27. April 2022

Jan Weiler: Der Markisenmann

Mit den Puhdys durchs Ruhrgebiet. 

Dieses Buch ist ohne Frage ein Hingucker. Haptisch macht es etwas her; der Leineneinband fühlt sich gut an. Und es ist toll, dass es den Leserinnen und Lesern Kopenhagen auf dem Einband und Mumbai auf dem Vorsatz zeigt – allerdings nicht die Städte, die dürfte auch keine der Hauptfiguren schon einmal besucht haben. Nein, hier geht es um gleichnamige Markisenmuster.


Dass Markisen in Jan Weilers neuestem Roman eine tragende Rolle spielen, macht schon der Titel „Der Markisenmann“ deutlich. „Der Markisenmann“ heißt eigentlich Ronald Papen und ist der Erzeuger der 15-Jährigen Kim, die ohne Kontakt zu ihm zusammen mit Mutter, Stiefvater und Halbbruder im noblen Köln Hahnwald lebt. Doch nach einem schrecklichen Unglück fährt Kims Familie ohne sie in den Miami-Urlaub und schickt sie über die Sommerferien zu Ronald Papen, der in einem relativ verlassenen Gewerbegebiet im Duisburger Stadtteil Ruhrort eine Lagerhalle bewohnt und 3.406 Markisen sein Eigen nennt. Um diese zu verkaufen, bereist er so systematisch wie erfolglos das Ruhrgebiet. Seine Freizeit verbringt er mit seinen Freunden im Gewerbegebiet, auf den ersten Blick ebenso gescheiterte Existenzen wie er.

Das Ganze ist sicher kein Traumurlaub für eine 15-Jährige, doch Kim arrangiert sich nach ein paar Tagen mit diesen ungewohnten Ferien. Sie lernt von den Freunden ihres Vaters einiges über Fußball, Wetten und Skat. Sie trifft den fast gleichaltrigen Alik, der sich für Recycling begeistert. Und schließlich begleitet sie ihren Vater auf seinen Verkaufstouren, hört mit ihm die Puhdys (den Soundtrack zum Buch kann ich nur empfehlen, er passt perfekt) und versucht, den Markisenverkauf mit kreativen Methoden anzukurbeln.

„Der Markisenmann“ beginnt mit einem schnellen Abriss von Kims Jugend in Köln Hahnwald, um sich dann einem langen, heißen Sommer zu widmen. Hitze, Gewerbegebietsgeruch und Ereignislosigkeit werden hierbei fast greifbar, doch auch der raue Charme des Ruhrgebiets verfängt und macht aus „Der Markisenmann“ einen kuriosen Lesegenuss. Erst gegen Ende nimmt der Roman nochmal richtig an Fahrt auf – und das auf eine Art und Weise, die ich nicht hatte kommen sehen und gleichzeitig rund und überzeugend fand. Jan Weiler ist ein sehr ungewöhnliches Buch gelungen, dessen originelle Figuren mir in Erinnerung bleiben werden. „Der Markisenmann“ lässt sich kaum in eine Schublade stecken, wartet aber mit liebenswerter Skurrilität und Tiefgang auf, wenn man sich auf die zunächst absonderlich anmutende Geschichte einlässt.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 21. März 2022
ISBN: 978-3453273771
Preis: 22,00 € (E-Book: 17,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

18. April 2022

Monica Ali: Liebesheirat

Flügge werden. 

Eine Liebesheirat – die planen Yasmin und Joe im gleichnamigen Roman der britischen Autorin Moncia Ali. Was allerdings noch aussteht, ist das Kennenlernen ihrer Eltern, und die könnten kaum unterschiedlicher sein: Yasmins Eltern sind bengalische Einwanderer, die ihre beiden Kinder in London zwar nicht traditionell, aber doch konservativ erzogen haben. Joes Mutter dagegen, eine bekannte Aktivistin, Autorin und Intellektuelle, hat bereits vor Jahrzehnten mit feministischen Nacktaufnahmen von sich Reden gemacht. Dass sie Yasmins Familie einlädt, Yasmins Mutter in ihrer Aufregung allerdings ein komplettes Abendessen unangekündigt vorkocht und mitbringt, macht es in den Augen der Tochter nicht einfacher. Doch wider Erwarten verstehen sich die künftigen Schwiegermütter gut – so gut, dass sie noch am gleichen Abend eine muslimische Zeremonie für die Kinder planen, die Yasmin gar nicht möchte. Doch im Laufe des Romans ergeben sich noch weitaus gravierendere Probleme …



