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8. Februar 2021

Agatha Christie: Peril at End House

Raffiniert und perfide.

Agatha Christies zwölfter Kriminalroman erschien 1932 als der sechste, in dem sie ihren belgischen Meisterdetektiv Hercule Poirot ermitteln lässt. Wie so oft ist sein Freund Arthur Hastings an seiner Seite und auch Inspektor Japp tritt wieder in Erscheinung. Also ein Klassiker. Aber Agatha Christie wäre nicht die Queen of Crime, wenn sie nicht immer wieder überraschen würde. Und hier hat sie sich eine besonders perfide Geschichte einfallen lassen.


In „Peril at End House“ („Das Haus an der Düne“) wollen Poirot und Hastings eigentlich eine entspannte Urlaubswoche in Cornwall verbringen. Doch dann machen sie die Bekanntschaft einer jungen Frau namens Nick Buckley, die in den letzten Tagen gleich mehrere Beinahe-Unfälle gehabt hat. Sie tut das lachend ab, doch Poirot wird hellhörig und schließlich erhärtet ein Patronenfund seinen Verdacht, dass es jemand auf ihr Leben abgesehen hat. Poirot und Hastings statten Miss Buckley einen Besuch in End House bzw. dem „Haus an der Düne“ ab und treffen Vorkehrungen. Doch auch diese können ein Unglück nicht verhindern …

Was mir richtig gut gefallen hat: Poirot teilt seine Gedanken diesmal freigiebig mit Ich-Erzähler Hastings – und so auch den Lesenden. Er erstellt sogar Listen mit potentiellen Tätern und offenen Fragen. Ich bin natürlich trotzdem nicht auf die Auflösung gekommen. Wie eigentlich immer haben mich Poirots Ausführungen beim Showdown am Ende komplett verblüfft, obwohl sie durchaus schlüssig sind. An einigen Stellen wird sehr deutlich, dass der Krimi nicht nur vor ca. 90 Jahren spielt, sondern auch dann geschrieben wurde. In Sachen Raffinesse ist er aber keineswegs in die Jahre gekommen. Agatha Christie kann’s halt einfach.

Verlag: Harper Collins
Seitenzahl: 252
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 24. September 2015 (Erstausgabe: 1932)
ISBN: 978-0008129521
Preis: 6,99 € (E-Book: 5,49 €)

5. April 2020

Agatha Christie: Murder in Mesopotamia

Unterhaltsam und solide – nur die Auflösung überzeugt nicht ganz.

Agatha Christie schrieb im Laufe ihres 86-jährigen Lebens 66 Romane. Es ist also kein Wunder, wenn einem einige ihrer Titel gänzlich unbekannt erscheinen. Bei manchen, wie z.B. „Die großen Vier“, wird bei der Lektüre schnell klar, warum sie in der Versenkung verschwunden sind. Andere reichen vielleicht nicht an „Und dann gab’s keines mehr“, „Mord im Orientexpress“ oder „16 Uhr 50 ab Paddington“ heran, sind aber trotzdem geschickt und klug entwickelte Pageturner. Zu ihnen gehört der Krimi, den ich zuletzt gelesen habe.


Agatha Christies „Murder in Mesopotamia“ spielt im Irak. Die Schriftstellerin entwickelte ab Ende der 1920er Jahre ein Faible für den Nahen Osten. 1928 reiste sie mit dem Orientexpress nach Bagdad und lernte im Irak ein britisches Archäologenpaar kennen, das sie zwei Jahre später erneut an einer Ausgrabungsstätte besuchte. Bei dieser zweiten Reise traf sie auch ihren zweiten Ehemann, den an den Ausgrabungen beteiligten Max Mallowan.

Im 1936 auf Englisch und 1939 auf Deutsch veröffentlichten „Murder in Mesopotamia“ ermittelt Hercule Poirot, allerdings ohne seinen treuen Freund Hastings. Es dauert, bis der Detektiv am Tatort ankommt, einem abgelegenen Anwesen, in dem die an einer Ausgrabungsexpedition beteiligten Forscher mit ihren Ehefrauen untergebracht sind. Erzählerin der Geschehnisse ist Amy Leatheran, eine Krankenschwester, deren Namen ich mir während der gesamten Lektüre nicht merken konnte, da sie im englischen Original von allen nur als „Nurse“ angeredet wird. Leatheran hat eine Patientin von England in den Irak begleitet und soll nun die Frau des Ausgrabungsleiters Dr. Eric Leidner unterstützen, bevor sie wieder zurückreist. Mrs. Leidner hat kein körperliches Leiden, fühlt sich jedoch bedroht, und ihr Ehemann hofft auf den beruhigenden Einfluss der Krankenschwester, die vor allem als Gesellschaftsdame fungieren soll.

