31. Dezember 2017

Stephen und Owen King: "Sleeping Beauties"

Im Dezember lebe ich traditionell meine Schwäche für Online-Adventskalender aus und habe mich kurz vor Weihnachten sehr gefreut, bei einem der Türchen des Heyne Verlags gewonnen zu haben: Ein Buch, das irgendwie faszinierend klang, das ich mir aber niemals selbst gekauft hätte, weil es - spannende Ausgangsidee hin oder her - einfach nicht mein Genre ist. Der Gewinn war also eine Chance, sich mal in was ganz anderes zu vertiefen - und das habe ich dann während der vergangenen zehn Tage auch immer wieder getan ...


Mein erster King! Dabei ist es vermutlich kein ganz typischer, denn „Sleeping Beauties“ hat Stephen King nicht alleine verfasst, sondern zusammen mit seinem Sohn Owen. Zu zweit haben sie sich des Dornröschen-Motivs angenommen, das hier grauenhafte Züge bekommt: Nicht nur eine, sondern alle Frauen schlafen ein – weltweit, wobei sich die Handlung auf die Geschehnisse in der amerikanischen Kleinstadt Dooling konzentriert. Die Damen märchenhaft wachzuküssen, ist keine Lösung. Sobald eine Frau einschläft, webt sich ein feiner, weißer Kokon um sie. Das Gewebe, aus dem der Kokon besteht, wächst den Schlafenden dabei unter anderem aus Mund und Nase und wird schnell immer dichter. In einem Fernsehfilm wäre das vermutlich die Stelle, bei der ich umschalten würde, lesend machte mir die Vorstellung dagegen nicht so viel aus. Und richtig eklig wurde es ohnehin erst, wenn jemand den Kokon einer Schlafenden beschädigte, um an sie ranzukommen. Egal, ob derjenige mit prinzgemäßen Kussabsichten oder aus anderen Gründen handelte: Man konnte ihm nur wünschen, dass er sich schleunigst in Sicherheit brachte …
Doch in „Sleeping Beauties“ geht es nicht nur um die namensgebenden weiblichen Schönheiten. Die Kings widmen sich auch den Männern, die übrig bleiben, nachdem ihre Freundinnen, weiblichen Familienmitglieder, Chefinnen und Kolleginnen eingeschlafen sind. Wie sähe eine Welt ohne Frauen aus? Und wie eine Welt ohne Männer? Dieser Frage wird sich ausgiebig gewidmet – der Roman hat 956 Seiten. Mir waren das ein paar zu viele, wobei Stephen und Owen King dem Leser einen ganzen Kleinstadt-Kosmos inklusive Frauengefängnis nahebringen – im vorangestellten Personenregister werden 71 Romanfiguren mit Alter und Beruf aufgelistet. Diese brauchen verständlicherweise Platz, wobei der Wälzer mit ein paar weniger Charakteren und einigen ordentlichen Kürzungen vermutlich gewonnen hätte. Die Ausarbeitung der detaillierten Romanwelt ist dennoch stellenweise faszinierend – oft aber auch einfach langatmig. Der Showdown von „Sleeping Beauties“ hat sich für meinen Geschmack auch ziemlich gezogen, Auflösung und Ende fand ich wiederum ganz interessant. Der Plot an sich war fesselnd, die Spannung konnte aber nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Die Anzahl lebender sowie toter Protagonisten war mir deutlich zu groß und Horrorelemente sind generell einfach nicht mein Fall. Riesige Mottenschwärme werden bei einer (laut Wikipedia bereits geplanten) Verfilmung sicherlich ein eindrucksvolles Bild abgeben, lesend haben sie mich eher kalt gelassen. Was bleibt, ist ein gewisser Stolz, durchgehalten zu haben – und die Erkenntnis, dass auf meinen ersten King erstmal kein zweiter folgen wird. Fans des Autors dürf(t)en das aber natürlich ganz anders sehen.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 960
Erscheinungsdatum: 13. November 2017
ISBN: 978-3453271449
Preis: 28,00 € (E-Book: 19,99 €)

22. Dezember 2017

Mavis Doriel Hay: "Geheimnis in Rot"

