30. Dezember 2019

Lara Prescott: Alles, was wir sind

Starke Frauen.

„Doktor Schiwago“ habe ich nicht gelesen und auch den berühmten Film mit Omar Sharif nur einmal im Fernsehen gesehen – und das ist schon ewig her. Noch weniger als über den Inhalt des Klassikers wusste ich allerdings über die Geschichte seiner Veröffentlichung. Das hat sich durch diesen lesenswerten Roman geändert, der durch den transparenten Buchumschlag außerdem ein echter Hingucker ist:


Lara Prescotts Debüt „Alles, was wir sind“ dreht sich um die Publikations- und Rezeptionsgeschichte des russischen Romans „Doktor Schiwago“, die es in sich hat. Von offizieller Seite versuchte man seinen Autor Boris Pasternak schon während des von 1946 bis 1955 dauernden Schreibprozesses zu stoppen und verhaftete dessen Geliebte und Muse, Olga Iwinskaja, die Jahre im Gulag verbrachte. Nachdem der Roman fertiggestellt worden war, wagte in der UdSSR kein Verlag die Veröffentlichung. Im Ausland wuchs dagegen das Interesse an dem Text: Unter anderem die CIA hatte ein Auge darauf geworfen, denn wenn man der russischen Bevölkerung einen Text zugänglich machen würde, die die eigene Regierung ihr vorenthielte, würde das hoffentlich zur Schwächung ebendieser beitragen.

„Doktor Schiwago“ war also schon lange vor der Veröffentlichung des Romans ein grenzüberschreitendes Politikum. Autorin Prescott bringt es ihren Lesern nahe, indem sie die Geschichte aus verschiedenen Perspektiven erzählen lässt: Zum einen aus Olgas, der russischen Muse, die für den Text immer wieder ihre Freiheit aufs Spiel setzt. Auch Pasternak selbst kommt ab und zu zu Wort, aber nicht so häufig wie verschiedene CIA-Agentinnen, die von Washington aus versuchen, die Publikation des Textes in die Wege zu leiten. Und dann sind da noch die Stenotypistinnen; quasi der Schreibpool der CIA, bestehend aus überqualifizierten Frauen, die als bessere Sekretärinnen kurz gehalten werden – in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre war Karriere auch in den USA immer noch Männersache.

Wie der amerikanische Geheimdienst versuchte, Literatur im Kalten Krieg zu instrumentalisieren, fand ich spannend zu lesen. Speziell bei dem CIA-Handlungsstrang wollte Prescott aber vielleicht zu viel: Hier geht es auch noch um das Privatleben einzelner Agentinnen, das interessant erzählt ist und wiederum für die damalige Zeit sensibilisiert, aber nichts mehr mit „Doktor Schiwago“ zu tun hat. Überhaupt kommt das Buch im Buch, um das sich im Roman doch alles drehen sollte, stellenweise etwas kurz: Welche Inhalte nun dafür sorgten, dass „Doktor Schiwago“ in der UdSSR nicht erscheinen dürfte, die Amerikaner die Veröffentlichung jedoch mit allen Mitteln vorantreiben wollten, wird nicht weiter benannt.

„Alles, was wir sind“ liest sich ansonsten locker, gibt Einsichten in komplett unterschiedliche Lebenswelten und handelt von vielen starken Frauen, die sich nicht von ihren Wegen abbringen lassen. Ein Roman über die Macht der Literatur – ob der Text an sich die Politik jedoch wirklich auf irgendeine Art und Weise beeinflusst hat, lässt Prescott im Dunkeln.

Verlag: Rütten & Loening
Seitenzahl: 475
Erscheinungsdatum: 8. November 2019
ISBN: 978-3352009358
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

24. Dezember 2019

Donna Tartt: Der kleine Freund

Einsamkeit, Schlangen und ein verfehltes Thema.

Achtung, jetzt wird es unweihnachtlich. Harmonie oder Besinnlichkeit werden nicht aufkommen und auch einen Buchtipp für das perfekte Last-Minute-Geschenk kann ich nicht bieten. Wobei ich an dieser Stelle nochmal den Roman „Der Distelfink“ von Donna Tartt erwähnen möchte. Dieses Buch hat mich vor ca. drei Jahren bewegt und begeistert – leider habe ich damals noch nicht regelmäßig Rezensionen geschrieben. Dafür besorgte ich mir relativ schnell den Roman, den die Autorin vor dem „Distelfink“ veröffentlicht hatte. Gelesen habe ich ihn allerdings erst jetzt.


„Der kleine Freund“ ist Donna Tartts zweiter Roman. Die Autorin hat an dem 767 Seiten-Epos 10 Jahre lang gearbeitet und ich fand, dass die Handlung vielversprechend klang. Hauptfigur ist ein 12-jähriges Mädchen, eigensinnig, eigenbrötlerisch und überdurchschnittlich intelligent. Harriet wächst mit ihrer Schwester Allison und ihrer Mutter in Alexandria, einer Kleinstadt in den Südstaaten auf, in Nachbarschaft zu ihrer Oma und drei alleinstehenden Großtanten. Ihre komplette Kindheit ist von einem Familientrauma überschattet, das sich ereignet hat, als sie noch ein Baby war: Ihr damals neunjähriger Bruder Robin wurde am Muttertag erhängt im Garten seines Elternhauses aufgefunden. Die Identität des Mörders ist auch 12 Jahre später noch komplett unklar. Doch nun beschließt Harriet, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen …

Als ich mit „Der kleine Freund“ begann, habe ich keinen Krimi erwartet, aber das „eindringliche Porträt einer außergewöhnlichen Familie“, das der Goldmann Verlag auf dem Buchrücken anpreist. Außergewöhnlich ist die Familie Cleve dann auch tatsächlich, vor allem durch ihre Dysfunktionalität. Harriets Mutter ist vom Tod ihres Sohnes zutiefst traumatisiert, wandelt somnambul durch den Tag und kümmert sich so gut wie nicht um ihre heranwachsenden Töchter. Die ältere, Allison, 16 Jahre alt, tut es ihrer Mutter nach und flüchtet sich in den Schlaf, so oft sie kann. Der Vater arbeitet einige Stunden entfernt und lässt sich nur sehr sporadisch bei seiner Familie blicken. Den Haushalt aufrecht hält eine schlechtbezahlte, dunkelhäutige Angestellte: Ida.
Wie Donna Tartt – zwar nur am Rande, aber dennoch deutlich – den Südstaaten-Rassismus skizziert, war für mich noch das gelungenste an diesem Buch. In Alexandria gibt es alles: Südstaatenvillen mit ausschließlich dunkelhäutigen Bediensteten; alteingesessene Familien, denen das Geld langsam, aber sicher, abhandenkommt; Neureiche und den sogenannten „White Trash“, auf dessen Kinder Ida verächtlich hinabschaut. Tartts Figuren sind alle komplex, nicht einfach gut oder böse, Opfer oder Täter. Und viele von ihnen scheinen nie eine richtige Chance gehabt zu haben, sich anders zu entwickeln.

Aber das hätte die Autorin auch auf weniger Seiten verdeutlichen können. Stattdessen macht sie die Langeweile im Leben einer vernachlässigten 12-jährigen mit Händen greifbar. Hitze, Staub, Ereignislosigkeit und leichte Verwahrlosung – davon handelt dieses Buch. Und von einem Mädchen mit einer fixen Idee. Ich habe nicht gezählt, wie viele Kapitel ihrer Suche nach einer Schlange gewidmet sind, aber über die verschiedenen, in den Südstaaten und anderswo lebenden Exemplare, ihre Färbung und ihren Geruch habe ich mehr erfahren, als ich je wollte. Und was mich am meisten gestört hat: Der Roman führt zu nichts. Zwar gibt es einen durchaus dramatischen Showdown, aber das in den ersten Kapiteln umrissene Thema des Buches wurde komplett verfehlt. Nach vielen hundert Seiten fühlte ich mich schließlich um die eigentliche Geschichte betrogen. Und so war „Der kleine Freund“ für mich vor allem eine große Enttäuschung.

Aber neues Buch, neues Glück. Und jetzt wünsche ich erst einmal frohe Weihnachten und schöne Feiertage!

Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 784
Erscheinungsdatum: 16. Oktober 2017
ISBN: 978-3442487325
Preis: 13,00 € (E-Book: 9,99 €)

17. Dezember 2019

Jojo Moyes: Mein Herz in zwei Welten

Gelungener Abschluss.

In dieser Adventszeit habe ich es schlichtweg verpasst, mir schön weihnachtlich angehauchte Lektüre zu besorgen. Stattdessen hänge ich seit Wochen in einem staubigen Südstaatenroman fest, den ich auf jeden Fall rezensieren werde, sobald ich ihn endlich beendet habe – nicht, weil er so lesenswert wäre, sondern weil ich das Gefühl habe, ihn mir gerade hart zu erarbeiten. Ende November las ich noch ein Buch ganz anderen Kalibers, da flog ich quasi durch die Seiten und die Lektüre hat mich stellenweise sehr berührt, obwohl ich nicht allzu viel erwartet hatte. „Ein ganzes halbes Jahr“ fand ich großartig, „Ein ganz neues Leben“ war eben die Fortsetzung, in der man die Hauptfigur durch eine verzweifelte Zeit begleitete. Jetzt noch ein dritter Band – musste das überhaupt sein?