Vielleicht wollte Agatha Christie zur Abwechslung mal einen anderen Stil ausprobieren, denn dadurch, dass sie diesen Krimi aus Sicht von Nurse Leatheran erzählt, bekommt er einen ganz ungewohnten Ton. Die Krankenschwester nimmt kein Blatt vor den Mund, verleiht ihren Antipathien und Vorurteilen deutlich Ausdruck und verfügt ganz und gar nicht über das, was man heute als interkulturelle Kompetenz bezeichnet. Das Maß aller Dinge ist für sie selbstverständlich auch in der Ferne ihre Heimat Großbritannien, schon Poirot als Belgier ist ihr suspekt. Eine große Sympathieträgerin ist die Britin nicht unbedingt, aber sie bringt mal eine andere Farbe in Christies Werk und man kann sich durchaus vorstellen, dass die Queen of Crime Spaß daran hatte, eine gänzlich ungewohnte Perspektive auszuprobieren.

Zum Kriminalfall will ich keine weiteren Details verraten. Aufgrund des ungewöhnlichen Settings, des noch überschaubaren Personenkreises, der neuen Erzählerin und dem wie immer brillanten Poirot hat er mir gut gefallen. Auf die Auflösung wäre ich mal wieder nicht gekommen – allerdings ist sie doch etwas mehr an den Haaren herbeigezogen, als es sonst bei Agatha Christie der Fall ist. Dennoch hat mich „Murder in Mesopotamia“ gut unterhalten und muss sich in Christies Gesamtwerk keinesfalls verstecken.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Murder in Mesopotamia“ gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Harper Collins
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 24. März 2016; „Murder in Mesopotamia“ erschien jedoch bereits 1936 auf Englisch (und 1939 auf Deutsch).
ISBN: 978-0008164874
Preis: 6,69 € (E-Book: 6,99 €)

3. Oktober 2019

Agatha Christie: The Murder on the Links

Solider Fall mit irritierender Nebenhandlung

Hätte Agatha Christie Liebesromane geschrieben, würde sich heute kein Mensch mehr an ihr Werk erinnern – spätestens nach der Lektüre dieses Krimis bin ich davon überzeugt. Sicher hat man 1923, als dieses Buch auf Englisch erschien, anders über Zwischenmenschliches berichtet als heute. Dennoch: Die von Christie geschilderten Verbrechen scheinen fast zeitlos, wirken auch heute weder durchschaubar noch antiquiert. Beschreibt die Autorin dagegen Flirts und Liebesschwüre, wird zumindest mir ganz anders vor lauter Fremdscham.


Agatha Christies „The Murder on the Links“ ist eigentlich ein vielversprechender Fall: Poirot und seinen getreuen Gefährten Hastings ereilt der schriftliche Hilferuf eines in Frankreich lebenden Millionärs, der um sein Leben zu bangen scheint, jedoch in seinem Brief nicht ins Detail geht. Und obwohl sich der belgische Detektiv und sein Kompagnon direkt auf den Weg machen, treffen sie Herrn Renauld nicht mehr lebend an. Er wurde nachts auf dem Golfplatz erstochen. Seine Frau ist am Ende, sein Sohn verschweigt etwas, ein französischer Detektiv versucht, Poirot die Schau zu stehlen. Außerdem mischen gleich mehrere junge Frauen mit. Und so ist in „The Murder on the Links“ ganz schön was los. Der Fall ist ziemlich verzwickt, und zugegebenermaßen auch etwas überkonstruiert. Aber das hat mich kaum gestört. Und richtig gut gefallen hat mir, dass Poirot, anders als in Christies späteren Werken, nicht nur kryptische Andeutungen zu seinen Ermittlungen von sich gibt, sondern seine Gedanken mehrmals zumindest in Ansätzen teilt. Als ich dann nach 60% des E-Books einen plausiblen Verdacht hatte, was geschehen sein könnte, war ich fast stolz – das passiert mir bei Christie-Krimis eher selten.
Als nach 69% des Buches allerdings Poirot-Freund Hastings eine ähnliche Idee kam, desillusionierte mich das ziemlich. Denn wenn selbst er etwas merkt, muss die Sache einen Haken haben. Im Wikipedia-Eintrag zu „Mord auf dem Golfplatz“ steht, dass Christie selbst zugegeben hat, diese von ihr geschaffene Figur nicht zu mögen – kein Wunder. Es ist in der Kriminalliteratur kein Einzelfall, dass ein ermittelndes Genie einen loyalen Freund hat, neben dem es umso mehr glänzt, ohne die Bodenhaftung ganz zu verlieren. Aber Arthur Hastings stellt sich in „The Murder on the Links“ stellenweise so treudoof-dumm an, dass die Lektüre schon fast wehtut.
Apropos Wehtun: Und dann gibt es hier auch noch eine Liebesgeschichte, die zumindest aus heutiger Sicht so gar nicht überzeugt. Die „Queen of Crime“ wäre sicher niemals eine „Queen of Love“ geworden. „The Murder on the Links“ war allerdings auch erst ihr dritter Krimi, sie stand noch am Beginn ihrer Karriere. Es war übrigens auch ihr erstes auf Deutsch erscheinendes Buch (1927). Vielleicht muss man es als Frühwerk betrachten.
Habe ich „The Murder on the Links“ nun gerne gelesen? Trotz allem ja. Würde ich das Buch empfehlen? Wohl nur Christie-Fans.