Weihnachten naht! Zeit für einen Buchtipp zum Fest. Wobei ich kein Fan der kitschig-romantischen Weihnachtsromane bin, die zur Zeit in rauhen Mengen in den Buchhandlungen zu finden sind und Titel wie "Weihnachtsküsse in White Cliff Bay", "Trau dich unterm Mistelzweig" oder auch "Verliebt und zugeschneit" tragen. Bei einem weihnachtlichen Krimi konnte ich jedoch bereits im Oktober nicht wiederstehen. Er wurde ebendann im Klett-Cotta-Verlag veröffentlicht, ist im englischen Original jedoch bereits 1936 erschienen. Geschrieben wurde er von einer eher unbekannten Autorin namens Mavis Doriel Hay, deren Stil mich an die Werke einer berühmteren Zeitgenössin erinnert hat - die der Queen of Crime Agatha Christie, von der ich in diesem Jahr auch einiges gelesen habe.


"Geheimnis in Rot" ist ein Krimi mit besonderer Haptik (der Einband ist mit Stoff überzogen), einem weihnachtlichen Eyecatcher-Cover und leider etwas nichtssagendem Titel („The Santa Claus Murder“, wie das Buch auf Englisch heißt, finde ich sowohl passender als auch interessanter). Obwohl ich während der Lektüre noch weit davon entfernt war, mich irgendwie in Weihnachtsstimmung zu fühlen, hat mich dieses Buch schnell in seinen Bann gezogen. Und wirklich weihnachtlich ums Herz ist den Protagonisten von „Geheimnis in Rot“ auch nicht zumute: Am ersten Weihnachtsfeiertag wird Sir Osmond Melbury, der seine Kinder, Schwiegerkinder und Enkel Jahr für Jahr während der Feiertage nach Hause auf Gut Flaxmere nötigt, erschossen in seinem Arbeitszimmer aufgefunden. Der Kreis der Verdächtigen ist groß, denn eigentlich jeder der Anwesenden hat einen Teil des Erbes zu erwarten und für die Mehrzahl von ihnen kommt dieses auch recht willkommen. Aber war das für eines der Familienmitglieder tatsächlich Grund genug, einen Mord zu verüben? Ein Freund des Hauses, Colonel Halstock, beginnt zu ermitteln. Systematisch trägt er Informationen zusammen, sammelt Indizien und führt Gespräche. Und als Leser sitzt man grübelnd vor dem Grundriss von Gut Flaxmere, der dem Buch vorangestellt ist, und fragt sich mit dem Colonel, wie denn nun alles zusammenpasst. „Geheimnis in Rot“ ist ein Krimivergnügen in guter alter Whodunit-Manier. Mavis Doriel Hay beschreibt die einzelnen Familienmitglieder sehr anschaulich und lässt den Großteil auch selbst zu Wort kommen, doch obwohl sich das Gesamtbild so immer mehr zusammenfügt, tappt man als Leser lange im Dunkeln. Wer gerne mit Miss Marple oder Hercule Poirot rätselt, ist hier gut aufgehoben. „Geheimnis in Rot“ ist ein Cosy Crime, dem man sein Alter (Erstveröffentlichung 1936!) nicht anmerkt. Ein Krimigenuss alter Schule, der sich nicht nur unterm Weihnachtsbaum gut macht, aber als gemütliche Feiertagslektüre auf jeden Fall bestens geeignet ist!

Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 298
Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2017
ISBN: 978-3608961898
Preis: 15,00 € (E-Book: 11,99 €)

13. Dezember 2017

Zoë Beck: "Die Lieferantin"

Nachdem ich gerade im Dystopie-Fieber bin, kommt hier gleich noch eine Rezension zu diesem Genre; diesmal zu einem Thriller. Zoë Becks "Die Lieferantin" war das erste Zukunfts-Schreckensszenario, in das ich in diesem Jahr eingetaucht bin: Zeitlich nicht zu sehr entfernt, auf unsere Gegenwart eingehend, irgendwie sogar realistisch erscheinend und alles in allem ... verstörend. Vermutlich hat mich das Buch deswegen besonders begeistert. "Die Lieferantin" und Juli Zehs "Leere Herzen" sind in meinen Augen quasi ebenbürtig und thematisch nicht unähnlich; in beiden nimmt das Darknet eine wichtige Rolle ein. Während "Leere Herzen" in Deutschland spielt und dadurch auch einen gewissen Bezug zur jetzigen Bundespolitik hat, ist "Die Lieferantin" allerdings in England angesiedelt.