Jojo Moyes entführt ihre Leser in „Mein Herz in zwei Welten“ wieder in das Leben von Louisa Clark, die zu Beginn des Buches ihren neuen Job als private Assistentin in Manhattan antritt, für den sie sich bereits am Ende von "Ein ganz neues Leben" entschieden hatte. Ihre Londoner Wohnung, ihre liebenswert schrullige Familie und ihren neuen Freund Sam hat sie zurückgelassen, um für die reiche Familie Gopnik zu arbeiten, bzw. für Agnes Gopnik – die zweite, noch relativ neue und deutlich jüngere Ehefrau von Mr. Gopnik, die von der erwachsenen Tochter des Hausherren verachtet und von der Haushälterin gehasst wird. Mrs Gopnik betrachtet Louisa bald als persönlichen Rettungsanker und beste Freundin – wobei Louisa sehr schnell klar wird, dass diese „Freundschaft“ eine absolute Einbahnstraße ist. Sie versucht, alles unter einen Hut zu bekommen: Die glamourösen Events, Agnes Eskapaden, ihre eigene Sehnsucht nach Sam. Stellenweise fühlte ich mich ein bisschen an „Der Teufel trägt Prada“ erinnert.
Aber dann nimmt der Roman eine unerwartete Wendung. Louisa findet nach und nach zu ihrem alten Selbst zurück bzw. zu dem Selbst, das Will in ihr gesehen hat, als Louisa noch gar nicht wusste, was in ihr steckt. Das war schön zu lesen und spannt irgendwie auch einen Bogen zum ersten Buch. Jojo Moyes kann Emotionen nachvollziehbar und echt schildern, ohne dass es je kitschig oder rührselig wird. Egal ob Haupt- oder Nebenfiguren: Alle Charaktere wirken greifbar und lebendig, sie schildert sie ausnahmslos authentisch. Damit hat sie mich wieder begeistert und ich habe „Mein Herz in zwei Welten“ sehr zufrieden beendet. Mir erscheint die Geschichte jetzt wirklich auserzählt, aber sollte die Autorin Louisa noch ein viertes Buch widmen, werde ich vermutlich trotzdem nicht widerstehen können.

Verlag: Wunderlich
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 23. Januar 2018
ISBN: 978-3805251068
Preis: 22,95 € (Taschenbuch: 12,- €, E-Book: 9,99 €)

27. November 2019

Christian Torkler: Der Platz an der Sonne

Harter Perspektivwechsel

Der 1978 geborene Josua wächst vaterlos in einem Entwicklungsland auf. Seine gottesfürchtige Mutter schafft es mit verschiedenen Gelegenheitsjobs gerade so, ihre drei Kinder zu ernähren, aber eine Wohnung mit fließendem Wasser oder eine höhere Schulbildung kann sie ihnen nicht ermöglichen. Nach seiner Schulzeit arbeitet sich Josua vom Straßenverkäufer zum Parkplatzwächter hoch und fährt irgendwann sogar Taxi. Manchmal erscheint ihm das Glück zum Greifen nah, doch das Schicksal schlägt immer wieder zu und in einer hoch korrupten Diktatur und Mangelwirtschaft ist es nahezu unmöglich, etwas auf die Beine zu stellen. Dabei will Josua doch nur raus aus Elend, Schmutz und Hoffnungslosigkeit. Aber kann ihm das in seiner Heimat überhaupt gelingen – oder ist der einzige Ausweg die Migration ins gelobte Land auf der anderen Seite des Mittelmeers?


Soweit, so bekannt, mag der ein oder andere jetzt denken – aber Stopp! Christian Torkler beschreibt in „Der Platz an der Sonne“ nicht die Geschichte eines afrikanischen Flüchtlings, der von Europa träumt. Im Gegenteil: Jousa Brenner wächst in Berlin auf, der Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, die nach drei Weltkriegen immer noch halb in Schutt und Asche liegt, obwohl die reichen afrikanischen Demokratien Entwicklungshilfe leisten und nairobische Partnergemeinden neue Kirchendächer spendieren. Sehnsuchtsziel von Josua und seinen Kumpels ist dann auch Matema im reichen Tanganyika: „Wenn wieder einer weg war, hieß es, der ist in den Süden …“. Doch in seinem leicht schnodderigen Tonfall, der sich durch das gesamte Buch zieht, schildert er auch gleich den Haken an der Sache: Die reichen schwarzen Bongos wollen keine Armutsflüchtlinge. Aber was hat ein perspektivloses Weißbrot wie er schon zu verlieren?

Torkler betreibt den Perspektivwechsel in „Der Platz an der Sonne“ in einer so detaillierten Konsequenz, dass er mir richtig an die Nieren gegangen ist. Gedanklich nachzuvollziehen, warum ein afrikanischer Flüchtling nach Deutschland kommt, ist das eine – vom Elend im Entwicklungsland Preußen und der Sehnsucht nach Afrika zu lesen, aber etwas völlig anderes. Es braucht kaum noch Fantasie, um sich dieses im Roman sechsgeteilte Deutschland, in dem so einiges schiefgelaufen ist, vorzustellen: den Dreck, die nach drei Kriegen kaum wiederaufgebaute Infrastruktur, Kriegsruinen, schimmelige Wohnungen, scharfe Grenzen und ein komplett korruptes System. Torkler führt seinen Lesern gnadenlos vor Augen, was für ein großer Zufall es ist, in welche Verhältnisse man geboren wird und dass es gar nicht so viele historische Fehlentscheidungen braucht, um ein Land im Chaos versinken zu lassen. Dass die vage Hoffnung auf eine bessere Zukunft reichen kann, um alles hinter sich zu lassen, wird äußerst nachvollziehbar illustriert. Genau wie das Fluchtthema: Hier soll es in umgekehrter Richtung übers Mittelmeer gehen – doch schon der Weg zur Küste ist eine grausame Odyssee, die ihre Opfer fordert.

„Der Platz an der Sonne“ hat mich stellenweise kalt erwischt und ziemlich deprimiert. Torkler schildert schonungslos, wie das Leben in einem gänzlich anderen Deutschland aussehen könnte. Keine Feelgood-Lektüre, sondern ein harter Perspektivwechsel, der sich absolut lohnt. Man kann seine Komfortzone auch lesend verlassen – und weil Torkler einen auf jeder einzelnen Seite dazu zwingt, bereichert dieses Buch mindestens so sehr, wie es verstört.

Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 2. September 2018
ISBN: 978-3608962901
Preis: 25,00 € (E-Book: 19,99 €)

20. November 2019

Håkan Nesser: Der Verein der Linkshänder

Leider überladen

Vor ein paar Jahren habe ich fast alle Krimis verschlungen, in denen Håkan Nesser seinen Inspektor Barbarotti ermitteln ließ. Dass ich 2011 „Die Einsamen“ las, war eher Zufall, aber danach war es um mich geschehen und ich besorgte mir ein Buch nach dem anderen. Später verlor ich den Autor aus den Augen und freute mich vor ein paar Wochen um so mehr, als ich die Möglichkeit bekam, sein neuestes Buch „Der Verein der Linkshänder“ zu rezensieren, in dem Inspektor Barbarotti sogar in Erscheinung tritt – neben Van Veteeren, Hauptkommissar im Ruhestand, um den Håkan Nesser seine erste, zehn- (jetzt elf-)bändige Krimireihe geschrieben hat.
Ich hatte also hohe Erwartungen, als ich mit „Der Verein der Linkshänder“ loslegte. Doch zunächst fesselte mich der Krimi kaum.


Die Romangegenwart beginnt im Oktober 2012, nicht lange vor dem 75. Geburtstag des ehemaligen Hauptkommissars Van Veteeren, dem dieser ziemlich unbegeistert entgegensieht. Davon lenkt ihn jedoch bald die ihn noch weniger begeisternde Erkenntnis ab, dass ein Vierfach-Mord, den er 1991 aufgeklärt hat, gar nicht aufgeklärt ist. Die Leiche des mutmaßlichen Täters wird gefunden und er scheint am gleichen Tag ermordet worden zu sein wie die, die man für seine Opfer hielt. Plötzlich gibt es also einen 21 Jahre zurückliegenden, unaufgeklärten Fünffach-Mord. Die Opfer gehörten als Kinder und Teenager dem selbstgegründeten „Verein der Linkshänder“ an, hatten sich aber gute zwei Jahrzehnte lang nicht gesehen, bevor sie sich 1991 wiedertrafen – und wenige Stunden später gemeinsam ums Leben kamen.

Dass diese nun ans Licht kommende Verfehlung an Van Veteerens Ehre kratzte, konnte ich verstehen. Dass ein Dreivierteljahrhundert ein Geburtstag ist, den man nicht so einfach wegsteckt, auch. Dennoch ging mir beides bald auf die Nerven, denn Van Veteerens Befindlichkeiten wurden für meinen Geschmack deutlich zu viele Seiten eingeräumt. Aufgelockert werden diese Kapitel durch andere, die 1991 spielen und nach und nach das Wiedersehen der Linkshänder beschreiben. Und schließlich taucht auch noch Inspektor Barbarotti auf – wegen eines anderen Falls und schließlich dem Verdacht, dass alles miteinander zusammenhängen könnte.