Verlag: Harper Collins
Seitenzahl: 319
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 21. Mai 2015 (Erstausgabe: 1923)
ISBN: 978-0008129460
Preis: 7,99 € (E-Book: 1,07 €)

27. Februar 2019

Mark and Delia Owens: Cry of the Kalahari

Ein hochmotiviertes, amerikanisches Paar beschließt, nach dem Studium nach Afrika zu gehen. Die beiden jungen Zoologen haben das gemeinsame Ziel, zur Bewahrung noch nicht von der Zivilisation zerstörter Wildnis beizutragen. Sie entscheiden sich für Botswana als Wirkungsstätte und leben dort fast sieben Jahre lang die meiste Zeit in der völligen Abgeschiedenheit des Deception Valley im Central Kalahari Game Reserve – viele Autostunden entfernt von anderen Menschen, jeglichen Kommunikationsmitteln und vor allem: Wasser. Eine Autopanne kann genauso tödlich enden wie die gelegentlichen Besuche von Löwen, Hyänen und Leoparden im Zeltcamp der beiden. Dass Delia and Mark Owens vor allem die ersten Jahre ihrer Feldforschung überlebt haben, grenzt an ein Wunder.


„Cry of the Kalahari“ ist gewissermaßen ihr Vermächtnis für die Allgemeinheit und fasziniert von der ersten bis zur letzten Seite: Zunächst durch die widrigen Umstände, unter denen die Owens ihre Forschungen in lebensfeindlicher Umgebung aufnehmen, später durch die Schilderungen ihrer Beobachtungen von Schakalen, Wildhunden, Löwen und Braunen Hyänen. Die Autoren sind auf ihrem Gebiet Pioniere, haben sie doch als erste überhaupt das Verhalten der genannten Spezies in der Kalahari untersucht. Wer sich auch nur ein wenig für Tiere interessiert, wird aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Jede einzelne Seite zeugt von der Leidenschaft, mit der Delia und Mark Owens ihre Forschungen betrieben haben und von ihrem Bestreben, sich völlig an die Natur anzupassen, um das Leben der von ihnen beobachteten Tiere so wenig wie möglich durch ihre Anwesenheit zu verändern. Ihre Studienobjekte wachsen dabei nicht nur den Forschern ans Herz, sondern auch deren Lesern, lernen sie doch ihre Charakteristika kennen. Auch Hyänen können abenteuerlustig oder vorsichtig sein, auch Löwen nachlässig oder fürsorglich. Das Ehepaar Owens nimmt seine Leser mit in die Kalahari, nicht zuletzt, um für den Erhalt der Wildnis zu werben. Inzwischen ist „Cry of the Kalahari“ bereits 35 Jahre alt, wirkt jedoch kein bisschen antiquiert. Das Abenteuer bleibt miterlebbar.

Verlag: Mariner Books
Seitenzahl: 342
Erscheinungsdatum: 15. Oktober 1992 (dieser Ausgabe; Erstveröffentlichung des Buches war 1984)
ISBN: 978-0395647806
Preis: 16,50 € (E-Book: 7,99 €)

5. Januar 2019

Shari Lapena: The couple next door

Eigentlich hatte ich für die Feiertage noch eine dritte weihnachtliche Rezension geplant, doch trotz des vielversprechenden Titels enttäuschte mich „Sieben Kilo in drei Tagen“ so, dass mir die Lust verging, darüber zu schreiben. Stattdessen entschied ich mich nach diesem Missgriff für einen Thriller als Gegenprogramm. Wie die meisten Thriller und Krimis, die ich lese, war er relativ unblutig und hatte es dennoch in sich.


„The couple next door“ beginnt mit dem Alptraum aller Eltern: Anne und Marco verbringen den Abend auf der Dinnerparty ihrer Nachbarn, während ihr Baby Cora zu Hause schläft. Sie haben ein Babyfon dabei und schauen alle halbe Stunde abwechselnd nach ihrer Tochter. Doch als sie nach Mitternacht in ihr Haus zurückkehren, steht die Haustür offen – und die Wiege ist leer …

Der Thriller ist dicht erzählt, die Anzahl der handelnden Figuren überschaubar. Immer wieder werden die Gedanken der verzweifelten Eltern geschildert, vor allem die Mutter steht komplett neben sich, während ihr Mann mit allen Mitteln versucht, zu funktionieren. Dass der ermittelnde Detective nicht auszuschließen scheint, dass die beiden mit dem Verschwinden ihres Babys zu tun haben könnten, verstört sie zusätzlich. Angst und Schlafmangel lassen die Nerven bei Anne und Marco bald komplett blank liegen – nachvollziehbar. Doch dann nimmt „The couple next door“ ein paar unerwartete Wendungen und plötzlich ist vieles anders, als es auf den ersten Blick schien. „People are capable of almost anything“ steht bereits auf dem Cover.

