das Geisterhaus". Ihr erster und ihr neuester Roman haben (wie vielleicht sogar alle Bücher von Allende?) einiges gemein: Sie handeln von starken Frauen, sind spirituell angehaucht, spielen zumindest teilweise in Lateinamerika und wurden an einem 8. Januar begonnen. Isabel Allende beginnt zwar nicht jährlich, aber nie an einem anderen Datum mit einem neuen Roman. Was für eine ungewöhnliche Tradition!


Ich hatte noch nie zuvor ein Buch von Isabel Allende gelesen, obwohl sich "Das Geisterhaus" sogar in meinem Romanregal findet. Schon die Ausgangssituation von „Ein unvergänglicher Sommer“ zog mich aber gleich in ihren Bann. Eine eiskalte Winternacht in New York bringt drei höchst unterschiedliche Personen zusammen: Den Universitätsprofessor Richard, seine chilenische Untermieterin Lucia und die Guatemaltekin Evelyn, die sich illegal in den USA aufhält. Eine der drei genannten Figuren hat im wahrsten Sinne des Wortes eine Leiche im Kofferraum, die diese neugebildete Schicksalsgemeinschaft notgedrungen zusammen loswerden will. Ein Roadtrip beginnt – kurz nach einem Jahrhundertschneesturm. Und wird das Leben von Richard, Lucia und Evelyn für immer verändern.

Anfangs war ich irritiert, dass mich die Autorin wiederholt aus diesem Roadtrip herausriss. Kapitelweise widmet sie sich immer wieder der Vergangenheit ihrer Protagonisten, die schließlich mehr Raum einnimmt als die eigentliche Geschichte in der Romangegenwart. Von dieser wird man als Leser schon sehr weit weggeführt, wenn man sich z.B. in Evelyns Kindheit vertieft. Sie wächst in extrem ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Großmutter auf, einer starken und liebevollen Frau, doch als ihr ältester Bruder sich einer Gang anschließt, brechen sich entsetzliche Ereignisse Bahn. Evelyn als jüngste der drei Hauptfiguren hat schon so viel erlebt, dass es für einen eigenen Roman gereicht hätte und so ist es dann auch ein langer Weg, bis ihre Vergangenheit schließlich mit der Gegenwart zusammengeführt wird. Gleiches gilt für die anderen beiden Protagonisten: Auch ihr bewegtes Leben wird detailliert erzählt. Allende ist eine wahre Meisterin der Beschreibung menschlicher Schicksale, doch an manchen Stellen war mir die Häufung persönlicher Unglücksfälle dann doch zu viel und schien mir auch etwas übertrieben – der Verzicht auf ein, zwei Schicksalsschläge hätte dem Buch vielleicht noch besser getan. Stellenweise kam mir „Ein unvergänglicher Sommer“ überladen vor, aber das gab sich im letzten Buchdrittel, in dem sich alles federleicht zusammenfügt. Die Autorin versteht ihr Handwerk, auch die Sprache des Romans ist durchgängig schön und bei ihrer Schilderung der Romangegenwart hat sie sich außerdem noch einen feinen Humor erlaubt, der dem Buch immer wieder die Schwere nimmt. Allende schafft es, ihre Leser gleich in mehrere Welten zu entführen, die auch noch völlig unterschiedlich sind. Sie legt dabei ihren eigenen Spannungsbogen immer wieder brach, weswegen ich mich gelegentlich zum Weiterlesen aufraffen musste, doch insgesamt hat mir dieser vielschichtige und dramatische Roman gefallen.

Verlag: Suhrkamp
Seitenzahl: 350
Erscheinungsdatum: 13. August 2018
ISBN: 978-3518428306
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

31. August 2018

Didi Drobna: Als die Kirche den Fluss überquerte

Manche Bücher machen etwas mit einem, und dieses Buch gehört dazu. Es hat mich nachhaltig berührt und obwohl ich seinen Anfang als etwas sperrig empfunden habe und mir die Hauptfigur lange fremd blieb, war ich am Ende extrem angetan. Ein intensives Leseerlebnis und ein Roman, der die Seele berührt.