Klingt kompliziert? Ist es auch. Und liest sich – nachdem Van Veteerens Geburtstag dann irgendwann vorbei ist und der Krimi doch langsam Fahrt aufnimmt – trotzdem recht gut, denn Håkan Nesser kann prima schreiben, Persönlichkeitsentwicklungen glaubhaft darstellen und spannende Geschichten entwerfen. Diese hier hat mal locker drei ausufernde Nebenhandlungen, die an und für sich alle interessant sind. Dennoch: Für meinen Geschmack will der Autor hier zu viel. Ein neuer Fall, ein alter Fall, ein noch älterer Fall, aktive Polizisten, Polizisten im Ruhestand, die Ehefrau eines Polizisten im Ruhestand, Trauer, Angst, Rache, Schuld … und trotzdem hatte ich noch vor Seite 200 eine Ahnung, wer der wahre Mörder sein könnte. Diese bestätigte sich dann auch gute 400 Seiten später.

Und dann war der Fall zwar aufgeklärt, ließ mich aber mit einigen großen Fragezeichen zurück, weil manche Geschehnisse einfach nicht logisch sind. Ich kann hier kaum Beispiele nennen, ohne zu spoilern, aber ich hatte den Eindruck, dass Handlungsstränge einfach abbrachen, sobald der Erklärungsbedarf zu offensichtlich wurde. Weniger wäre hier wohl mehr gewesen – weniger Schauplätze, Ermittler, Geburtstagsblues und nicht so viele Seiten. Ich denke, das hätte der Geschichte gutgetan.

Verlag: btb
Seitenzahl: 608
Erscheinungsdatum: 23. September 2019
ISBN: 978-3442758159
Preis: 24,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

14. November 2019

Jostein Gaarder: Genau richtig

Existenzielle Fragen, genau richtig gestellt

Ich hatte schon sehr, sehr lange nichts mehr von diesem Autor gelesen, als mir sein neuestes Büchlein in die Hände fiel und mich durch seine Dicke bzw. „Dünne“ überraschte. In meiner Erinnerung war der Norweger ausschließlich Verfasser langer und komplexer Romane, aber dieser sollte ja auch nur „Die kurze Geschichte einer langen Nacht“ enthalten. Das Cover wirkte gleich vertraut und erinnerte an „Sophies Welt“, „Das Kartengeheimnis“ und all die anderen Bücher des Autors, auf denen ebenfalls Illustrationen von Quint Buchholz abgebildet sind. Also: Ich war gespannt.


Jostein Gaarder wirft seine Leser in „Genau richtig“ ziemlich unvermittelt in die Geschichte: Sie beginnt briefförmig mit „Liebe alle,“ und es wird erst allmählich klar, dass da ein Ehemann, Vater und Großvater schreibt, der gerade eine Hiobsbotschaft erhalten hat. An einem einsamen, aber vertrauten Ort lässt er nun sein Leben Revue passieren, versucht in Worte zu fassen, was in ihm vorgeht und ringt außerdem um eine Entscheidung.
Wie immer bei Jostein Gaarder geht es dabei längst nicht nur um den Protagonisten, sondern bald auch um das große Ganze: das Universum, den Sinn oder Unsinn des Lebens, die Vergänglichkeit von allem: „Es hat nie ein Sein gegeben, sondern nur ein Werden, denn nichts auf der Welt hat Bestand.“ Der zwischenzeitliche Fatalismus des Ich-Erzählers erwischt den Leser durch solche kraftvollen Sätze mit voller Wucht. Auch auf 128 Seiten bringt Gaarder mühelos die großen Fragen der Menschheit unter, er schont Protagonisten und Leser in keiner Weise. Und schafft es dennoch, schließlich versöhnliche Töne anzuschlagen.

Für existentielle Themen findet Gaarder genau den richtigen Ton. Was die Dialoge in der Geschichte angeht, hatte ich ab und an den Eindruck, dass ihm die zwischenmenschlichen Untertöne nicht ganz so perfekt gelingen, aber das stört kaum und die meiste Zeit hält der Erzähler eh nur Zwiesprache mit sich selbst. Und so ist diese Geschichte, gerade gemessen an der Schwere ihres Themas „genau richtig“ und enthält viele kluge Gedanken.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 128
Erscheinungsdatum: 22. Juli 2019
ISBN: 978-3446263673
Preis: 16,00 € (E-Book: 11,99 €)

6. November 2019

Shari Lapena: Der zehnte Gast

Kurzweiliger Krimi im Christie-Stil

Das war bereits mein zweiter Thriller (bzw. eher Krimi) von Shari Lapena. „The couple next door“ hatte ich in gemischter Erinnerung: Durchaus spannend, aber mit Längen und auch Schwächen, vor allem in der Auflösung. Etwas vorsichtig ging ich daher an das neueste Buch der Autorin heran und war gespannt, ob mich das Ende dieses Mal nicht nur verblüffen, sondern auch überzeugen könnte. Umgehauen hat es mich nicht, war aber solide.


Shari Lapenas Setting in „Der zehnte Gast“ erinnert an ein Cosy Crime von Agatha Christie: Ein eingeschneites Luxushotel in der kanadischen Einöde, weder alle erwarteten Gäste noch das komplette Personal haben es rechtzeitig vor dem Eissturm ins Mitchell’s Inn geschafft. So sind nur sechs Zimmer belegt: Zwei junge Paare, ein älteres, eine Autorin und ein Staatsanwalt freuen sich mehr oder weniger auf ein weißes Wochenende. Der Inhaber und sein Sohn sind zuversichtlich, ihren Gästen auch unterbesetzt einen wunderschönen Aufenthalt bieten zu können. Doch bereits in der ersten Nacht fällt eissturmbedingt der Strom aus – und morgens wird eine Leiche gefunden …

„Der zehnte Gast“ enthält vieles, was einen guten Krimi ausmacht. Die überschaubare Anzahl an sehr unterschiedlichen Figuren hat mir gefallen, teilweise hätte ich mir die Charaktere allerdings etwas mehrdimensionaler gewünscht. Der ein oder andere Protagonist war mir zu schwarzweiß gezeichnet und so richtig sympathisch wird eigentlich auch keine der Figuren. Ordentlich Spannung kommt aber trotzdem auf, vor allem, da Lapena ihre Leser immer wieder in verschiedene Perspektiven schlüpfen lässt. Dadurch wird schnell klar: Mehr als einer der Anwesenden hat etwas zu verbergen. Aber macht das auch einen von ihnen zum Mörder?

Das Miträtseln hat mir Spaß gemacht und ich tappte lange – sehr lange – im Dunkeln und habe die Auflösung nicht kommen sehen. Das vielleicht etwas viel Zufall im Spiel war – geschenkt. Insgesamt ist „Der zehnte Gast“ solide Krimiunterhaltung an einem kalten Winterabend und lässt einen kaum mehr los, wenn man sich erstmal eingelesen hat. Mit Agatha Christie kann Lapena vom Raffinessegrad her nicht mithalten, aber es kann eben auch nur eine Queen of Crime geben (und, wie schon mal festgestellt: Auch die war nicht unfehlbar).

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 31. Oktober 2019
ISBN: 978-3431041279
Preis: 12,90 € (E-Book: 4,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar gelesen.

30. Oktober 2019

Bernhard Aichner: Der Fund

Grandioser Pageturner voller Wahnwitz

Dieser Thriller ist ein echtes Juwel. Das Cover sieht unscheinbar aus, doch in dem gelben Buchblock verbergen sich jede Menge Wahnwitz und Originalität. Der Erzählstil ist komplett ungewöhnlich. Kurz gesagt: Bereits nach wenigen Seiten bekam ich eine Ahnung vom Potential dieser Geschichte, die mich dann auch postwendend süchtig werden ließ.


„Der Fund“, um den es in dem gleichnamigen Thriller von Bernhard Aichner geht, wird von Supermarktverkäuferin Rita gemacht. Die unscheinbare und unbescholtene Mittfünfzigerin hat etwas entdeckt und entwendet – eine Entscheidung mit tödlichen Folgen: Bereits zu Beginn des Buches ist klar, dass Rita eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Aber was ist bloß passiert?

Das fragt sich auch ein männlicher Ermittler, über den sonst absolut nichts zu erfahren ist. Kapitel mit wörtlicher Rede – der Ermittler fragt, die oder der Befragte antworten – wechseln sich mit Rückblenden aus Ritas Leben ab. Die Kapitel sind kurz, der Erzählstil temporeich und die vielen Befragungen ergeben jede Menge Puzzlestücke – einzelne Anekdoten, von denen viele nicht zusammenhängen. Oder doch?

Die Ausgangssituation von „Der Fund“ ist so simpel wie der Plot einzigartig. Überdies ist Bernhard Aichner ein Meister des Menschlichen – er schildert Ängste, Sehnsüchte, Abgründe und Leidenschaften so lebendig, dass man die Figuren richtiggehend vor sich sieht. Und wann immer man denkt, man hätte die Geschichte endlich durschaut, vollführt der Autor eine 180 Grad-Wendung, die nicht vorhersehbar war und alle Ideen zum Einsturz bringt. Ein ungewöhnlicher, grandios erzählter Pageturner, der etwas wagt und alles gewinnt. Ich bin immer noch begeistert.