Manche der Plot-Twists erahnte ich, andere nicht. Am Ende waren es für meinen Geschmack ein, zwei Verstrickungen zu viel, was einem spannenden Leseerlebnis jedoch keinen Abbruch tat. „The couple next door“ ist ein packender Pageturner und lässt sich in kürzester Zeit weglesen – auch auf Englisch. Die Sätze sind kurz; ich las in ein paar deutschen Rezensionen, dass der einfache Stil einige Leser gestört hat, doch zumindest im Englischen wirkte er stimmig auf mich, wird doch meist die Perspektive der Eltern geschildert, zu deren Zustand das Denken komplexer Schachtelsätze kaum passen würde. Stellenweise hat der Thriller durchaus kleine Längen, die jedoch die Ohnmacht von Anne und Marco umso greifbarer machen. Die Auflösung des Ganzen hatte in meinen Augen kleine Schwächen, im Großen und Ganzen ist der oft kammerspielartig wirkende Thriller jedoch mehr als solide.

Verlag: Bantam Press
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 14. Juli 2016
ISBN: 978-0593077399
Preis: 15,50 € (E-Book: 6,45 €)

14. Dezember 2018

Agatha Christie: Hercule Poirot's Christmas

Bücher mit Weihnachtsbezug sind die perfekte Lektüre für die Adventszeit. Wenn „Christmas“ schon im Titel vorkommt, kann nichts mehr schiefgehen, sollte man meinen … steht allerdings außerdem noch der Autorenname „Agatha Christie“ auf dem Cover, lässt das bereits erahnen, dass es nicht zwangsläufig besinnlich wird. Die Autorin selbst kündigt in ihrer Widmung quasi an, es krachen zu lassen. Sie hat sie an ihren Schwager gerichtet, der offensichtlich ein großer Fan ihrer Werke war, sie aber gleichzeitig zunehmend blutleer fand – im wahrsten Sinne des Wortes, denn Christie schrieb ihm: „You yearned for a good, violent murder with lots of blood.“ Den wollte sie ihm mit diesem Krimi bescheren und stellte ihrem Text auch noch ein Zitat aus „Macbeth“ voran, das nichts Gutes verheißt. Na dann: frohe Weihnachten!


Ich war also vorgewarnt, dass „Hercule Poirot‘s Christmas“ mir eher Gänsehaut als Wärme ums Herz einbringen würde – aber da ich Agatha Christies Krimis sehr gerne lese, war das kein Hinderungsgrund. Und so vertiefte ich mich in die Weihnachtsvorbereitungen auf dem britischen Anwesen Gorston Hall, wo eine Familienzusammenkunft ansteht: Der greise Patriarch Simon Lee versammelt zum Fest der Liebe seine vier Söhne mit ihren Ehefrauen (sofern vorhanden) um sich, außerdem hat er sein einziges Enkelkind eingeladen. Als Überraschungsgast findet sich noch der Sohn eines früheren Geschäftspartners ein. Die Stimmung ist nicht ganz so gut, doch darauf legt es der alte Mann auch nicht an, im Gegenteil: Er hat einen ziemlich seltsamen Humor und zieht sein eigenes, kleines Vergnügen daraus, seine Familienangehörigen zu demütigen – wissend, dass die sich das zähneknirschend gefallen lassen werden, um ihr Erbe nicht zu gefährden. Und so hat eigentlich fast jeder von Simon Lees Nachkommen ein Motiv, als der Fiesling noch vor Beginn der eigentlichen Feierlichkeiten ermordet aufgefunden wird – aber „Whodunit“? Wer war’s?

Agatha Christie hat das Rad nicht neu erfunden. Letztes Jahr im Dezember las ich den Krimi einer Zeitgenossin, „Geheimnis in Rot“ von Mavis Doriel Hay, der zwei Jahre vor dem 1938 erschienenen „Hercule Porot’s Christmas“ publiziert worden war und genau die gleiche Ausgangssituation hat: Das ungenießbare Familienoberhaupt ist ermordet worden, fast jeder hätte gute Gründe. Aber gerade Weihnachten ist ja auch ein Fest der Traditionen, und so stört es gar nicht, dass einem die Grundidee dieses Weihnachtskrimis nicht unbedingt originell vorkommt. Agatha Christie wäre nicht die Queen of Crime, wenn sie ihrem Werk nicht wieder eine ganz besondere, ziemlich unvorhersehbare eigene Note verliehen hätte – ein 08/15-Krimi ist es keinesfalls. Ich habe sehr gerne (und wie so oft erfolglos) mitgerätselt, wer Simon Lee umgebracht hat. In weihnachtliche Stimmung hat mich das nicht unbedingt versetzt, die Lektüre hat aber wie immer großen Spaß gemacht. Und auch wenn die Mengen geflossenen Blutes für einen Christie-Krimi tatsächlich überdurchschnittlich sind, gehört er dennoch verlässlich in die Kategorie „Cosy Crime“. Klare Dezember-Empfehlung!