„Als die Kirche den Fluss überquerte“ ist eine in zwei Teile zerfallende Familiengeschichte. Sie kreist um die beiden tiefen Einschnitte im Leben des Ich-Erzählers Daniel, die zusammenhanglos relativ dicht aufeinanderfolgen – oder besser gesagt: Der Ich-Erzähler selbst kreist um diese zwei Ereignisse und der Leser dreht sich gezwungenermaßen mit. Während der ersten Romanhälfte fühlte ich mich teils wie auf einem Karussell, aus dem es keinen Ausstieg gab, das änderte sich dann jedoch abrupt. Aber der Reihe nach.

Zu Beginn des Buches trennen sich Daniels Eltern, scheinbar aus heiterem Himmel, was ihn schwer trifft. Der Sohn hat immense Schwierigkeiten, mit der neuen Situation klarzukommen. Die Familie scheint sein einziger Lebensinhalt zu sein: Freunde spielen keine Rolle, auch Hobbys, eine Ausbildung oder ein Studium werden nicht erwähnt. Tatsächlich hat sich mir lange nicht erschlossen, was der Protagonist den lieben langen Tag macht, und das fand ich höchst erstaunlich, ist er doch bereits zu Beginn des Buches 20 Jahre alt. Diese Altersangabe konnte ich lange nicht mit seinem Denken und Fühlen in Einklang bringen. Nicht nur aus diesem Grund blieb mir Daniel über viele Kapitel fremd – doch das änderte sich in Folge des zweiten lebensverändernden Ereignisses, das der Hauptfigur widerfährt. Daniels Mutter Lieselotte erkrankt schwer und ohne Hoffnung auf Genesung und plötzlich wurde das Gefühlschaos des Protagonisten absolut nachvollziehbar dargestellt. Hatte ich vorher das Gefühl, dass die Autorin keinen komplett stimmigen Ton traf, fuhren mir Trauer, Verzweiflung, Angst und Wut plötzlich in einer unterwarteten Intensität unter die Haut. Sprachlich steht der erste Teil dem zweiten in nichts nach, aber die Schönheit von Didi Drobnas Formulierungen konnte ich erst komplett würdigen, als ich mich nicht mehr unwillkürlich fragte, was mit dem Ich-Erzähler bloß nicht stimmt.

Was beide Teile eint, sind die kapitelweise eingefügten Anekdoten aus Daniels Kindheit, in denen er sich an Ereignisse erinnert, die ihn und die ganze Familie geprägt haben. Passend zum Buchcover ging mir der Refrain eines Popsongs der Künstlerin Pink durch den Kopf: „In our family portrait we look pretty happy, we look pretty normal, let’s go back to that.“ Daniel sehnt sich nach einer unwiderruflich vergangenen Zeit, nach der vermeintlich heilen Welt seiner Kindheit. Seine Erinnerungen waren von Beginn an packend geschildert und halfen mir anfangs über die unreife Jammergestalt hinweg, die er in der Romangegenwart abgab. Überhaupt hat Autorin Drobna ein Händchen für die Schilderung von kuriosen, tragikomischen Geschichten; so, wie sie auch Emotionen sehr greifbar in Worte fasst. Bei der Beschreibung dramatischster Krisen läuft sie zu Höchstform auf. „Als die Kirche den Fluss überquerte“ liest sich nicht einfach so weg, es hinterlässt Spuren. Am Ende war ich mit der Hauptfigur völlig versöhnt und kann mir überdies vorstellen, den Roman irgendwann noch ein zweites Mal zu lesen. Es ist ein weises Buch über Familie, Beziehungen und Gefühle und nicht nur Daniel wächst an seinen schmerzhaften Erfahrungen, sondern nimmt die Leser des Romans auch in dieser Beziehung mit.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 1. August 2018
ISBN: 978-3492059206
Preis: 20,00 € (E-Book: 18,99 €)

27. August 2018

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin

Gerade habe ich festgestellt, dass ich innerhalb der letzten zwölf Monate fünf dystopische Romane gelesen habe, wovon vier von deutschen Autorinnen geschrieben wurden. Erfreuen sich Dystopien momentan besonderer Beliebtheit in Deutschland? Entwickeln Frauen eher düstere Zukunftsvisionen als Männer? Oder kommt mir das alles nur so vor, weil ich sie mir unbewusst rauspicke? Auf diese Fragen habe ich bislang keine Antworten - fest steht nur, dass ich z.B. Juli Zehs "Leere Herzen" und Zoë Becks "Die Lieferantin" sehr gerne gelesen habe und sich Julia von Lucadou mit ihrem Debüt nicht dahinter verstecken muss - auch wenn es wieder ganz anders ist als die genannten Romane, aber gerade das macht ja den Reiz aus.