„London, vielleicht bald“ ist diesem Thriller vorangestellt, und tatsächlich scheint er in nicht allzu ferner Zukunft zu spielen. Wir befinden uns offensichtlich einige Jahre nach dem Brexit, der ebenso wie die Unabhängigkeit Schottlands für die Briten bereits zur Normalität geworden ist. Die technischen Möglichkeiten haben sich weiterentwickelt: Innenstädte werden mit Gesichtserkennungssoftware überwacht, Paketlieferungen mit Drohnen sind Alltag. Allerdings nutzen nicht nur gewöhnliche Online-Versandhändler die Technologie. Ein sehr erfolgreicher Anbieter kommt aus dem Darknet: „Die Lieferantin“, die dort einen Webshop für Drogen betreibt und diese mithilfe von Drohnen in Rekordzeit ausliefern lässt. Den Londoner Unterweltbossen, die bislang den traditionellen Straßenverkauf bevorzugen, tritt sie damit gehörig auf den Schlips. Und dann steht in England noch ein neues Referendum an: Es soll über den Druxit entschieden werden – den Ausstieg aus der Drogenhilfe, der zur Folge hätte, dass der Staat keinen Penny mehr für Behandlung/Entzug/Krankenversicherung etc. von Suchtkranken zahlen würde. Die Ereignisse spitzen sich zu und überschlagen sich schließlich beim Showdown  …

„Die Lieferantin“ hat mir wahnsinnig gut gefallen. Der Thriller ist komplett durchdacht und wirkt daher erschreckend realitätsnah – so könnte es kommen. Es gibt Nebenschauplätze, die die Legalisierung von Drogen, Big Data, wachsendem Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit thematisieren. Alles spielt zusammen und so entsteht ein komplexes Zukunftsportrait, das zugleich fesselt und erschüttert.
Zoë Beck hat ein ganz besonderes Händchen für ihre Protagonisten. Man lernt sie schnell gut mit all ihren Eigenheiten kennen und kann trotz Mord- und Totschlag für die meisten Sympathien aufbringen. Richtiggehend kunstvoll führt die Autorin ihre Figuren zum Teil nur flüchtig zusammen. Statt unwahrscheinlicher Zufälle webt sie ein Netz von Ereignissen und Beziehungen, die, obwohl in der Zukunft spielend, einfach glaubwürdig wirken. Wow! Und dann ist das Ganze noch federleicht lesbar und außerdem sehr, sehr spannend. Diese Autorin muss ich mir merken.

Verlag: Suhrkamp
Seitenzahl: 324
Erscheinungsdatum: 10. Juli 2017
ISBN: 978-3518467756
Preis: 14,95 € (E-Book: 12,99 €)

1. Dezember 2017

Juli Zeh: "Leere Herzen"

Nach meinem Eindruck erscheinen dieses Jahr ziemlich viele dystopische Romane - oder kommt mir das nur so vor, weil sie mir vermehrt in die Hände fallen? Es begann mit "Die Lieferantin" von ‎Zoë Beck, einem Roman, der irgendwann nach dem öfters erwähnten Brexit spielt, zu einer Zeit, in der die Drohnentechnologie quasi perfektioniert ist. Drohnen spielten auch im witzigeren "Qualityland" von Marc-Uwe Kling eine Rolle, wobei diese Satire nicht ganz so unmittelbar an unsere Gegenwart anknüpft. Im Dezember werde ich "Die Optimierer" von Theresa Hannig lesen, nachdem die Leseprobe sehr vielversprechend klang: Der Roman handelt von der "Bundesrepublik Europa" im Jahr 2052. Letzte Woche habe ich mich dagegen mit einer Dystopie beschäftigt, die uns zeitlich noch viel näher ist und Juli Zehs neuesten Roman gelesen: "Leere Herzen".