Verlag: Harper
Seitenzahl: 282
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 26. September 2013 (Erstausgabe: 1938)
ISBN: 978-0007527540
Preis: 7,49 € (E-Book: 6,99 €)

28. September 2018

Agatha Christie: And then there were none

Diesen absoluten Klassiker habe ich vor ca. 18 Jahren schon einmal gelesen – damals allerdings auf Deutsch und noch unter dem Titel „Zehn kleine Negerlein“. Als „Ten little Niggers“ wurde der Roman im Jahr 1939 in England erstveröffentlicht, doch schon als er 1940 in den USA erschien, wählte man als Titel „And then there were none“ – laut Wikipedia „mit Rücksicht auf die afroamerikanische Bevölkerung“, was mich positiv überrascht hat: Ich hätte gar nicht gedacht, dass damals schon sprachliche Rücksicht genommen wurde. Ab 1985 wurde der amerikanische Titel auch in Großbritannien verwendet.
Die Titelhistorie im deutschsprachigen Raum liest sich fast diametral: Die deutsche Erstveröffentlichung geschah unter dem Titel „Letztes Weekend“ im Jahr 1944, doch ab 1982 wurde der Krimi unter dem Titel „Zehn kleine Negerlein“ veröffentlicht. Während man sich also in den 1980er Jahren überall im englischsprachigen Raum vom Originaltitel verabschiedete, wurde er im deutschsprachigen Raum erst eingeführt. 2003 stieg man dann auch hierzulande auf „Und dann gabs keines mehr“ um.
Sowohl alter als auch neuer Titel verweisen auf einen Abzählreim, der in diesem Krimi eine bedeutende Rolle spielt – in der aktuellen englischen Ausgabe ist allerdings von „Ten little soldiers“ die Rede.


„And then there were none“ gilt als erfolgreichster Krimi aller Zeiten, laut Wikipedia wurden 100 Millionen Exemplare verkauft. Ich würde ihn jedem empfehlen, der noch nichts von der Queen of Crime gelesen hat, aber zumindest einmal in ihr umfangreiches Werk hineinschnuppern will. Hier gibt es keine Miss Marple, keinen Hercule Poirot, keine Anspielungen auf ältere Werke, nur einen meisterhaft konstruierten Fall mit einer glasklaren Ausgangssituation und einer schlüssigen, aber meiner Meinung nach unmöglich zu erratenden Auflösung. Obwohl Agatha Christie „And then there were none“ bereits vor 80 Jahren geschrieben hat, hat die Geschichte nichts von ihrer Spannung eingebüßt. Die Grundidee ist so einfach wie fesselnd: Zehn einander unbekannte Menschen werden unter verschiedenen Vorwänden in eine Luxusvilla auf einer kleinen, einsamen Insel gelockt. Nach dem ersten Abendessen findet die gute Stimmung ein jähes Ende: Eine zuerst nicht zuordbare Stimme verliest zehn Anklagen – jeder der Anwesenden wird mit einem ungesühnten Tötungsdelikt in Verbindung gebracht. Schock und Empörung sind groß, man ist sich schnell einig, die Insel am nächsten Morgen wieder verlassen zu wollen. Doch ein Sturm zieht auf und schon einer der Anwesenden wird nicht mal mehr diesen ersten Abend überleben …

Beim Wiederentdecken des Krimis musste ich an einen anderen denken, den ich vor ein paar Monaten gelesen habe. Die Autorin hat sich eventuell sogar von Agatha Christie inspirieren lassen; sie schilderte ein Klassentreffen in einer abgelegenen Hütte im Wald, bei der gleich mehrere der ehemaligen Klassenkameraden nach und nach ermordet werden. Dieser Krimi hatte mich ziemlich enttäuscht: Er war verworren, überladen und die Auflösung am Ende einfach billig. Der Unterschied zu „And then there were none“ ist wie Tag und Nacht: Agatha Christie geht sehr reduziert vor. Die Anzahl der handelnden Figuren ist überschaubar, über das Leben der einzelnen Protagonisten erfährt man nur so viel wie nötig. Auch der Schauplatz ist schnell beschrieben, selbst der unbekannte Mörder macht seine Absichten relativ deutlich klar. Und dennoch tappt man als Leser komplett im Dunkeln – bis zur Auflösung. Diese ist höchst raffiniert, schlüssig durchdacht und glaubwürdig. Und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass man von alleine darauf kommen kann – ganz großes Kino! Dessen war sich auch die Autorin bewusst; der englischen E-Book-Ausgabe ist eine Notiz von ihr vorangestellt: „I had written this book because it was so difficult to do that the idea had fascinated me. […] I wrote the book after a tremendous amount of planning, and I was pleased with what I had made of it. It was clear, straightforward, baffling, and yet had a perfectly straightforward explanation […] It was well received and reviewed, but the person who was really pleased with it was myself, for I knew better than any critic how difficult it had been.”

“And then there were none” war Agatha Christies 26. Krimi. Sie schrieb ihn also mit großer Erfahrung und ihre Einschätzung des Textes zeugt von einem gesunden Selbstbewusstsein. Ich kann nur sagen: zu Recht!