Wie könnte sich unsere Welt irgendwann einmal entwickeln? Autorin Julia von Lucadou gibt auf diese Frage eine ziemlich düstere Antwort. Dabei leben die, die es geschafft haben, in ihrer Dystopie „Die Hochhausspringerin“ in einer funkelnden Stadt voller strahlender Wolkenkratzer. Ihr Leben ist perfekt durchorganisiert und hocheffizient geregelt. Die Erfolgreichen gehen den Jobs nach, für die sie am besten geeignet sind, treffen die potentiellen Beziehungspartner, die ein Algorithmus für sie auswählt und betreiben zur Entspannung ein eigens auf den Einzelnen zugeschnittenes Fitness- und Meditationsprogramm. Das Leben in der Stadt könnte leicht sein – wenn man sich nach den Wünschen des Systems optimiert steuern lässt. Gerade das aber verweigert Riva, eine seit ihrer Kindheit höchst erfolgreiche Hochhausspringerin, von einem Tag auf den anderen. Sie will ihrem Hochleistungssport – Sprünge von Wolkenkratzern im Flysuit, Performances von akrobatischen Figuren im freien Fall und Wiederaufschwingen in der letzten Millisekunde vor dem Aufprall – nicht weiter nachgehen und lässt sich auch von dem drohenden Verlust ihrer Privilegien nicht umstimmen. Die Wirtschaftspsychologin Hitomi wird auf Riva angesetzt und versucht, unter anderem durch lückenlose Videoüberwachung – die in dieser schönen neuen Welt quasi zum Standard gehört – die Motive der Sportlerin zu ergründen. Sie gerät dabei mehr und mehr unter Druck, denn was Riva in ihrer Lethargie nicht zu schrecken scheint – eine Ausweisung aus der Stadt und ein Leben in den Peripherien mit all denjenigen, die es (noch) nicht geschafft haben – ist für Hitomi ein absoluter Alptraum, der jedoch wahr zu werden droht, wenn sie ihren Auftrag, Riva wieder auf Spur zu setzen, nicht erfüllt.

„Die Hochhausspringerin“ handelt von diesen beiden unterschiedlichen Frauen. Ihre geschilderte, in allen Bereichen durchoptimierte Realität ist quasi Beiwerk, sie wird nicht groß vorgestellt, sondern eröffnet sich dem Leser nur nach und nach durch Randbemerkungen. Gerade das fand ich extrem gelungen; zwar ist das System dadurch nicht komplett durchschaubar, aber als Leser erfährt man genug, um die Geschichte nachzuvollziehen – und sich bei dem Gedanken, dass es wirklich mal so kommen könnte, gehörig zu gruseln. Braucht Hitomi ein paar freundliche Worte, ruft sie einen „Mutterbot“ an – eine Hotline, bei der eine Computerstimme auf Wunsch die liebevollen Reaktionen einer besorgten Mutter imitiert. Trifft sie einen potentiellen Partner, folgt danach die gegenseitige Bewertung im Internet. Kommt sie übermüdet zur Arbeit, ist ihr Chef schon über die Dauer und Erholsamkeit ihres Schlafes informiert. Lucadou hat einen absoluten Überwachungsstaat entworfen – zum Wohle der Gesellschaft und zum Besten des jeweiligen optimierten Individuums. Oder?

Die Dystopie bringt zum Nachdenken: Bringt Perfektion Glück? Wie wichtig ist die Freiheit des Einzelnen? Was macht ein gelungenes Leben aus? Ich fand dieses Gedankenexperiment hochspannend und habe die Entwicklung der Protagonisten gebannt verfolgt. Es bleibt die Frage, wie gut man selbst darin wäre, sich an ein derartig lückenlos optimiertes Leben und ein rein leistungsorientiertes System anzupassen. Und die Erkenntnis, dass das gar nicht in allen Bereichen so weit weg ist, wie man hoffen würde.

Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 23. Juli 2018
ISBN: 978-3446260399
Preis: 19,00 € (E-Book: 14,99 €)

8. August 2018

Alexa Hennig von Lange: Kampfsterne

Mit ihrem Erstling „Relax“ hat Alexa Hennig von Lange die deutsche Popliteratur Ende der 1990er Jahre mitbegründet, und seitdem ist sie mir auch irgendwie ein Begriff, obwohl ich noch nie etwas von ihr gelesen hatte – es hat sich irgendwie nicht ergeben. Diesen Monat erscheint ihr neuester Roman, die Beschreibung klang vielversprechend und ich war sehr gespannt, als ich durch „Vorablesen“ die Möglichkeit bekam, ihn – wie der Name schon sagt – vor dem Erscheinungstermin zu lesen.


Die Verlagsankündigung von „Kampfsterne“ beginnt wie folgt: „1985 – Es ist ein verrückter, heißer Sommer, in dem Boris Becker Wimbledon gewinnt, vier Passagierflugzeuge innerhalb eines Monats abstürzen, alle großen Rockstars bei Life Aid für das hungernde Afrika singen und in einer Siedlung am Rand der Stadt drei Familien zu zerbrechen drohen.“
Das Buch machte mich neugierig, weil ich mehr über den verrückten, heißen Sommer 1985 erfahren wollte – ich dachte, es könnte spannend sein, mit Hilfe dieses Romans in diese Zeit einzutauchen. Boris Becker und Life Aid werden allerdings nur sehr am Rande erwähnt und über den Absturz der vier Passagierflugzeuge habe ich eigentlich gar nichts gelesen. Stattdessen kreist das Buch allein um die erwähnten drei Familien, die von außen betrachtet alles haben: ein Eigenheim im Grünen, gesunde Kinder und genügend Geld, um deren Musikstunden zu bezahlen. Glückliches Bildungsbürgertum, könnte man meinen. Aber niemand ist glücklich, das weiß der Leser aus erster Hand, lernt er doch fast alle Figuren dank der „stream of consciousness“-Technik teils besser kennen, als ihm lieb ist. Selbst Lexchen (kurz für „Alexa“, also eine Namensvetterin der Autorin), mit ihren acht Jahren das jüngste erwähnte Kind, das sich alle Mühe gibt, Glück zu verbreiten, stößt schließlich an ihre Grenzen.

Die Verkorkstheit der übrigen Kinder und Teenager ließe sich größtenteils auf normale Eifersüchteleien und die Pubertät schieben, wären da nicht ihre Eltern: Ignorant. Einsam. Verkrampft. Schwach. Überspannt. Betrogen. Missverstanden. Größenwahnsinnig. Emanzipiert. Opfer. Täter. Allesamt verlorene Seelen. Fliegende Kampfsterne, zumindest einige von ihnen. Dankenswerterweise lässt Alexa Hennig von Lange ihren Lesern trotzdem die Hoffnung, dass die heranwachsende Generation etwas glücklicher, ehrlicher und aufrechter durchs Leben gehen wird als ihre Eltern. Und vielleicht besteht sogar noch mehr Hoffnung: Am Ende des Buches gibt es gleich mehrere große Knalle, die die bestehende Siedlungsordnung in ihren Grundfesten erschüttern. Vielleicht entsteht daraus tatsächlich etwas Gutes, wer weiß das schon – vermutlich nur die Autorin, denn das Buch endet so abrupt, dass mein erster Impuls war, den Verlag anzuschreiben und nachzufragen, ob es sein kann, dass die E-Book-Version unvollständig ist.

