31. Mai 2020

Agatha Christie: Das Eulenhaus

Bewährt gut.

Laut dem Nachwort dieser Ausgabe hatte Agatha Christie das Gefühl, diesen Krimi „verpfuscht zu haben“ – und zwar ausgerechnet durch die Anwesenheit ihres Meisterdetektivs Hercule Poirot: „Ohne ihn, dachte ich, wäre das Buch besser geworden.“
Die Queen of Crime hat ja durchaus Bestseller geschrieben, die ohne Poirot oder auch Miss Marple auskommen – allen voran „Und dann gab‘s keines mehr“. Dass Poirot hier das Lesevergnügen schmälert, möchte ich aber nicht behaupten. Mir ist positiv aufgefallen, dass der Belgier untypisch zurückhaltend in Erscheinung tritt. Da sein Sidekick Hastings nicht mit von der Partie ist und auch sonst kein befreundeter Ermittler beteiligt, steht er weniger im Mittelpunkt als sonst, was ich als Abwechslung empfand – missen wollte ich Poirot aber nicht.


„Das Eulenhaus“ wurde 1946 veröffentlicht und war bereits der 37. Krimi von Agatha Christie sowie der 24. Fall, in dem sie Poirot ermitteln ließ. Er spielt auf einem englischen Landsitz, dessen Bewohner ein paar Familienmitglieder und Freunde zu einem entspannten Wochenende eingeladen haben. Doch nicht alle Beteiligten freuen sich gleichermaßen auf das Zusammentreffen und mit der Entspannung ist es spätestens vorbei, als einer der Gäste sterbend aufgefunden wird. Der Fall scheint auf den ersten Blick klar – aber wie so oft ist nicht alles so, wie es scheint …

Was mir besonders gut gefallen hat: Agatha Christie lässt hier einige sehr spezielle Charaktere aufeinandertreffen, in deren Seelenleben sie mehr Einblicke gewährt, als es sonst ihre Art ist. Das ist amüsant und macht den Krimi noch lebendiger. Die Auflösung hat kleine Schwächen, ist aber im Großen und Ganzen schlüssig erklärt, wobei ich natürlich ohne Poirot mal wieder nicht darauf gekommen wäre. Wie in den allermeisten Fällen bietet die Queen of Crime auch hier wieder verlässliches Lese- und Rätselvergnügen.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Das Eulenhaus“ gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 15. April 2015; „Das Eulenhaus“ erschien jedoch bereits 1947 erstmals auf Deutsch (und 1946 auf Englisch).
ISBN: 978-3455650266
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

21. Mai 2020

Basma Abdel Aziz: Das Tor

Über das Ausgeliefertsein.

Ich hatte hohe Erwartungen an diesen Roman, der laut New York Times „in einem Atemzug mit großen Klassikern wie George Orwells 1984 und Franz Kafkas Der Prozess genannt werden [muss]“. Er wird außerdem als „erste große Dystopie einer arabischen Autorin“ beworben. Diese kommt aus Kairo – habe ich überhaupt schon einmal einen Roman einer ägyptischen Autorin gelesen? Ich war mehr als neugierig.


Basma Abdel Aziz‘ „Das Tor“ spielt allem Anschein nach in Ägypten; namentlich werden jedoch weder das Land noch die Stadt, die Handlungsort ist, genannt. Letztendlich konzentriert sich alles auf das titelgebende Tor, das die staatliche Autorität verkörpert, die die Freiheiten der Bürger immer weiter einschränkt, dabei jedoch stets auf Distanz bleibt. „Das Tor“ steht nicht explizit für einen Machthaber, eine Regierung, eine Exekutive – es steht für sich. Und viele stehen vor ihm: Menschen, die Bescheinigungen benötigen, Anträge stellen oder Sachverhalte klären wollen, bilden eine Schlange – „The Queue“, wie das Buch in der englischen Übersetzung heißt. Sie warten geduldig, dass das Tor sich öffnet und sie ihr Anliegen vortragen können. Doch das Tor öffnet sich nicht und die Schlange wächst.

In der Warteschlange entsteht ein Mikrokosmos. Die Menschen freunden sich an und streiten sich; sie beginnen, sich gegenseitig mit Informationen zu versorgen und untereinander zu handeln. Einige predigen, denn auch die Religion spielt in diesem totalitären Staat eine große Rolle.
Die Anliegen, die die Menschen zum Tor geführt haben, sind ganz unterschiedlicher Art. Eine Lehrerin hat den Aufsatz einer Schülerin zu sehr gelobt – offensichtlich ein Fehler, doch über den Inhalt des Aufsatzes erfährt man nichts. Nun benötigt sie eine Unbedenklichkeitsbescheinigung, um ihren Beruf weiter ausüben zu können. Ein Mann fordert Gerechtigkeit, besser noch eine Ehrung und finanzielle Anerkennung für seinen im Staatsdienst verstorbenen Cousin. Und dann ist da noch Yahya, der während Ausschreitungen eine Schussverletzung abbekommen hat. Die Operation in einem der städtischen Krankenhäuser darf nur durchgeführt werden, wenn eine Bestätigung des Tors vorliegt. Und so wartet Yahya, während die Kugel in seinem Körper mehr und mehr Schaden anrichtet.