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 400
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 3. März 2003, der Krimi an sich erschien jedoch am 6. November 1939 erstmals.
ISBN: 978-0007136834
Preis: 5,99 € (E-Book: 5,99 €)

30. April 2018

Trevor Noah: Born a crime

Diese autobiographischen Geschichten haben meinen Südafrika-Urlaub sehr bereichert und mir Einblicke in das Land gegeben, die mir sonst weder in Kapstadt, Johannesburg noch auf der Garden Route vermittelt wurden. Sie wurden nicht im eigentlichen "Romanregal" fotografiert, weil ich sie gar nicht mehr nach Hause mitgenommen, sondern gleich nach der Lektüre weiter verliehen habe. Manchmal muss man Prioritäten setzen!


Der deutsche Titel dieses grandiosen Buches ist „Farbenblind“. Warum, hat sich mir nicht erschlossen, denn die Gesellschaft, in die der Südafrikaner Trevor Noah 1984 hineingeboren wird, ist nicht „farbenblind“, sondern zutiefst farbenfixiert, was er von klein auf zu spüren bekommt. Trevor Noahs Hautfarbe belegt ab dem Tag seiner Geburt, dass gegen „Immorality Act No. 5“ der Apartheidsgesetze verstoßen wurde: Er ist farbig – obwohl er eine schwarze Mutter hat. Was nur bedeuten kann, dass sein Vater weiß ist, und dass er und Trevors Mutter den genannten Paragraphen missachtet haben, der Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben sexuelle Beziehungen untersagt und Verstöße mit bis zu fünf Jahren Gefängnis ahndet. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Titel der englischen Ausgabe auf einen Blick: „Born a crime“. Was für ein Start ins Leben – ein Leben, in dem der weiße Vater in der Öffentlichkeit panisch die Flucht vor seinem „Daddy“ rufenden Kleinkind ergreift, die Mutter zum Spaziergang im Park gerne eine farbige Freundin mitnimmt und die schwarze Großmutter den Enkel in ihrer Hütte versteckt hält, wenn er sie in Soweto besucht. Trevor Noah ist mit einer besonderen Sensibilität in Bezug auf Hautfarben aufgewachsen – gezwungenermaßen. Er konnte sich die hier gemeinte „Farbenblindheit“ nicht leisten.

In seinen autobiographischen Rückblicken lässt er den Leser an seiner Kindheit und Jugend in Johannesburg teilhaben. Mit fantastischer Leichtigkeit schildert Noah, was es für ihn als farbiges Kind bedeutet hat, im Apartheids- und Postapartheids-gebeutelten Südafrika aufzuwachsen. Bereits auf den ersten Seiten schafft er es mühelos, auch seine ausländischen Leser in diese zutiefst rassistische Welt mitzunehmen und ihren Horizont zu erweitern.
Ich habe Trevor Noahs „Born a crime“ als Geschenk empfunden. Der Autor ist nur zwei Jahre jünger als ich. Er ist unter Bedingungen aufgewachsen, die mir kaum fremder sein könnten und schafft es trotzdem, seine damaligen Lebensumstände gleichsam unterhaltsam und nachvollziehbar zu schildern. Er nimmt seine Leser an die Hand und erklärt, worauf ein nicht-südafrikanischer Leser vermutlich nicht kommt: Wieso bleiben Menschen freiwillig in Townships wohnen? Wieso kam es vor, dass schwarze Mütter ihre Söhne „Hitler“ nannten? Wieso hatten Gebetskreise in Soweto die Hoffnung, dass Gott ein farbiges Kindes eher erhören würde als schwarze Frauen?

Trevor Noah musste von klein auf lernen, was es heißt, anders zu sein, wuchs er doch in einem Land auf, dass Menschen ausschließlich über ihre Hautfarbe und Stammesangehörigkeit definierte. Er lernte nach und nach, sich wie ein Chamäleon an seine Umgebung anzupassen – sein Schlüssel war dabei die Sprache, er beherrschte neben Englisch noch isiXhosa, isiZulu und andere und verblüffte damit, dass er sich so nicht in die Schublade sortieren ließ, in die der typische Farbige gesteckt wurde. Meine naive Vorstellung war ja, dass sich das Thema Hautfarbe mit dem Ende der Apartheid in Südafrika zu größeren Teilen erledigt hätte, doch diese wurde schnell ausgeräumt.

Eine Freundin, die das Buch auf Deutsch angelesen hat, äußerte sich mir gegenüber enttäuscht über die Einfachheit der Sprache. Bei meiner Lektüre auf Englisch ist mir nicht aufgefallen, dass Noahs Stil in irgendeiner Art und Weise schlicht wäre. Ich kenne die Übersetzung jedoch nicht und bin im Englischen sicher nicht so sprachsensibel wie im Deutschen. Es ist klar, dass Trevor Noah kein Literat ist – das ist nicht sein Metier. Der Südafrikaner ist ein höchst erfolgreicher Comedian, der seit 2015 als Nachfolger von Jon Stewart die Late-Night-Show „The Daily Show“ in den USA moderiert. Er ist Unterhalter und hat ein höchst unterhaltsames und trotzdem sehr reflektiertes Buch geschrieben – angesichts des Inhalts ist das in meinen Augen eine große Leistung.