Verlag: btb Verlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 30. September 2019
ISBN: 978-3442757831
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

14. Oktober 2019

Veronika Peters: Die Dame hinter dem Vorhang

Von einer Dame, die ihrer Zeit voraus war

Nachdem ich gerade erst mit Annette von Droste-Hülshoff ins frühe 19. Jahrhundert eingetaucht bin, habe ich nun schon den nächsten Roman über eine Literatin gelesen, die ihrer Zeit weit voraus war. Im Gegensatz zur Droste sagte mir Edith Sitwell allerdings gar nichts, bis ich dieses vom Wunderraum Verlag farbenfroh-hübsch gestaltete Buch zur Hand nahm. Dabei war die 1887 geborene Engländerin ein Paradiesvogel ihrer Zeit und hatte ein für eine Frau damals ungewöhnliches Leben: Sie verfasste schon als Kind erste Werke, machte exzentrische Auftritte zu ihrem Markenzeichen, heiratete niemals und wurde 1954 vom Britischen Königshaus zur Dame geadelt.


Veronika Peters stellt Edith Sitwell in ihrem Buch „Die Dame hinter dem Vorhang“ gleich zwei ergebene Freundinnen zur Seite, die sie langjährig begleiten: Die erste ist Emma Banister, Gärtnertochter auf dem Adelssitz Renishaw, wo Familie Sitwell lebt. Emma ist sechs Jahre älter als Edith, doch die Mädchen freunden sich trotzdem heimlich an – was wohl vor allem daran liegt, dass „die kleine Miss E.“ Sitwell ein zutiefst einsames Kind ist, von seinem Vater mit Nichtbeachtung und seiner Mutter gar mit Verachtung gestraft. Emma bleibt viele Jahre die Vertraute von Edith und arbeitet schließlich als Hausmädchen im Herrenhaus.
Jahrzehnte später – und das ist der Beginn dieses nicht immer chronologisch erzählten Romans – bittet die inzwischen auf die 40 zugehende Edith Sitwell ihre Kindheitsfreundin, deren Tochter Jane Banister, knappe 18 Jahre alt,  als Hausmädchen einstellen zu dürfen. Aus Sicht dieser Jane, die ab da ihr Leben an der Seite von Sitwell verbringt, ist dieses Buch dann auch geschrieben. Es handelt von Freundschaft, Loyalität und Fürsorge und es hat mich fast geschmerzt, dass beide Banister-Frauen reine Erfindung sind. Sie habe ich in „Die Dame hinter dem Vorhang“ gut kennengelernt, während mir die Hauptfigur Edith Sitwell mit ihren Schrullen, Launen und Eigenarten doch ein Rätsel blieb. Als Dame Edith Alter und Möglichkeiten erreicht hatte, dem nachzugehen, was ihre Berufung war – Schreiben, Vortragen, Inszenieren, Fördern – hatte sie schon viele Verletzungen erlitten, war gewohnt, sich zu inszenieren und hinter einer dramatischen Fassade zu verstecken. Was wirklich in ihr vorging, wusste wohl kaum jemand. Veronika Peters Roman ist eine Hommage an ein exzentrisches Unikat, die sich federleicht lesen lässt, obwohl Dame Edith nicht wirklich greifbar wird. Allerdings habe ich mich insgeheim doch gefragt, ob dieses Buch der Künstlerin nicht viel zu brav und unaufgeregt gewesen wäre.

Verlag: Wunderraum
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 23. September 2019
ISBN: 978-3336548088
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

3. Oktober 2019

Agatha Christie: The Murder on the Links

Solider Fall mit irritierender Nebenhandlung

Hätte Agatha Christie Liebesromane geschrieben, würde sich heute kein Mensch mehr an ihr Werk erinnern – spätestens nach der Lektüre dieses Krimis bin ich davon überzeugt. Sicher hat man 1923, als dieses Buch auf Englisch erschien, anders über Zwischenmenschliches berichtet als heute. Dennoch: Die von Christie geschilderten Verbrechen scheinen fast zeitlos, wirken auch heute weder durchschaubar noch antiquiert. Beschreibt die Autorin dagegen Flirts und Liebesschwüre, wird zumindest mir ganz anders vor lauter Fremdscham.


Agatha Christies „The Murder on the Links“ ist eigentlich ein vielversprechender Fall: Poirot und seinen getreuen Gefährten Hastings ereilt der schriftliche Hilferuf eines in Frankreich lebenden Millionärs, der um sein Leben zu bangen scheint, jedoch in seinem Brief nicht ins Detail geht. Und obwohl sich der belgische Detektiv und sein Kompagnon direkt auf den Weg machen, treffen sie Herrn Renauld nicht mehr lebend an. Er wurde nachts auf dem Golfplatz erstochen. Seine Frau ist am Ende, sein Sohn verschweigt etwas, ein französischer Detektiv versucht, Poirot die Schau zu stehlen. Außerdem mischen gleich mehrere junge Frauen mit. Und so ist in „The Murder on the Links“ ganz schön was los. Der Fall ist ziemlich verzwickt, und zugegebenermaßen auch etwas überkonstruiert. Aber das hat mich kaum gestört. Und richtig gut gefallen hat mir, dass Poirot, anders als in Christies späteren Werken, nicht nur kryptische Andeutungen zu seinen Ermittlungen von sich gibt, sondern seine Gedanken mehrmals zumindest in Ansätzen teilt. Als ich dann nach 60% des E-Books einen plausiblen Verdacht hatte, was geschehen sein könnte, war ich fast stolz – das passiert mir bei Christie-Krimis eher selten.
Als nach 69% des Buches allerdings Poirot-Freund Hastings eine ähnliche Idee kam, desillusionierte mich das ziemlich. Denn wenn selbst er etwas merkt, muss die Sache einen Haken haben. Im Wikipedia-Eintrag zu „Mord auf dem Golfplatz“ steht, dass Christie selbst zugegeben hat, diese von ihr geschaffene Figur nicht zu mögen – kein Wunder. Es ist in der Kriminalliteratur kein Einzelfall, dass ein ermittelndes Genie einen loyalen Freund hat, neben dem es umso mehr glänzt, ohne die Bodenhaftung ganz zu verlieren. Aber Arthur Hastings stellt sich in „The Murder on the Links“ stellenweise so treudoof-dumm an, dass die Lektüre schon fast wehtut.
Apropos Wehtun: Und dann gibt es hier auch noch eine Liebesgeschichte, die zumindest aus heutiger Sicht so gar nicht überzeugt. Die „Queen of Crime“ wäre sicher niemals eine „Queen of Love“ geworden. „The Murder on the Links“ war allerdings auch erst ihr dritter Krimi, sie stand noch am Beginn ihrer Karriere. Es war übrigens auch ihr erstes auf Deutsch erscheinendes Buch (1927). Vielleicht muss man es als Frühwerk betrachten.
Habe ich „The Murder on the Links“ nun gerne gelesen? Trotz allem ja. Würde ich das Buch empfehlen? Wohl nur Christie-Fans.

Verlag: Harper Collins
Seitenzahl: 319
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 21. Mai 2015 (Erstausgabe: 1923)
ISBN: 978-0008129460
Preis: 7,99 € (E-Book: 1,07 €)

23. September 2019

Dror Mishani: Drei

„Bitte, liebe Leserinnen und Leser, versucht die Rezensionen so zu verfassen, dass das Geheimnis von Drei nicht enthüllt wird“ – so die Bitte des Diogenes-Verlags, die den Leseexemplaren dieses Romans beilag. Der genannte Wunsch machte mich schon einmal sehr neugierig auf das Buch – wie auch die Leserstimme auf dessen Rücken: „Rund um Mishanis neuen Roman Drei gibt es einen Hype, als ginge es um die neueste Staffel Game of Thrones.“ Tatsächlich stand dieses Buch mehrere Monate auf Platz 1 der israelischen Bestsellerliste (obwohl es mit Drachen, Schlachten, Fantasy absolut nichts zu tun hat). Aber was hat es denn nun mit diesem Hype auf sich?


Der von Dror Mishani geschriebene Roman „Drei“ handelt von drei in Israel lebenden Frauen, jeder von ihnen ist ein Abschnitt gewidmet. Orna, Emilia und Ella lernen jeweils denselben Mann kennen – einen Anwalt namens Gil Chamtzani. Die Auslöser für ihre Begegnungen sind unterschiedlich, wie sich auch alle von ihnen in unterschiedlichen Situationen befinden. Obwohl Gil die Konstante ist, die in jedem Abschnitt eine Rolle spielt, stehen die Frauen ganz klar im Fokus. Und sie sind Dror Mishani richtig gut gelungen; er proträtiert ihr Innenleben sehr einfühlsam und äußerst nachvollziehbar: Selbstverständnis, Sehnsüchte, Verletzungen und Ängste. Das Nachwort besteht aus einem Interview mit dem Autor, in dem er nach der Herausforderung gefragt wird, als Mann aus der Perspektive von Frauen zu schreiben. Seine Antwort finde ich spannend: „Wenn ich über männliche Figuren schreibe, ähneln sie immer mir. Meine weiblichen Figuren sind ganz anders als ich und sie unterscheiden sich auch untereinander.“
Mishani kennt seine Frauenfiguren in- und auswendig und gibt ihnen viel Raum. Die Gedanken von Gil lernt der Leser dagegen nicht kennen, was ich etwas bedauert habe.