Wie haben mir die „Kampfsterne“ nun gefallen? Zunächst fand ich die Charaktere skurril. Dann war ich etwas enttäuscht, als ich realisierte, dass der Roman ausschließlich vom Siedlungs-Leben handelt – das restliche 1985 geht relativ spurlos an der Erzählung vorbei. Die Enttäuschung wich irgendwann der Erleichterung: Eine ganz eigene und durchaus auch eigenartige Stimmung zieht sich durch den Roman, und wenn das die Stimmung dieser Zeit auch nur ansatzweise widerspiegelt, sollte ich vielleicht froh sein, dass ich damals noch zu jung war, um sie mitzubekommen.
Tja, und dann – packte mich das Buch irgendwann doch noch. Nachdem die Protagonisten mehr als den halben Roman lang durch ihre festgefahrenen Leben dümpeln, wird ihre Welt immens durcheinandergeschüttelt. Wie sich schließlich etwas in Gang setzte, erst zögerlich, dann aber immer unaufhaltbarer – das faszinierte mich dann, denn es war richtig gut geschrieben. Und plötzlich konnte ich sogar mitfühlen. Das kam spät und war für mich um so erstaunlicher, aber jetzt sitze ich hier und bedaure, dass ich schreibe, statt noch zu lesen, dass das Buch einfach schon zu Ende ist, nachdem mir das Wohlergehen seiner schrägen Charaktere endlich am Herzen liegt. So kann’s gehen.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 20. August 2018
ISBN: 978-3832197742
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

2. August 2018

Erin Kelly: Vier.Zwei.Eins.

Ab und an gibt es für mich nichts Schöneres als einen guten Thriller. Wie man den definiert, ist natürlich Geschmackssache. Ich bin kein Fan von grauenhaften Gemetzeln, sondern interessiere mich viel mehr für die psychologische Komponente. Eine überschaubare Anzahl von Protagonisten mit vielschichtigen Charakteren, unvorhersehbare und dennoch realistische Wendungen, ein langsamer, aber stetiger Spannungsaufbau - ein Thriller mit diesen Komponenten hat das Potential, mich zu begeistern. Und so hatte ich an das folgende Buch schon aufgrund seiner Leseprobe hohe Erwartungen, die nicht enttäuscht wurden. Wer - wie ich - z.B. "Gone Girl" mochte, wird auch hier auf seine Kosten kommen.


Der auf den ersten Blick seltsame Zahlentitel dieses Romans wird im Untertitel erklärt: „Vier Menschen. Zwei Wahrheiten. Eine Lüge.“ Und tatsächlich fängt mit der schicksalhaften Begegnung von vier jungen Menschen Anfang 20 alles an: Das Pärchen Laura und Kit ist zu einem Festival nach Cornwall gereist, um dort die totale Sonnenfinsternis am 11. August 1999 zu erleben. Sonnenfinsternisse zu jagen ist Kits Hobby, er und sein Zwillingsbruder sind bereits als Kinder mit ihrem Vater quer um den Globus gereist um die spektakulären Phänomene mitzuerleben. Laura hingegen erlebt ihre erste Sonnenfinsternis und fühlt sich in ihren Grundfesten berührt. Trotz widriger Wetterbedingungen hätte es also ein wunderschöner Tag sein sollen – doch auf dem Rückweg von ihrem Aussichtspunkt wird Laura Zeugin einer Vergewaltigung. Zumindest wirkt es wie eine Vergewaltigung, obwohl der mutmaßliche Täter sofort behauptet, dass alles einvernehmlich sei. Da die Frau, Beth, das jedoch nicht bestätigt und auch sonst wie erstarrt wirkt, rufen Laura und Kit die Polizei. Die vier sehen sich im Mai 2000 vor Gericht wieder, als Zeugen, Angeklagter und Klägerin. Und das hätte eigentlich ihr letztes Aufeinandertreffen sein können, doch so ist es nicht …

Im März 2015 ist Laura schon lange mit Kit verheiratet und außerdem hochschwanger mit Zwillingen. Die beiden leben so anonym wie nur möglich in London, haben sogar ihren Nachnamen geändert. Der Grund: Die panische Angst vor Beth, die 15 Jahre zuvor als Opfer vor Gericht stand. Was ist nur passiert?