„Leere Herzen“ wird im Klappentext als „verstörender Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist“ beschrieben. In der Widmung schleudert die Autorin ihren Lesern dann auch noch ein unmissverständliches „Da. So seid ihr.“ entgegen – womit klar ist, welche Generation gemeint ist: die eigene. Ein harter Einstieg in eine dystopische Geschichte, die bereits in naher Zukunft spielt. Irgendwann in den späteren 2020er Jahren angesiedelt, berichtet sie von der Post-Merkel-Ära, in der die BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung) regiert, nachdem die anderen Parteien es nicht mehr schaffen, ihre Wähler zu mobilisieren. Und während die BBB die demokratischen Grundrechte immer weiter abschafft, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, haben sich Gutausgebildete und -verdienende wie Protagonistin Britta längst ins Private zurückgezogen, pflegen ihr kleinstädtisches Leben, konzentrieren sich auf die eigene Karriere und schalten die Nachrichten höchstens mal aus Versehen ein. Verantwortungsgefühl, Moral und Ethik sind ihrem „leeren Herzen“ schon sehr lange abhandengekommen. Kopf und Herz sind zufrieden mit dem Ist-Zustand, nur der Bauch rebelliert ab und zu in Form von Schmerzen und Übelkeit, wird aber ebenso wie die Krankhaftigkeit ihres Sauberkeitsfimmels erfolgreich ignoriert.

Juli Zehs Buch wirkt stellenweise wie eine Abrechnung der Autorin. Eine Abrechnung mit Nichtwählern und mit denjenigen, die die Demokratie für selbstverständlich halten und glauben, das Weltgeschehen gehe sie nichts an. Auch mit Hasskommentatoren im Internet wird abgerechnet und der entsprechende Abschnitt liest sich, als hätte sich Zeh ihre Verachtung schon lange von der Seele schreiben wollen. Ganz eventuell ist „Leere Herzen“ auch noch eine kleine Abrechnung mit Sarah Wagenknecht. Die Gründe dafür sind mir verborgen geblieben, aber Wagenknecht wird, neben Merkel, als einzige real existierende Politikern namentlich erwähnt. Überraschenderweise ist sie Innenministerin der BBB. Positiv ist das keinesfalls, denn die in „Leere Herzen“ beschriebene politische Situation ist desaströs – nicht nur in Deutschland, sondern überall. Frexit, Schwexit und andere Bewegungen werden am Rande erwähnt – in Juli Zehs Welt der 2020er Jahre ist sich jeder selbst der Nächste. Besonders bemerkenswert war für mich, dass die Autorin sich nicht an den Wählern ihrer BBB abarbeitet, sondern an den Gleichgültigen, die es besser wissen, aber tatenlos bleiben. „Leute wie ich tragen Schuld an den Zuständen, nicht die Spinner von der BBB“ erkennt auch Hauptfigur Britta irgendwann. Und genau Leute wie die von ihr erschaffene Britta will Juli Zeh erreichen; das wird deutlich.

Und wie liest sich das Ganze? Zeh entwickelt ihre Romangegenwart so, dass sie – im worst case – tatsächlich an die Gegenwart anknüpfen könnte – ein erschreckender Gedanke, der der Faszination, die die Geschichte ausübt, natürlich zuträglich ist. Gleichzeitig fühlte ich mich manchmal doch zu offensichtlich belehrt; „Leere Herzen“ erscheint insgesamt wie eine Warnung der Autorin an die Leser. Die Geschichte um Hauptfigur Britta und das morbide Geschäft, das sie mit ihrem besten Freund Babak betreibt, ist jedoch so fesselnd, dass mich die fehlende Subtilität der Gesellschaftskritik nur selten störte. Und der im Roman gleich mehrmals vorkommende Appell der Autorin, das Hier und Jetzt zu schätzen und aktiv für seine Bewahrung bzw. Verbesserung einzutreten, hat ja durchaus Berechtigung. Juli Zehs Mahnungen haben mich auf jeden Fall beschäftigt und tun es immer noch – der Roman wirkt nach.
Für bequeme Bücher ist die Autorin nicht bekannt, auch „Leere Herzen“ ist keines. Die Geschichte liest sich gut und schnell, erschüttert und verstört immer mal wieder und regt zum Nachdenken an – und zum Wählen gehen, zum Partei ergreifen. So gesehen hätte das Buch ruhig schon ein paar Monate früher erscheinen können.

Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 13. November 2017
ISBN: 978-3630875231
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)