Was Abdel Aziz hervorragend schafft: ihren Lesern den Wahnsinn des totalitären Staats vor Augen zu führen, der seine Bürger mehr und mehr kontrolliert und nach und nach alle Bereiche ihres Lebens einschränkt. Die Autorin packt die dreistesten Erlasse in Nebensätze und schafft es so, dass man sich auch als Leser ohnmächtig fühlt. Alles was zählt, ist das Tor – das macht die Lektüre sperrig und auch etwas zäh, doch gleichzeitig ist es ein gelungener Kunstgriff, auch die Leser auf die Öffnung des Tors warten zu lassen. Das Warten bestimmt die Lektüre und das ganze Sein der Protagonisten – doch diese bleiben leider blass. Ihrem Werdegang, ihren Familien, ihren Hoffnungen und Wünschen wird kaum Raum gegeben, dabei hätte das den Roman deutlich abwechslungsreicher gestalten können. Aber vielleicht wollte die Autorin gerade das vermeiden, denn so teilt man nur das Gefühl des lethargischen Wartens mit den Figuren und bleibt wie sie auf das Tor konzentriert.

Insgesamt hat „Das Tor“ mich wenig berührt, aber dennoch erschreckt. Abdel Aziz illustriert anschaulich, was es bedeutet, einem totalitären Staat ausgeliefert zu sein. Die Lektüre ihres Buches fesselt nicht unbedingt und rüttelt nicht auf; dazu sind die Geschehnisse und Protagonisten nicht lebendig genug beschrieben. Doch die Ohnmacht der Figuren wird durchaus greifbar und macht die Lektüre dann doch auf eine bedrückende Weise beeindruckend.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 13. April 2020
ISBN: 978-3453320468
Preis: 14,99 € (E-Book: 11,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

14. Mai 2020

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt

Biografie mal anders.

Kürzlich habe ich meine erste Graphic Novel gelesen – einen Comic in Buchform. Sie war grandios gezeichnet und spannend erzählt, auch wenn vieles nur oberflächlich angerissen wurde.


Der amerikanische Autor und Cartoonist Ken Krimstein hat in „Die drei Leben der Hannah Arendt“ die Biografie der Theoretikerin illustriert. Im Nachwort äußert er die Hoffnung, mit dieser Graphic Biography „eine neue Leserschaft an Hannah Arendts bewegtes Leben [heranzuführen]“.
Der erste Teil beginnt mit Arendts Kindheit und umfasst ihr Leben in Deutschland, das 1933 ein jähes Ende findet – da ist sie 26 Jahre alt. Der zweite Abschnitt handelt von Arendts Flucht vor dem Nationalsozialismus, der dritte von ihrem amerikanischen Exil.

Krimsteins Hannah Arendt ist ein Eyecatcher – schon allein, weil sie in dieser Graphic Novel als Einzige etwas Farbe abbekommen hat. Ihre Kleidung ist grün: mal satt aufgetragen, mal mit deutlicher Übermalung der Linien, mal nur ansatzweise schraffiert. Arendts Gesicht wird oft nur mit wenigen Strichen skizziert und ist trotzdem ausdrucksstark. Emotionen wie Freude, Kummer, Zweifel und Erschöpfung wirken schnell aufs Papier gebracht und doch präzise erfasst. Obwohl sich alles um die Hauptfigur dreht, ist Krimsteins bildhaftes Erzählen sehr abwechslungsreich: kleine Porträts, seitenfüllende Gemälde; hier nur ein Kopf, da wieder eine komplette Szene. Die Auswahl der erzählten Anekdoten gibt einen insgesamt runden Eindruck von Hannah Arendts Leben – zumindest scheint es mir so, ich habe allerdings noch kein anderes Werk über sie gelesen. Natürlich sind viele Themen nur angerissen, aber ich glaube, alles andere hätte das hier gewählte Erzählformat gesprengt.