Genau diese Frage wird nach und nach geklärt. Dabei wechselt Autorin Erin Kelly zwischen zwei Zeitebenen. Kapitel, die die Geschehnisse rund um die Sonnenfinsternis 1999 und die Gerichtsverhandlung im darauffolgenden Jahr schildern, wechseln sich ab mit solchen, die erzählen, wie Kit 2015 einer weiteren Sonnenfinsternis hinterherjagt, während Laura in Sorge um ihn in London sitzt. Außerdem wechseln auch immer wieder die Perspektiven: Mal schildert Laura die Erlebnisse, mal Kit. Manchmal sind kombinierte Zeit- und Erzählerwechsel ja verwirrend, aber Autorin Kelly verwebt alles so geschickt, dass die ständigen Brüche fast unmerklich geschehen und den Lesefluss überhaupt nicht stören, sondern bereichern: Es baut sich immer größere Spannung auf. „Vier.Zwei.Eins.“ wird nicht als Thriller, sondern als Roman bezeichnet, doch Nervenkitzel ist durch die erstaunliche Vielzahl von unvorhersehbaren und dennoch glaubhaften Wendungen garantiert. Meisterhaft beschreibt Kelly, wie eine Lüge in eine Abwärtsspirale voller weiterer Unwahrheiten führen kann und es letztlich keinen Ausweg aus der eigenen Schuld mehr gibt. Immer wieder wurden Situationen geschildert, bei denen ich mich unwillkürlich fragte, wie ich an Stelle der Figuren gehandelt hätte. „Vier.Zwei.Eins.“ handelt von Licht und Schatten, doch schwarzweiß ist die Geschichte bei Weitem nicht.

Gegliedert ist dieses feine Erzählkonstrukt wie die fünf Phasen einer totalen Sonnenfinsternis: Erster Kontakt, Zweiter Kontakt, Totalität, Dritter Kontakt und Vierter Kontakt. Das ist nicht nur wegen Sonnenfinsternisjäger Kit wunderbar passend, sondern auch, weil es ebenfalls um Kontakte zwischen Menschen geht bzw. die Angst davor. Nicht nur die Sonne, sondern auch die Gemüter einiger Protagonisten scheinen sich im Laufe des Romans zu verdunkeln. Doch werden sie sich im Zuge des vierten Kontakts – der Mond verdeckt die Sonne nicht mehr – auch wieder lichten? Ich kann nur empfehlen, das selbst herauszufinden.

Verlag: FISCHER Scherz
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum Printausgabe: 22. August 2018
Erscheinungsdatum E-Book: 23. Mai 2018
ISBN: 978-3651025714
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

26. Juli 2018

Christopher Wilson: Guten Morgen, Genosse Elefant

Nachdem insbesondere der letzte Roman, den ich gelesen hatte, schwere Kost war, hatte ich das Bedürfnis, mich als nächstes in etwas Leichteres zu vertiefen. Auf den zweiten Blick wäre das nachfolgende Buch vermutlich ungeeignet gewesen - handelt es doch bei genauerer Betrachtung vom blutigen Ende der stalinistischen Ära. Auf den ersten Blick erkennt man jedoch bereits am Cover, dass es (auch) in die Kategorie Humor fällt und die salopp-lustige Sprache verführte mich sofort zum Weiterlesen.


So nah wie in „Guten Morgen, Genosse Elefant“ kommt man Ich-Erzählern selten, dieser hier spricht einen sogar immer wieder an. Im Jahr der Romanhandlung, 1953, ist Juri Zipit zwölfeinhalb Jahre alt. Er ist ein äußerst ungewöhnlicher Zwölfjähriger, was nicht zuletzt daran liegt, dass er mit sechs Jahren von einem Milchwagen angefahren wurde und vor eine Straßenbahn fiel, die ihn dann noch überfuhr. Sein Gehirn hat dabei leichten Schaden genommen, unter anderem leidet der Protagonist an mit Furchtlosigkeit gepaarter Impulsivität und sagt eigentlich immer, was ihm gerade in den Sinn kommt – nicht die beste Überlebensstrategie im Russland der 1950er Jahre. Beim Unfall keinen Schaden genommen hat hingegen Juris Gesicht, dass anscheinend reine Herzenswärme ausstrahlt und andere Menschen dazu bringt, Juri ihre Geheimnisse anzuvertrauen – worauf dieser allerdings gut verzichten könnte.
Unser ungewöhnlicher Romanheld lebt im Moskauer Zoo, da sein Vater dort der Chefveterinär ist. Und als solcher wird der Tierarzt eines nachts zu Genossen Elefant gerufen – womit allerdings kein Dickhäuter im Zoo gemeint ist. Sein neuer Patient, den einer seiner Minister als elefantenähnlich, nämlich „überaus mächtig, sehr weise und auch sehr freundlich, falls er nicht gerade sehr wütend wird“ beschreibt, entpuppt sich als Stalin höchstpersönlich. Der Diktator hat gerade einen leichten Schlaganfall hinter sich, will davon aber nichts hören. Juris Vater fällt durch seine Diagnose sogleich in Ungnade – aber Juri, mit seinem Engelsgesicht, wird als neuester Vorkoster des „Gärtners des menschlichen Glücks“ auserwählt. Der sogenannte Stählerne leidet nämlich unter der Angst, vergiftet zu werden – und diese ist nicht unberechtigt, hoffen doch eine Menge Menschen auf das Ableben des „Architekten der Freude“ …