Auf den ersten Blick scheint sich „Liebesheirat“ um den Culture Clash zwischen zwei Familien zu drehen, doch dieser Eindruck täuscht. Zwar sind Yasmin und Joe sehr unterschiedlich erzogen worden, doch dass die Mittzwanziger beide noch zu Hause wohnen und ihren Eltern bzw. Joe seiner Mutter nahestehen, scheint eher ein verbindendes als ein trennendes Element. Beide sind außerdem Ärzte und arbeiten im gleichen Krankenhaus – sie haben also einiges gemeinsam. Doch der Abnabelungsprozess aus dem Elternhaus fördert auch Probleme zutage, die bisher unter den Teppich gekehrt wurden. Bei Yasmin läuft es auch beruflich nicht ganz rund und so entstehen immer mehr Konflikte, über die aber wenig gesprochen wird. Konflikte, denen vor allem mangelnde Kommunikation, falsche Erwartungen und Unehrlichkeit zugrunde liegen. Monica Ali schneidet allerdings noch eine Fülle von weiteren Themen an – von Burn-Out über Pflegenotstand bis hin zu Rassismus wird vieles angesprochen und nimmt mal eine größere Rolle, mal aber auch nur eine Randnotiz ein. Überladen fand ich den Roman trotzdem nicht, war aber ab und zu irritiert, dass Figuren und Probleme zwar erwähnt, dann aber auch sang- und klanglos wieder fallengelassen wurden. Gleichzeitig hat „Liebesheirat“ durchaus kleine Längen bzw. ist Protagonistin Yasmin, aus deren Sicht die meisten Kapitel erzählt werden, bei einigen Themen so verbohrt, dass sie zumindest mir etwas auf die Nerven ging. Das Ende riss es dann wieder heraus. Dennoch ein Warnhinweis: „Liebesheirat“ ist keine Romanze, wie man aufgrund des Titels eventuell erwarten könnte. Aber ein vielschichtiger Roman über das Erwachsenwerden, den Bruch von Erwartungen, die Konfrontation mit der Vergangenheit und die Gestaltung der eigenen Zukunft. Die Hauptfiguren mögen schon etwas alt für einen Coming-of-Age-Roman sein, aber für mich passt die „Liebesheirat“ trotzdem in dieses Genre.

Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 19. März 2022
ISBN: 978-3608984989
Preis: 25,00 € (E-Book: 19,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

8. April 2022

Dave Eggers: Every

Viel Beschreibung, wenig Handlung. 

„Kein Buch sollte mehr als 500 Seiten haben, und wenn doch, dann liegt die absolute Obergrenze, die die Leute noch hinnehmen, bei 579.“ Das lässt Dave Eggers in seinem neuesten Roman „Every“ Mitarbeiter des gleichnamigen Monopolisten anhand von Künstlicher Intelligenz und Algorithmen herausfinden. Wie gut, dass „Every“ selbst nur 578 Seiten hat. Allerdings kommt es vielleicht doch mehr auf die Qualität an, als die KI berechnet hat – die Geschichte hätte sich bestimmt deutlich kürzer erzählen lassen. Es fehlt ihr nämlich etwas, was mir besonders bei dickeren Büchern doch wichtig ist: Handlung.



Dave Eggers Roman „Every“ knüpft an seinen Bestseller “Der Circle“ an, den ich bereits vor ein paar Jahren gelesen habe und gleichzeitig spannend und erschreckend fand. Inzwischen ist aus dem Circle „Every“ geworden, nachdem die Firma den größten Online-Shop der Welt geschluckt hat, von dem alle nur als „dschungel“ sprechen. Everys Macht ist größer denn je – der Konzern bietet Apps für jede Lebenslage, die die Menschen beinahe lückenlos überwachen und ihnen das Leben dabei scheinbar so angenehm und vor allem berechenbar wie möglich machen. Natürlich gibt es auch Menschen, die das System ablehnen. Eine von ihnen ist Delaney, die schon seit Jahren einen Plan verfolgt: Sie will sich bei Every bewerben und den Konzern von innen vernichten. Und tatsächlich schafft sie es mit Hilfe ihres Freundes Wes, eingestellt zu werden. Ihre Strategie: sich so abstruse neue Überwachungs-Apps einfallen zu lassen, dass die Menschheit sich von Every abwendet. Allerdings ist das gar nicht so einfach …

Der Roman dreht sich vor allem um Delaneys Job-Rotation. Sie arbeitet in verschiedensten Every-Abteilungen und lernt die Firma so von innen kennen, inklusive ihrer unterschiedlichen Apps. Eggers dreht die Überwachungsschraube gekonnt immer weiter – alle von Every entwickelten Programme scheinen so viele hilfreiche Funktionen zu haben, dass die Kunden ihre totale Transparenz klaglos in Kauf nehmen. Ins Nachdenken kommt man beim Lesen schon, denn längst nicht alle geschilderten Entwicklungen wirken technisch und moralisch undenkbar.

Allerdings nutzen sich diese Schockmomente mit der Zeit doch etwas ab und dann fällt auf, dass die Handlung eher dürftig ist. Es passiert einfach nicht besonders viel in „Every“, abgesehen von den letzten 140 Seiten. Das ist schade, denn einige Charaktere sind so interessant angelegt, dass ihre Geschichten sicher erzählenswert gewesen wären. Doch sie bleiben alle Beiwerk von Delaney, und das ist schade. Ich hatte mir von „Every“ deutlich mehr versprochen.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 578
Erscheinungsdatum: 7. Oktober 2021
ISBN: 978-3462001129
Preis: 25,00 € (E-Book: 19,99 €)