Doch was ist nun das Besondere an „Drei“? Das Unvorhersehbare, das ich hier nicht andeuten will. Die von Mishani kreierten Richtungswechsel. Die Frauen, die mich beim Lesen nicht mehr losgelassen haben. Das „Hätte, Wäre, Würde“-Kino, das der Roman in meinem Kopf ausgelöst hat. „Drei“ ist ein intensives Leseerlebnis und Mishani ein Name, den ich mir merken werde. Übrigens auch, weil momentan gleich zwei Verfilmungen geplant sind: eine israelische TV-Serie und ihre internationale Adaption. Das sind doch Aussichten!

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 28. August 2019
ISBN: 978-3257070842
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

19. September 2019

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Diese Autorin kannte ich bereits – von ihren Romanen „Taxi“, „Dies ist kein Liebeslied“ und „Die entführte Prinzessin“. Einen historischen Roman über Annette von Droste-Hülshoff hätte ich von ihr allerdings nicht unbedingt erwartet. Historische Romane lese ich generell eher selten und wenn sie dann auch noch 592 Seiten haben, überlege ich mir dreimal, ob ich zugreife. Habe ich hier aber, weil ich mir relativ sicher war, dass diese Autorin etwas Besonderes aus ihrem Thema machen würde. Und ich wurde nicht enttäuscht.


Karen Duve schildert in „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ die Jugendjahre der Annette von Droste-Hülshoff. Sie ist Anfang 20, wohnt – wie im 19. Jahrhundert für unverheiratete adelige Damen üblich – bei ihren Eltern, schreibt Gedichte und besucht häufig die weitläufige Verwandtschaft. Die standesüblichen Beschäftigungen junger Damen – sticken, stricken, Gartenpflege – interessieren sie wenig, nur zum Musizieren lässt sie sich hin und wieder hinreißen und hat da anscheinend ein gewisses Talent, wenn auch ihre laute, grelle Stimme als nicht besonders ladylike empfunden wird.

Aber so richtig ladylike ist Fräulein Nette eh nicht bzw. scheint sie den ihr zugedachten Platz in der Gesellschaft immer wieder zu vergessen. Nette will schreiben, dichten, sich mit anderen Autoren messen und mit Literaturkennern fachsimpeln. Doch leider ist das alles mehr oder weniger unweiblich. Von ihren zum Teil Germanistik studierenden Onkeln als Mädchen noch gelobt und belächelt, wird sie immer stärker in die Schranken gewiesen, je erwachsener sie wird und je mehr ihr Talent zum Vorschein kommt. Doch dann, während eines magischen Sommers, trifft Nette auf einen sogenannten „Herzensfreund“, einen Seelenverwandten, der ihre (sämtlich noch unveröffentlichten) Werke rühmt und sie ernster nimmt, als sie es je erlebt hat. Und er bleibt nicht der einzige, den die sonst kränkelnde, stark kurzsichtige und oft etwas überspannte Droste-Hülshoff in ihren Bann zieht. Die Verwandtschaft ist entgeistert.

Karen Duve betreibt in „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ Namedropping der besten Sorte. Annettes Radius ist nicht riesig, der ihres zeitweise in Göttingen studierenden Onkels August jedoch umso größer. Er verkehrt mit den Grimms (den Gebrüdern sowie ihren Geschwistern), Hoffmann von Fallersleben, später findet sich sogar noch Heine an der Göttinger Universität ein. Man verehrt das Altdeutsche, streitet, ob Goethe oder Schiller besser schreibt und fordert sich gegenseitig auch schon mal zum Duell. Duve lässt alle Literaten sehr lebendig werden. Man sitzt mit ihnen in heruntergekommenen Studentenkammern, bleibt mit ihnen in der Kutsche stecken und leistet ihnen auch bei ihren endlosen Dialogen in der Kneipe Gesellschaft. Generell macht die Autorin ihre Figuren nahbar; streut immer wieder Humor und Situationskomik ein und zeigt, dass es auch schon vor 200 Jahren menschelte. Neid, Intrigen und heimliche Liebschaften – alles da. Und so blieb ich am Ball, während Teile der literarischen Szene des frühen 19. Jahrhunderts ausgiebig beleuchtet wurden, auch wenn ich mich manchmal fragte, ob man das Ganze nicht doch etwas verkürzen hätte können.
Wer Lust hat, eine der größten deutschen Dichterinnen des 19. Jahrhunderts mal „privat“ zu erleben, bekommt hier die Gelegenheit. Die Droste wird nicht nur als verkanntes Genie geschildert, sondern kann auch lachen, lästern und sich anstellen. Und so ist „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ eine augenzwinkernde Hommage an ihre Hauptfigur.

Verlag: Galiani Berlin
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 7. September 2018
ISBN: 978-3869711386
Preis: 25,00 € (E-Book: 22,99 €)

11. September 2019

Simon Stranger: Vergesst unsere Namen nicht

Dieses Buch fällt für mich mal wieder unter die Rubrik „Don’t judge a book by its cover“. Letzteres ist mir etwas zu pathetisch geraten: Kleine Mädchen in sepia, die in Trümmern spielen, der Titel ein mahnender Appell. Die schlichte Gestaltung des norwegischen Originals gefällt mir weitaus besser; „Lexikon von Licht und Schatten“ ist außerdem ein treffender Titel, hat der Autor seinen Roman doch auf ungewöhnliche Art und Weise gegliedert: nach dem Alphabet.


Der Norweger Simon Stranger hat sich mit seinem Roman „Vergesst unsere Namen nicht“ einiges vorgenommen – und schafft das auch: Er arbeitet die jüdische Familiengeschichte seiner Ehefrau auf. Er setzt den von den Nazis während der deutschen Besatzung ermordeten norwegischen Juden und Widerstandskämpfern ein Denkmal. Und er führt vor Augen, zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind. Letzteres wird am Beispiel der Trondheimer Rinnan-Bande gezeigt, die, angeführt vom Norweger Henry Rinnan, im Auftrag der Nationalsozialisten die eigenen Landsleute ausspionierte, erpresste, folterte und auch tötete. Henry Rinnan konnte nach dem Zweiten Weltkrieg der Prozess gemacht werden; er endete mit seinem Todesurteil. Seine Taten sind gut dokumentiert, im Gegensatz zu den Leben seiner Opfern, die deportiert, ins Gefängnis geschafft oder ermordet wurden.
Während der Besatzung Norwegens wurde auch Hirsch Komissar erschossen – der Urgroßvater von Simon Strangers Ehefrau, ein Jude, an den ein Stolperstein in Trondheim erinnert. Eine direkte Verbindung von Rinnan zu ihm lässt sich nicht nachweisen, doch sie lebten zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt. Zu Beginn seines Buches berichtet Stranger, dass der jüdischen Tradition nach ein Mensch erst dann wirklich tot ist, wenn sich niemand mehr an seinen Namen erinnert. Für die Erinnerung an Hirsch Komissar sorgen außer dem Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig, der seit 1992 bereits über 70.000 kleine Gedenktafeln verlegt hat, Komissars Nachkommen – und außerdem dieses Buch, das immer wieder von seinem Leben und Sterben erzählt.

Den Fakten will Stranger möglichst gerecht zu werden. Zeiten und Orte sind belegt, die geschilderten Gedanken und Gefühle aber natürlich nicht. Sein gesamtes Buch über balanciert der Autor zwischen Historie und Roman, was ihm überraschend gut glückt. Täter Rinnan wird dabei mehr Raum gegeben als Hirsch Komissar, was an der unterschiedlichen Quellenlage liegt. Stranger hat nichtfiktives und fiktives Material äußerst behutsam miteinander verwoben. Weniger behutsam, sondern zum Teil unerträglich sind dagegen die – geschichtlich belegten – Gewaltexzesse im Bandenquartier von Rinnan, der seine Oper eigenhändig gefoltert hat. Hier konnte ich einige der expliziten Beschreibungen nur überfliegen.

„Vergesst unsere Namen nicht“ ist assoziativ erzählt – der Autor springt zwischen Zeiten, Orten und Personen hin und her. Als Orientierungspunkt dient hier das Alphabet; von A bis Z werden meist mehrere Stichwörter pro Buchstabe aufgegriffen. So wirkt der Roman anfangs wie eine ungeordnete Anekdotensammlung, was meinen Lesefluss jedoch nicht gestört hat. Im Gegenteil: Er machte die Lektüre erträglicher, auf Schreckliches folgten Alltag oder Gedanken zu Reue, Vergebung und Versöhnung. Und so ist dieses Buch wirklich ein "Lexikon von Licht und Schatten", wie es auch im Originaltitel heißt. Stranger ist eine besondere Komposition gelungen, die vielleicht wegen des ungewöhnlichen Aufbaus noch mehr nachwirkt als andere Bücher zu diesem Thema. Am Ende verspricht der Autor dem Ahnen seiner Kinder: „Wir werden weiter Deinen Namen sagen.“ Und auch der Leser wird ihn nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr vergessen.

Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 30. August 2019
ISBN: 978-3847906667
Preis: 22,00 € (E-Book: 15,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.