Was ist „Guten Morgen, Genosse Elefant“ nun für ein Buch? Komödie, Satire? Ein historischer Roman? Ein Schlüsselroman? Von allem etwas, würde ich sagen. Juri versichert seinen Lesern: „Das was ich erzähle, ist alles wahr. Absolut, komplett, total wahr. Fast. Bis auf die paar Kleinigkeiten, die ich ändere. Ändern muss. Aber nur, was Zeiten angeht. Orte, Namen und Ereignisse.“
Unser Erzähler nimmt sich also die größte schriftstellerische Freiheit überhaupt heraus – und doch reicht es, sich auf Wikipedia das Kapitel zu Stalins letzten Wochen durchzulesen um große Parallelen zu erkennen, Namen zu entschlüsseln etc.

Worin Autor Christopher Wilson allerdings das größte Geschick beweist, ist die Darstellung des Schrecklichen durch die Augen eines Kindes, dem Angst und Verzweiflung krankheitsbedingt fremd sind. Er lässt seinen Juri dessen Beobachtungen auf solch eine kurios-komische Art und Weise schildern, dass sich selbst das Furchtbarste erträglich lesen lässt. Und trotzdem bleibt klar, dass es das Furchtbarste ist, dass Juri in seiner Sonderstellung nur der Hofnarr ist, der das für jeden anderen Unerträgliche erträglich darstellt. Und so liest sich der Roman locker-flockig, ohne eine seichte Lektüre zu sein. Je mehr man über die stalinistische Ära weiß, desto mehr kann man dabei vermutlich rauslesen. „Guten Morgen, Genosse Elefant“ hat eine größere Tiefe, als der erste Blick enthüllt. Der enthaltene Humor ist quasi der Zucker im Kuchen, er macht die Bitternis des Ganzen durchgängig bittersüß.

Gerne hätte ich noch herausgefunden, wie Christopher Wilson auf die Idee kam, dieses Buch zu schreiben. Er scheint Engländer zu sein, hat die Psychologie des Humors ergründet und kreatives Schreiben unterrichtet. Vielleicht wollte er mit seinem Roman demonstrieren, wie Humor alles erträglicher gestalten kann. In jedem Fall hat er mit Juri einen Helden geschaffen, den seine Leser sofort ins Herz schließen und so schnell nicht wieder vergessen werden.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 16. August 2018
ISBN: 978-3462050769
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

20. Juli 2018

Lize Spit: Und es schmilzt

Dieser erste und bisher einzige Roman der flämischen Autorin Lize Spit (Jahrgang 1988) war 2016 ein Bestseller in Belgien und den Niederlanden, es wurden 160.000 Exemplare verkauft. Kein Wunder, dass der S. Fischer Verlag ihn als Spitzentitel in sein Herbstprogramm 2017 aufgenommen hatte. Zur Ankündigung verwendete er folgenden vielversprechenden Slogan: „Ein Buch, das alles gibt und alles verlangt“. Der generelle Hype sowie diese Ankündigung machten mich neugierig – was würde das Buch mir geben, was von mir verlangen? Mit relativ hohen Erwartungen begann ich die Lektüre dieses optisch sehr schönen Romans mit grünem Schnitt.