Leicht den Überblick habe ich verloren, wenn Krimstein ins Namedropping geriet: So verkehrte Hannah Arendt zu Beginn der 1930er Jahre wie viele andere Künstler im Romanischen Café in Berlin. Auf einer Doppelseite fasst der Autor zusammen, wer zu dieser Zeit dort noch ein- und ausging. Dankenswerterweise hat er die 16 Personen beschriftet sowie unter „Maler“, „Musiker“, „Regisseure“ und „Theoretiker“ kategorisiert und legt außer den letztgenannten auch noch jedem eine Sprechblase in den Mund. Das Spektrum reicht von Chagall bis Hitchcock, doch ich kannte längst nicht alle und der Großteil tritt auch nicht noch einmal in Erscheinung. Seiten wie diese vermittelten mir das Gefühl, dass hier noch viel Kontext gestreift wird, den Arendt-Kenner sicher trotzdem einordnen können, ich jedoch nicht. Wenn die Theoretikerin ins Philosophieren geriet, passierte das Gleiche: Ich hatte nicht den Eindruck, die volle Tiefe ihrer Gedanken in diesem Format zu erfassen. Aber besser, Inhalte zu streifen als ganz auf sie zu verzichten – denn ihnen mehr Raum zu geben, hätte hier wohl nicht geklappt.

Ich bin mit meinem ersten Ausflug in die Welt der Graphic Novels sehr zufrieden. Zwar ersetzt diese Graphic Biography keine normale Biographie, aber das Format an sich ist erfrischend. Es gewährt einen ungewohnten Zugang, macht Lust, mehr über Hannah Arendt zu erfahren und löst damit genau das ein, was Ken Krimstein beabsichtigt hat.

Verlag: dtv
Seitenzahl: 244
Erscheinungsdatum: 15. November 2019
ISBN: 978-3423282086
Preis: 16,90 €

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

6. Mai 2020

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

Wilder Ritt in bedrohlicher Atmosphäre.

Dieses Romandebüt stand laut Klappentext „monatelang auf der französischen Bestsellerliste, wurde mit 14 Literaturpreisen ausgezeichnet und wird in 20 Sprachen übersetzt“. Wow! Und trotzdem war ich mir zunächst unsicher, ob ich es wirklich lesen will. Coming-of-Age-Geschichten mag ich, aber diese hier klang düster. Und schon das Cover mit Krakelschrift, springendem Hasen und grellem Pink macht deutlich, dass dieses Buch keine Wohlfühllektüre ist.


Adeline Dieudonné hat in „Das wirkliche Leben“ eine namenlose Heldin erschaffen, die ich nicht so schnell vergessen werde. Das Mädchen ist zu Beginn des Romans erst 10 Jahre alt. Sie wohnt mit ihren Eltern, ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Gilles und einigen Haustieren in einem Einfamilienhaus in einer grauen Siedlung. Von außen mag alles normal wirken, doch der Schein trügt: Der Vater, ein passionierter Trophäenjäger, tyrannisiert seine Familie und verprügelt seine Frau. Deren einziges Glück scheinen die Tiere zu sein; die beiden Kinder bleiben weitestgehend sich selbst überlassen. Das Mädchen liebt seinen kleinen Bruder sehr, doch dann passiert etwas, das ihn von ihr wegtreibt. Gegen alle Widerstände beginnt die Protagonistin, um Gilles zu kämpfen.

Die Belgierin Dieudonné erzählt die brutalen Geschehnisse knapp und präzise aus Sicht ihrer einsamen, zerbrechlichen und doch starken Heldin. Der nur 240 Seiten umfassende Roman deckt dabei die sich zuspitzenden Ereignisse von vier oder fünf Jahren ab. Es gibt durchaus auch ein paar ruhigere Passagen, doch insgesamt liest sich die Coming-of-Age-Geschichte wie eine Hetzjagd: Die unterschwellige Bedrohung, der das Mädchen in seinem Zuhause von Anfang an ausgesetzt ist, ist omnipräsent – und nimmt mehr und mehr zu. Die Ich-Erzählerin bleibt stets wachsam, was sich auf mich als Leserin komplett übertragen hat und mich zunehmend nervös werden ließ. Und obwohl das Ganze sehr packend erzählt ist, musste ich „Das wirkliche Leben“ ab und an beiseitelegen, weil ich es stellenweise kaum ertragen konnte – doch gleichzeitig wollte ich diese ungewöhnliche Protagonistin, die mehr schultert, als es irgendeine Heranwachsende sollte, nicht alleine lassen. „Das wirkliche Leben“ geht unter die Haut. Letztlich ist es kein Roman über vernachlässigte Kinder in einem dysfunktionalen Elternhaus, sondern die Geschichte eines atemlosen Kampfes um eine Zukunft, für ein besseres Leben; für den Menschen, den man liebt. Ein verstörender Roman, der gleichzeitig Hoffnung macht.

Verlag: dtv
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 24. April 2020
ISBN: 978-3423282130
Preis: 18,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.