„Born a crime“ vermittelt dem Leser eine leise Ahnung davon, was Apartheid für die Betroffenen wirklich bedeutet hat - und was in Südafrika bis heute im Argen liegt. Es verdeutlicht, warum "Farbenblindheit" bis heute ein frommer Traum ist und ist trotzdem nicht verbittert, sondern feiert das Leben. Ich kann es nur empfehlen.

Verlag: Spiegel & Grau
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 19. September 2017 (Hardcover: 15. November 2016)
ISBN: 978-0525509028
Preis: aktuell 7,99 € (E-Book: 4,49 €)

Ist am 6. März 2017 auf Deutsch beim Karl Blessing Verlag unter dem Titel "Farbenblind" erschienen. Preis: 19,99 € (E-Book: 15,99 €).

2. April 2018

Agatha Christie: The ABC Murders

Ich mag Cosy Crimes, klassische Whodunnits. Und ab und an lese ich gerne einen Krimi von der Großmeisterin der Whodunnits: Agatha Christie. Früher mochte ich ihre Miss Marple weitaus lieber als Hercule Poirot, aber inzwischen habe ich mich auch mit ihm angefreundet. Die meisten Romane über ihren belgischen Ermittler schrieb Agatha Christie in den 1930ern - sie sind also schon ordentlich in die Jahre gekommen, was man an der Sprache auch durchaus merkt. Doch ansonsten gilt: Mord verjährt nicht ... und Raffinesse auch nicht!


„The ABC Murders“ wurden bereits vor 82 Jahren zum ersten Mal veröffentlicht, als einer von den 33 Krimis, in denen Agatha Christie ihren Hercule Poirot ermitteln lässt – hier zusammen mit seinem Freund Captain Hastings, der die Rolle eines Sidekicks einnimmt und so ahnungslos ist wie der Leser. Bzw. ist der Leser so ahnungslos wie er – Captain Hastings fungiert nämlich auch als Erzähler. In einem Vorwort kündigt er an, auch einige Szenen zu schildern, bei denen er nicht präsent war, die er aber im Nachhinein glaubt, wahrheitsgetreu aufschreiben zu können. Diese Szenen machen einen besonderen Reiz des Buches aus: Durch sie weiß der Leser mehr, als Captain Hastings während des jeweiligen Standes der Ermittlungen wissen konnte. Doch Christie wäre nicht Christie, wenn sie ihren Lesern nicht trotz deren Wissensvorsprüngen stets eine ordentliche Nasenlänge voraus wäre.
„The ABC Murders“ beginnen vielversprechend: Poirot erhält einen Brief, in dem er von einem Unbekannten herausgefordert wird. Dieser nennt sich ABC und kündigt einen Mord an – mit Datums- und Ortsangabe. Poirot ist beunruhigt, während die Polizei das Schreiben nicht ernst nimmt. Dann geschieht jedoch tatsächlich ein Mord in der Ortschaft Andover, am angekündigten Tag. Und bald erhält Poirot den nächsten Brief von ABC …

Christie scheint sich hier auf ungewohntem Terrain zu bewegen: Mit ABC hat sie einen Serienmörder erschaffen, der sich vor Poirot brüsten will. Doch reicht das als Motiv für mehrere kaltblütige Morde? Poirot selbst steht vor einem Rätsel. Der Mörder scheint ungehindert agieren zu können, ohne dass der belgische Detektiv mit dem stolzen Schnurrbart irgendeine Chance hat, einzugreifen. Doch dann, im furiosen Finale, holt er wie gewohnt aus. Und Christie lässt ihre Leser mal wieder ungläubig-fasziniert zurück.
 „The ABC Murders“ sind ein gelungenes Beispiel dafür, dass gute Krimis nicht aus der Mode kommen. Inhaltlich kann der Fall mühelos mit heutigen Cosy Crimes mithalten (wobei ein Serienmörder vielleicht nicht ganz so cosy ist, wie man es sonst von Christie gewohnt sein mag). Einzig die Sprache wirkt etwas altmodisch und ich stieß im Englischen auf mehr unbekannte Vokabeln als bei zeitgenössischen Krimis. Doch das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Agatha Christie ist und bleibt die Queen of Crime, die ihre Leser auch im 21. Jahrhundert noch mühelos verblüfft.