Obwohl von Anfang an klar ist, dass die Handlung von „Und es schmilzt“ in Belgien angesiedelt ist, musste ich mir das immer wieder in Erinnerung rufen – ich hatte nämlich fortlaufend das Gefühl, einen skandinavischen Roman zu lesen, der irgendwo spielt, wo das Land spärlich besiedelt ist, die Tage kurz und die Menschen schweigsam und in sich gekehrt sind. Die Atmosphäre ist von Anfang an von einer kaum wahrnehmbaren Düsternis geprägt, obwohl noch gar nichts Düsteres passiert ist. Die Autorin Lize Spit kann ohne Frage schreiben, sie weiß, wie man eine Dramaturgie aufbaut und legt die Psyche ihrer Hauptfigur nach und nach auf herzzerreißende Weise offen. Generell hat mich die Darstellung ihrer weiblichen Protagonisten dabei stärker überzeugt als die der männlichen, die mir insbesondere gegen Ende des Romans unglaubwürdig gefühlskalt und passiv vorkamen.

Was hat das Buch nun von mir verlangt? Auf den ersten 100 Seiten: vor allem einen langen Atem. Als Leser erlebt man „Und es schmilzt“ aus Sicht von Protagonistin Eva. Es geht um den Sommer 2002, in dem sie 13 oder 14 ist – und um die Jetzt-Zeit, während der sie ungefähr doppelt so alt sein dürfte. Die erwachsene Eva reist das erste Mal seit vielen Jahren in ihr Heimatdorf Bovenmeer. Sie ist dort zu einer Feier eingeladen und fährt nach längerem inneren Ringen hin, einen großen Eisklotz in ihrem Gepäck.

Der Romansommer 2002 beginnt träge, wie auch der Tag der großen Feier, wie auch die Kapitel zu beiden Handlungssträngen. Doch irgendwann scheinen die kleinen, zunächst bedeutungslos wirkenden Ereignisse eine gefährliche Abwärtsspirale zu entwickeln, aus der der Ausstieg zwar möglich erscheint – aber findet er auch wirklich statt? Die Handlung schreitet schneller voran, die Anzahl verstörender Details nimmt zu, alles in allem ist das Gelesene immer schwerer zu ertragen, ab irgendeinem Punkt musste ich mich regelrecht zwingen, um weiterzulesen. Eva erfährt in diesem Sommer mehrere Formen von unglaublichen Verletzungen und unglaublichem Verrat. Eigentlich ein empathisches Mädchen mit einem funktionierenden inneren moralischen Kompass, hat sie eine große Schwäche: ihre emotionale Bedürftigkeit. Eva will gesehen, geliebt und gebraucht werden und hat von ihrer Familie dahingehend wenig zu erwarten: Das Interesse ihrer Eltern gilt in erster Linie dem Alkohol, ihren Kindern stehen sie dagegen mit einer Mischung aus Überforderung, Gleichgültigkeit und gelegentlicher Grausamkeit gegenüber. Der große Bruder flüchtet sich in sein naturwissenschaftliches Interesse, die kleine Schwester in Zwangsneurosen. Evas Überlebensstrategie sind ihre Freundschaften. Aber kann sie so den toxischen Sommer 2002 überstehen?

Ausführlicher kann ich auf den Inhalt dieses Romans kaum eingehen, ohne zu viel zu verraten. Abverlangt hat er mir beim Lesen tatsächlich außer einem langen Atem noch einiges mehr, „ein Buch, das alles verlangt“ kann man von mir aus so stehen lassen. Aber hat mir „Und es schmilzt“ auch etwas gegeben – außer einem Kopfkino, das ich hoffentlich eines Tages wieder vergessen werde? Ich weiß es nicht. Sicher bin ich mir dagegen, dass ich diesen Roman weder verschenken noch empfehlen werde. Trotzdem bleibt für mich die Frage nach dem Warum. Soll „Und es schmilzt“ mit seinen schonungslosen Schilderungen schocken? Die Abgründe der menschlichen Natur aufzeigen? Warnen, genauer hinzusehen? All das tut der Roman. Ist das ein Gewinn, eine Bereicherung für seine Leser? Ich bin mir da nicht so sicher.

Verlag: S. Fischer Verlag
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 24. August 2017
ISBN: 978-3103972825
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €).
Der Roman erscheint am 24. Oktober 2018 im Taschenbuch für 12,00 €.