20. August 2019

Johann Scheerer: Wir sind dann wohl die Angehörigen

Dieses Buch hat mich auf den ersten Blick gereizt – schon durch seinen Titel. Die „Angehörigen“ stehen selten im Mittelpunkt, das Wort wir in der Regel nur verwendet, um Menschen in Zusammenhang zu anderen zu setzen, um die es dann eigentlich geht. Überdies wird „Angehörige“ vor allem in unerfreulichen Kontexten verwendet, man muss es nur googeln und kommt auf Treffer wie: „Tatort heute: Dürfen Angehörige wirklich an den Unglücksort?“, „Freunde und Angehörige nehmen Abschied“, „Informationen für Angehörige und Partner erkrankter Personen“.
In diesem Buch geht es jedoch hauptsächlich um die Angehörigen, und zwar um die eines prominenten Entführungsopfers: Jan Philipp Remtsmaa wurde 1996 gekidnappt und über einen Monat festgehalten. Er hat über diesen Albtraum bereits ein Jahr später ein Buch veröffentlicht. 21 Jahre danach legte sein Sohn dann seine Erinnerungen vor.


Johann Scheerer gelingt in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ ein schwieriger Spagat: Er schreibt zum einen aus seiner Perspektive im Jahr 1996, als er gerade mal 13 Jahre alt war. Zum anderen streut er immer wieder Informationen ein, die er erst später erfahren hat, weil sie ihm entweder bewusst vorenthalten wurden oder generell noch nicht bekannt waren. Beides fließt stimmig und ohne Brüche ineinander. Dennoch ist „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ keine lückenlose Chronologie einer Entführung und will es auch gar nicht sein. Scheerer schildert einfach immens furchtbare 33 Tage im Leben eines Teenagers, der abrupt aus seiner Normalität gerissen wird und sich in einem Albtraum wiederfindet: Der Vater entführt und zwei „Angehörigenbetreuer“ der Polizei im Haus, die mit der Mutter sowie Freunden der Familie allnächtlich auf den Anruf der Entführer warten. Entführer, die ihren ersten Brief unter einer scharfen Handgranate deponierten – wäre das Ganze fiktiv, käme es einem an manchen Stellen schon etwas dick aufgetragen vor.

Doch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ schildert die wahren Begebenheiten und erzählt von unerträglichen Durststrecken, die Scheerer auch für den Leser fühlbar macht: Die Ungewissheit zermürbt, während beständig auf Nachrichten und Anweisungen der Entführer gewartet wird, auf ein Lebenszeichen des Vaters, ab und an auch auf die Polizei. Mehrmals entsteht der Eindruck, dass sich diese bei der Organisation der Lösegeldübergaben nicht mit Ruhm bekleckert hat, doch Scheerers Buch ist keine Abrechnung. Der Autor bewertet das Verhalten anderer kaum, sondern bleibt hier in seiner 13-jährigen Perspektive und schildert sein inneres Chaos zwischen Hilfs- und Fassungslosigkeit. Dazu kommen manchmal unverhofft leichte Momente, gefolgt von Schuldgefühlen. Die Qual des Jungen macht nachvollziehbar, was kaum jemand selbst erlebt haben dürfte. Schon lesend ist die Geschichte an einigen Stellen schwer auszuhalten, obwohl ihr Ausgang ja bekannt ist. Scheerer tritt aus der Anonymität der Angehörigen hervor und schildert, wie es ihm ergangen ist. Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass ihm diese persönliche Aufarbeitung des Traumas eventuell gutgetan haben könnte – zumindest wünsche ich es ihm.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 1. März 2018
ISBN: 978-3492059091
Preis: 20,00 € (E-Book: 18,99 €)

13. August 2019

Wiebke Lorenz: Einer wird sterben

Ist dieser Trend, Psychothriller mit ihrer Endsequenz anfangen zu lassen, eigentlich schon älter? Das Stilmittel an sich ist bestimmt nicht neu, aber kam es früher auch so oft zum Einsatz? Die letzten beiden Psychothriller, die ich gelesen habe, starteten jeweils mit ihrem dramatischen Finale. In „Something in the water“ hebt die weibliche Hauptfigur für ihren Mann ein Grab aus (was ich immerhin ganz originell beschrieben fand), in meinem neuesten Lesestoff stirbt jemand in den Armen seines Partners. Die Namen der handelnden Figuren werden hier nicht genannt, doch im Verlauf der Lektüre lässt sich nicht allzu schwer zusammenreimen, wer da beschrieben wird. Vermutlich soll die Sequenz zusätzliche Spannung aufbauen, was in meinem Fall allerdings nicht so gut geklappt hat: Ich hatte hier eher das Gefühl, jemand hätte mir ungebeten das Ende verraten.


Wiebke Lorenz‘ Psychothriller „Einer wird sterben“ basiert auf einer so banalen wie irritierenden Grundbedrohung: Ein unbekanntes Auto parkt in einer ruhigen, beschaulichen Wohnstraße. Die beiden Fahrzeuginsassen steigen jedoch nicht aus. Der Mann und die Frau bleiben einfach im Auto sitzen – erst stunden-, dann tagelang. Und lassen die Anwohner dadurch immer nervöser werden.

Laut Klappentext las die Autorin eine Zeitungsmeldung über ein so parkendes Auto und entwickelte aus dieser Ausgangssituation ihre fiktive Geschichte. Besonders Lorenz‘ Hauptfigur, die junge Hausfrau Stella Johannsen, beunruhigt das Auto nachhaltig. Schnell ist sie davon überzeugt, dass es nur wegen ihr und ihrem Mann dastehen kann – schließlich haben sie beide etwas zu verbergen. Doch nach und nach zeigt sich, dass sie nicht die einzigen Anwohner in der Blumenstraße sind, die Geheimnisse haben. Trotzdem gehen Stella mehr und mehr die Nerven durch – vielleicht auch, weil sie allein ist: Ihr Mann Paul, ein Frachtpilot, kann sie zwar ab und an übers Telefon trösten, ist ansonsten jedoch gerade am anderen Ende der Welt unterwegs. Und so ist Stella ihrer Panik ausgeliefert, vor allem nachts. Wie sie zwischen Angst und Hysterie schwankt, wird sehr eindringlich beschrieben, hat mir aber um so deutlicher die Schwäche des Plots vor Augen geführt: Zwar gibt es durch das parkende Auto eine gefühlte Bedrohung, dieser kann sich Stella aber eigentlich gut entziehen, denn ist sie unterwegs, folgt der Wagen ihr nicht. Ich weiß nicht mehr, ob ihr Mann oder ihr Therapeut es telefonisch vorschlagen ob sie selbst darüber nachdenkt: Wenn Stella einfach für ein paar Tage in ein Hotel gezogen wäre, hätte sie sich den Spuk vom Hals geschafft. Da sie überzeugt ist, dass ihr Mann alles in Ordnung bringen wird, sobald er heimkehrt, wäre das eine ziemlich pragmatische Lösung gewesen. Stattdessen dreht Stella aber immer mehr durch, was mir zunehmend auf die Nerven ging. Überdies wirkte der Plot stellenweise recht überladen: Fast jeder Nachbar verbirgt etwas vor den anderen Bewohnern der Blumenstraße und über die Auflösung wollen wir gar nicht reden. Dennoch: Letztere hat mich dann doch unerwartet beeindruckt. Sie schafft es, alle Vorkommnisse lückenlos zu erklären – das hatte ich mir zwischenzeitlich beim besten Willen nicht mehr vorstellen können. Das offene Ende hätte ich dagegen nicht unbedingt gebraucht. So wirklich getroffen hat „Einer wird sterben“ meinen Geschmack also nicht.

Verlag: FISCHER Scherz
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 27. Februar 2019
ISBN: 978-3651025417
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

6. August 2019

Agatha Christie: Das Böse unter der Sonne

Greife ich zu einem Krimi von Agatha Christie, weiß ich in der Regel, was mich erwartet, obwohl der Ausgang des jeweiligen Falls für mich stets unvorhersehbar ist. Neulich hatte ich allerdings einmal einen komplett untypischen Poirot erwischt, der mir nicht besonders gefallen hatte. Und so war ich bei der Lektüre des 22. Falls, den Christie um ihren belgischen Meisterdetektiv geschrieben hat (und ihres 29. Kriminalromans überhaupt) dann sehr beruhigt, dass alles wieder in gewohnter Manier zuging.


„Das Böse unter Sonne“ spielt in einem exklusiven Hotel auf einer kleinen britischen Insel, die über einen während der Flut stets überschwemmten Damm mit dem Festland verbunden ist. Hercule Poirot verbringt hier seinen Urlaub, wie noch einige andere: Paare, Familien, Alleinreisende. Die Idylle zerbricht, als ein weiblicher Gast ermordet in einer Badebucht aufgefunden wird. Die frühere Schauspielerin Arlena Stuart Marshall, die mit Ehemann und Stieftochter angereist war, wurde erwürgt. Wie immer dauert es nur ein paar Seiten, bis Poirot die örtliche Polizei, bei der er zufällig jemanden kennt, bei ihren Ermittlungen unterstützt. Wie immer stellt er unorthodoxe Fragen und wird vom ein oder anderen dafür belächelt. Wie immer lässt er niemanden an seinen Gedankengängen teilhaben, klärt den Fall jedoch lückenlos auf, sobald er alle zum großen Finale versammelt hat. Und wie immer macht in Poirots Ausführungen jedes noch so kleine Detail Sinn. Einer Miturlauberin setzt der Detektiv sogar auseinander, dass seine Arbeit durchaus mit dem Lösen eines besonders schwierigen Puzzles vergleichbar ist.