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 331
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 26. September 2013, der Krimi an sich erschien jedoch am 6. Januar 1936 erstmals.
ISBN: 978-0007527533
Preis: 6,99 € (E-Book: 5,99 €)

25. Oktober 2017

Naomi Alderman: "The Power"

Bei einer Lovelybooks-Leserunde im Juli habe ich "The Power" von Naomi Alderman gewonnen und mich sehr darüber gefreut. Bevor ich es bei Lovelybooks gesehen hatte, hatte ich noch nie von dem Buch gehört; es ist bislang allerdings auch nur auf englisch erhältlich. Im März 2018 wird es unter dem Titel "Die Gabe" auch in deutscher Sprache erscheinen.
Die Stimmen zu dem Roman klangen wahnsinnig vielversprechend und waren auch außergewöhnlich vielseitig: Von Financial Times ("The Power is a blast") bis hin zu Cosmopolitan ("The Hunger Games crossed with The Handmaid's Tale"). Margaret Atwood, die dieses Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen hat, hat schön anschaulich beschrieben: "Electrifying! Shocking! Will knock your socks off! Then you'll think twice about everything."


Tja, und was sage ich? Das Buch war kein reines Lesevergnügen, beruht aber auf einem sehr interessanten Gedankenexperiment:

Wenn Frauen die Welt regieren würden …


… dann wäre diese ein friedlicherer, gerechterer und harmonischerer Ort - oder? Naomi Aldermans „The Power“ belehrt die Leser eines Besseren. Ein Buch im Buch beschreibt die dystopischen Entwicklungen, die das Kräfteverhältnis der Geschlechter umkehren. Junge Mädchen entdecken, dass ihre Körper Elektrizität erzeugen können und dass sie in der Lage sind, diese gezielt als Waffe einzusetzen. Plötzlich sind es Jungen, die schutzbedürftig erscheinen und in der Folge von den Mädchen getrennt werden. Und das ist erst der Anfang …
Das Buch hat vier Hauptfiguren, drei von ihnen weiblich. Roxy wird als Teenager Zeuge der Ermordung ihrer Mutter, Politikerin Margot verachtet ihren unsympathischen Chef und Pflegekind Allie hat schon einiges mitgemacht im Leben. Ihnen allen verschafft „The Power“ die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Journalistikstudent Tunde arrangiert sich dagegen schnell mit den neuen Verhältnissen und wird zum Chronisten der Veränderungen; er reist zu den Hotspots der Umbrüche und berichtet. Und Umbrüche gibt es weltweit – „The Power“ ist überall gleichzeitig ausgebrochen. Sie ermöglicht Frauen global, sich gegen ihre Unterdrücker aufzulehnen. Doch was ist noch Verteidigung und was schon Angriff? Was ist durch Gewalt erzeugte Gegengewalt und was beruht einfach nur auf Grausamkeit? Was lässt sich noch irgendwie rechtfertigen und was ist einfach nur ein Missbrauch der neuen Macht?

Naomi Aldermann entwirft eine Dystopie, die zugleich fesselnd und unangenehm ist. Nachdem man sich als Leserin erstmal halbwegs entspannt zurücklehnt, weil hier und da scheinbar Gerechtigkeit hergestellt wurde, kommt schnell ein immer größeres Unbehagen auf. Männer werden vermehrt Oper von Übergriffen. Einige werden im Job zu Sexobjekten degradiert, andere trauen sich kaum mehr alleine aus dem Haus. Und dann gibt es auch noch eine neue Religion mit einer Prophetin, die wie eine Heilige verehrt wird und die neue Macht der Frauen zu legitimieren und zu festigen scheint. Dass irgendwann eine Art von Gewöhnung an „The Power“ einsetzt, bedeutet nicht, dass sich die Lage beruhigt – im Gegenteil. So viel zum Thema: „Wenn Frauen die Welt regieren würden …“  Naomi Alderman macht sich da keinerlei Illusionen. Was sie mehr als deutlich ausführt: Macht verändert. Jeden. Und eine Veränderung zum Positiven ist leider die Ausnahme. Dafür findet sie viele Beispiele aus total verschiedenen Bereichen und irritiert, wenn sie teils bekannte Mann-Frau-Situationen einfach immer wieder umdreht.

Drastischer und plastischer wird das Ganze noch dadurch, dass die Autorin ein „Buch im Buch“ geschaffen hat. Diesem ist ein Mailwechsel zwischen Autor und Lektorin (dem Alter Ego der Autorin) vorangestellt, in dem der Autor beschreibt, dass er sein Geschichtsbuch „The Power“ in die Form einer Erzählung gebracht hat, damit es nicht so trocken ist. Zusätzlich werden immer wieder historische Artefakte abgebildet, die das Geschlechterverhältnis in vergangenen Zeiten untermauern sollen. Als Leser fragt man sich immer häufiger, wo das alles eigentlich enden soll, zumal der Text wie ein Countdown aufgebaut scheint. Kein Wohlfühl-Buch! Aber ein sehr interessantes Gedankenexperiment, das nachdenklich macht und mich durchaus verstört zurückgelassen hat.

Verlag: Penguin
Seitenzahl: 341
Erscheinungsdatum: 6. April 2017
ISBN: 978-0670919963
Preis: aktuell 7,99 € (E-Book: 10,32 €)

Erscheint am 12.03.2018 auf deutsch beim Heyne Verlag unter dem Titel "Die Gabe". Preis: 16,99 € (E-Book: 13,99 €).