Alle mysteriösen Vorfälle in „Das Böse unter der Sonne“ lassen sich am Ende erklären. Mich hat das bei der Auflösung so beeindruckt, dass mir erst später auffiel, dass Christie ein anderes wichtiges Krimielement diesmal etwas vernachlässigt hat: das Motiv. Der Grund, aus dem Arena Stuart Marshall sterben musste, macht bei näherer Betrachtung nicht besonders viel Sinn. Kurz: Der Mord wäre eigentlich nicht nötig gewesen. Das mag für viele Morde gelten, aber hier kommentiert es niemand, nicht mal Poirot – wodurch dann doch der Eindruck entsteht, dass das Motiv hier mehr schlecht als recht zusammengezimmert wurde, während die Durchführung des Mordplans dagegen richtiggehend kunstvoll ist. Lässt man auch sie nochmal Revue passieren, muss man allerdings feststellen, dass das Ganze leicht hätte schief gehen können. Der Mörder / die Mörderin hat hohe Risiken auf sich genommen, was angesichts des kaum vorhandenen Motivs doppelt erstaunlich ist. Doch vielleicht muss auch gar nicht alles im Detail erklärt werden, braucht der Täter / die Täterin hier gar keinen guten Grund – „das Böse unter der Sonne“ existiert eben einfach.

Obwohl sich das Ende also nicht allzu schwer zerpflücken ließe, hat mir dieser Krimi insgesamt gut gefallen. Es ist ein typischer Poirot-Fall, der zum Miträtseln einlädt, es dem Leser nicht allzu schwer macht, einen Überblick über Figuren und Geschehnisse zu behalten und dann am Ende doch wieder verlässlich verblüfft. „Das Böse unter der Sonne“ ist ein Krimiklassiker, der sich auch 78 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch sehr gut lesen lässt.

Ich habe eine ältere Ausgabe von "Das Böse unter der Sonne" gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 13. Juni 2015; „Das Böse unter der Sonne“ erschien jedoch bereits 1945 erstmals auf Deutsch (und 1941 auf Englisch)
ISBN: 978-3455650273
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

31. Juli 2019

Anna Moretti: Effi liest

Schon der Titel dieses Buches ist ein Eyecatcher, weil er an einen fast gleichlautenden, sehr viel älteren Gesellschaftsroman denken lässt und dadurch eine ordentliche Portion Humor verrät. Auch das überaus liebliche Cover bestätigt den Eindruck: Diese Lektüre wird vergnüglich.


Anna Morettis „Effi liest“ erinnert anfangs an Emmy von Rhodens 1885 erschienenes Buch „Der Trotzkopf“. „Effi Briest“ wurde 10 Jahre später veröffentlicht und um diese Zeit spielt auch „Effi liest“. Morettis Effi – eigentlich Elena Sophie von Burow – langweilt sich seit Jahren in einem feinen Mädchenpensionat. Ein bei einem Ausflug gefundenes Buch verspricht Abwechslung, doch noch bevor sie eine Chance hat, mehr als einen kurzen Blick hineinzuwerfen, wird sie von ihrer gestrengen Lehrerein Fräulein Grimaud erwischt – und in der Folge aus dem Internat geschmissen. Ein hoher Preis dafür, dass Effi nur ein paar Seiten überflogen hat. Sie wird zu ihrem Vater nach Berlin zurückgeschickt, der mit ihr einen Deal vereinbart: Er fragt bei der Universität an, ob seine wissbegierige Tochter eine Sondergenehmigung als Studentin bekommt. Dafür muss diese sich jedoch Latein beibringen (sollte sie daran scheitern, ist der Universitätsbesuch erledigt – der Vater scheint darauf zu hoffen) und sich von ihrer Tante Auguste in „Frauenfragen“ unterrichten lassen – „Kleider, Blumen, Einladungen, Dankesschreiben“. „Effi liest“ verdeutlicht mindestens so gut wie Fontanes Original, was das ausklingende 19. Jahrhundert für Frauen der höheren Schichten und im heiratsfähigen Alter bereithielt.

Eine weitere Hauptfigur ist der junge Arzt Max von Waldau, den Effi bereits auf ihrer Rückfahrt nach Berlin kennenlernt. Am Ende jedes Kapitels ist ein Brief von ihm an seinen jüngeren Bruder abgedruckt, der zum einen die männliche, zum anderen die medizinische Sicht dieser Zeit widerspiegelt – wobei vor allem letztere heute sehr abenteuerlich anmutet. Und als Effi nicht nur liest, sondern auch niest, weckt sie auch noch von Waldaus berufliches Interesse. Das Ganze könnte sehr komisch sein, wären die im Folgenden geschilderten Behandlungsmethoden nicht tatsächlich historisch belegt. Überhaupt beschreibt Moretti die damalige Zeit fundiert und detailliert, aber eben auch immer mit einem Augenzwinkern. Zur Einordnung hat sie ihrem Roman einen Abriss über gesellschaftliche und medizinische Ereignisse im 19. Jahrhundert vorangestellt. Dabei erwähnt sie auch mehrere während dieser Zeit erschienene Romane, die das gleiche Muster aufweisen: eine Frau begeht Ehebruch, was jeweils tödlich endet. „Effi liest“ geht dagegen nicht tödlich aus, so viel kann schon mal verraten werden. Nach einem etwas längeren Einstieg gewinnt der Roman mehr und mehr an Fahrt, der Stil ist sehr lebendig, was nicht wundert, wird doch aus Effis Perspektive erzählt. Das Ende kommt dann fast ein bisschen schnell – während sich der Beginn etwas zieht (was wohl auch am eher unspektakulären Pensionatsleben liegt), hätte ich mir den Schluss etwas ausführlicher gewünscht.

„Effi liest“ ist eine leichte und unterhaltsame Lektüre mit einem historisch fundierten Kern, der einen hier und da durchaus ins Stocken geraten lässt. Als Leserin habe ich nicht nur einmal Dankbarkeit dafür empfunden, erst viele Jahrzehnte später geboren worden zu sein.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 31. Juli 2019
ISBN: 978-3785726525
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.

21. Juli 2019

E. O. Chirovici: Das Buch der Spiegel

Titel und Cover dieses Buches haben bei mir zunächst den Eindruck erweckt, es könnte sich um einen Fantasyroman handeln – ein Genre, das ich eher selten lese. Zum Glück habe ich mich davon nicht abschrecken lassen, denn sonst wäre mir ein beeindruckender Roman entgangen: Klug komponiert, voller überraschender Wendungen und ziemlich nachdenklich machend. Er schließt mit den Worten: „Ein großer französischer Schriftsteller hat einmal bemerkt, Erinnerung an Vergangenes sei nicht unbedingt Erinnerung an wirklich Geschehenes. Ich vermute, er hat recht.“ Diese Schlusssätze greifen das Kernthema des Romans auf: Kann man Erinnerungen wirklich trauen?


E. O Chirovici ist in Rumänien aufgewachsen und hat sich dort als erfolgreicher Autor etabliert, bevor er 2013 in die USA zog und mit „Das Buch der Spiegel“ seinen ersten Roman auf Englisch schrieb. Dieser wurde inzwischen in über 30 Länder verkauft, was mich kein bisschen wundert, denn er hat mir extrem gut gefallen.

„Das Buch der Spiegel“ hat einen klassischen „Buch im Buch“-Anfang: Der Literaturagent Peter Katz erhält ein unverlangt eingesandtes Manuskript und legt es zunächst einmal zur Seite, doch als er nach ein paar Wochen die Zeit dafür findet, liest er es und ist von der Lektüre sehr angetan. Dass diese irgendwann abrupt abbricht, ist nicht weiter verwunderlich, hat sich der angehende Autor doch an die Regeln der Literaturagentur gehalten und nur eine Leseprobe eingesandt. Katz versucht ihn zu kontaktieren, doch an den Rest des Manuskripts zu kommen, ist schwieriger als gedacht – es scheint verschollen. Und das ist nicht nur für den Literaturagenten äußerst ärgerlich, sondern auch für den „Das Buch der Spiegel“ in den Händen haltenden Leser, hat dieser doch zusammen mit Katz die ersten sechs Kapitel verschlungen und wüsste nun zu gern, wie es weitergeht.

Und wovon handelt nun das Buch im Buch? Der Autor Peter Flynn beschreibt darin, wie es ihm in seinem letzten Jahr in Princeton ergangen ist: „Für mich war es das Jahr, in dem ich mich verliebte und erkennen musste, dass es den Teufel wirklich gibt“. In wen sich Flynn verliebt hat, ist schnell klar: Psychologiestudentin Laura ist seine neue Mitbewohnerin und unterstützt einen renommierten Professor bei dessen Forschungen. Sie vermittelt Flynn den Job, dessen Bibliothek neu zu ordnen. So weit, so normal, doch am Ende dieses Jahres wird besagter Professor ermordet aufgefunden. Es macht den Anschein, als hätte Flynn Jahrzehnte später verstanden, was damals wirklich passiert ist und darüber ein Buch geschrieben – doch wo ist dieses Buch?

„Das Buch der Spiegel“ beginnt gleich doppelt spannend: Zum einen hat auch mich als Leser schnell interessiert, wer besagten Professor nun umgebracht hat, zum anderen rätselte ich mit Katz, wo denn das Manuskript mit der Auflösung des Falls geblieben war. Wie E. O. Chirovici es schafft, seine doppelgleisige Geschichte mit insgesamt vier verschiedenen Ich-Erzählern auf nur 380 Seiten zu erzählen, hat mich wirklich begeistert. Dabei hatte ich schon früh einen Verdacht, was den Mörder anging. Aber eigentlich ist der Mordfall trotz allem fast nebensächlich, denn viel mehr geht hier um die Macht der Erinnerung. Und obwohl „Das Buch der Spiegel“ eine ziemlich komplexe Komposition ist, lässt es sich wie ein spannender Krimi kaum mehr aus der Hand legen. Absolute Empfehlung!

Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 18. Juni 2018
ISBN: 978-3442487554
Preis: 20,00 € (Taschenbuch: 10,00 €, E-Book: 9,99 €)

10. Juli 2019

Catherine Steadman: Something in the water

Spannung ab der ersten Seite zu erzeugen, ist eine hohe Kunst, die die Autorin dieses Buches ganz offensichtlich beherrscht. Zumindest ich fand den ersten Satz „Haben Sie sich jemals gefragt, wie lange es dauert, ein Grab auszuheben?“ ziemlich innovativ. Dass Hauptfigur Erin Roberts dann auch noch ihren Mann vergräbt, obwohl sie seinen Tod durchaus zu bedauern scheint, macht ebenfalls neugierig. Der Einstieg in diesen Thriller ist also schon einmal geglückt.


Catherine Steadman hat sich in „Something in the water“ eines Kunstgriffs bedient und eines der letzten Kapitel vorne angestellt. Danach beginnt die Geschichte drei Monate zuvor mit einem Wochenendausflug der Protagonisten Erin und Mark. Die beiden feiern ihren Jahrestag und planen ihre Flitterwochen, die nach Bora-Bora gehen sollen. Er ist Banker, sie Dokumentarfilmerin, beide in den Dreißigern – ein glückliches Londoner Pärchen, dem die Welt offensteht. Doch schon während dieses Wochenendausflugs werden Entscheidungen getroffen, die dem dramatischen Ende den Weg ebnen: „Und dann sage ich etwas, was ich mein Leben lang bereuen werde. Ich will mit Dir Gerätetauchen machen.“ Tja. Ich verrate noch nicht zu viel, wenn ich erzähle, dass Erin und Mark beim Gerätetauchen auf „Something in the water“ stoßen …

Sehr gut gefallen hat mir der Erzählton dieses Thrillers. Er ist ganz und gar aus Sicht von Hauptfigur Erin geschrieben, die den Leser auch gerne mal direkt anspricht. Ab und an benimmt sie sich sehr unbedarft, aber man ist stets so dicht an ihr dran, dass auch ihr teilweise kopfloses Verhalten, ihr Gedankenkarussell und vereinzelte wahnwitzige Ideen immer halbwegs nachvollziehbar bleiben. Und je mehr ich Erin und ihr Leben kennenlernte, desto weniger konnte ich mir einen Reim auf die Geschehnisse am Buchanfang machen. Vermutlich deswegen nahm die Sogwirkung der Geschichte zu, je weiter ich gelesen habe.

Aber jeder Thriller kommt irgendwann zu seiner Auflösung und die fand ich hier dann leider doch nicht hundertprozentig gelungen. Autorin Steadman hat der Ausgestaltung von Erins Charakter viel Raum gegeben, die Hundertachtzig-Grad-Wendungen von anderen Figuren passieren jedoch ohne jede Erklärung, was ich dann doch etwas schade fand. Dennoch ist „Something in the water“ eine spannende Urlaubslektüre – nicht nur auf Bora-Bora, nicht nur für Gerätetaucher, sondern für alle, die sich gerne mal der Frage „was wäre, wenn …“ hingeben.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 2. Juli 2019
ISBN: 978-3492235297
Preis: 10,00 € (E-Book: 3,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

24. Juni 2019

Helmut Krausser: Trennungen. Verbrennungen

Manche Romane plätschern einfach nur munter vor sich hin und sind trotzdem grandiose Kompositionen – oder gerade deswegen? Helmut Krausser kann ich jedem empfehlen, der auf der Suche nach etwas wohlformulierter und vergnüglicher Ablenkung ist. Der Mann kann schreiben und greift mit großer Leichtigkeit alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins auf.


In „Trennungen. Verbrennungen“ entwirft Krausser einen locker-flockigen Reigen aus verschiedenen Personen, die in unterschiedlichsten Beziehungen zueinanderstehen. Im Zentrum des Ganzen steht ein wohlhabendes, in Wannsee lebendes Ehepaar: Archäologieprofessor Fred Reitlinger und seine Frau Nora, die in regelmäßigen Abständen Soireen organisieren, zu denen auch zwei besonders hoffnungsvolle Studenten eingeladen werden, Gerd und Leopold. Ersterer ist mit der kapriziösen Sonja liiert, deren Eltern für die ihrer Tochter zugedachte Zukunft finanzielle Anreize setzen. Zweiterer läuft an einem unglückseligen Tag der Tochter der Reitlingers über den Weg, die gegen alles und jeden rebelliert. Ihr Bruder Ansgar, ihre Freundin Caro, deren Affäre Petar – sie alle sind in ein komplexes Beziehungsgeflecht verwickelt und es kommt zu „Trennungen. Verbrennungen“, aber auch, um einen anderen Romantitel Kraussers zu zitieren, zu „Einsamkeit und Sex und Mitleid“. All dem lesend beizuwohnen, macht einfach Spaß. Kraussers plaudernder Erzählton, der das Leben und seine Abgründe beschreibt, ohne es sonderlich ernst zu nehmen, macht dieses Leseerlebnis sehr vergnüglich. „Trennungen. Verbrennungen“ lässt sich in einem Rutsch durchlesen und kennt weder Längen noch unnötige Aufregungen. Krausser scheut vor keiner möglichen Verwicklung zurück, wodurch es den ein oder anderen Überraschungsmoment gibt. Dabei behält er durchgehend seinen spöttisch-wohlwollenden Blick auf alles Menschliche. Ein Roman wie eine Oase der amüsanten Gelassenheit.

Verlag: Berlin Verlag
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 19. März 2019
ISBN: 978-3827013934
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

17. Juni 2019

Christina Dalcher: Vox

Objektiv bewerten – ist das bei Büchern überhaupt möglich? Während der Lektüre dieses Romans ist mir aufgegangen, dass ich noch nicht mal innerhalb meiner eigenen Maßstäbe objektiv bewerte. Manche mittelmäßigen Bücher enttäuschen mich mehr als andere, und das liegt noch nicht mal an meiner Leselaune, sondern an meinen Erwartungen. Bin ich im Vorfeld davon überzeugt, dass mir ein Buch gefallen wird, ist seine Fallhöhe größer als bei einem Roman, den ich mir spontan in der Buchhandlung oder Bibliothek aussuche. Und so hat mich dieses Werk, das schon seit einigen Monaten auf meiner Leseliste stand, extrem enttäuscht.


„Vox“ ist das Romandebüt der amerikanischen Linguistin Christina Dalcher. Doch noch mehr als von der Stimme handelt die Geschichte vom Schweigen, was das einen Frauenmund verbergende „x“ auf dem Cover perfekt illustriert. Der dystopische Roman ist in unserer Gegenwart angesiedelt: Der erste farbige Präsident der USA ist Geschichte, sein Amtsnachfolger – nicht Trump, sondern Präsident Myers – ein Vollidiot, der von der einflussreichen „Bewegung der Reinen“ wie eine Marionette gesteuert wird. Diese Bewegung propagiert, dass das moderne Leben die Wurzel allen Übels ist und Zucht und Ordnung wiederhergestellt werden müssen, indem längst überwundene Rollenbilder reaktiviert werden. Doch wie dreht man den Lauf der Welt zurück? Der Plan ist so perfide wie wirkungsvoll: Der männlichen Hälfte der Bevölkerung wird eingeredet, als Krone der Schöpfung Gott gewollte Dominanz zu besitzen. Und die weibliche Hälfte wird zum Schweigen gebracht – mittels eines Wortzählers, der sich fest um das Handgelenk jedes Mädchens und jeder Frau schließt und zählt, wie viele Wörter sie an einem Tag ausspricht. Sind es mehr als 100, gibt es Stromstöße.

Dalcher entwirft ein ziemlich verstörendes Szenario, das mehrere große Themen streift: dass der Gedanke „sowas ist doch bei uns nicht möglich“ stets fahrlässig ist, man Bürgerrechte wahrnehmen sollte und Kommunikation den Menschen ausmacht. Die Kernaussagen von „Vox“ kannte ich dann auch schon, bevor ich überhaupt zu diesem Buch griff – durch die die Veröffentlichung begleitende Werbekampagne und den Medienhype. Worauf ich allerdings nicht gefasst war: „Vox“ ist schlecht geschrieben. Die Figuren sind holzschnittartig zusammengezimmert, Dialoge oft platt und ein Klischee jagt das nächste. Zudem hat die Autorin absolut kein Händchen dafür, Spannung aufzubauen oder irgendeine Atmosphäre zu schaffen. Die Romanhandlung entwickelt sich auf eine so komplett unlogische Art und Weise, das ich spätestens während des letzten Buchdrittels nur noch hoffte, schnell fertig zu werden. Danach las ich in einigen anderen Rezensionen, dass manche Leser „Vox“ als einen Abklatsch von Margaret Atwoods „Report einer Magd“ empfunden haben. Da ich dieses Buch jedoch nicht gelesen habe, kann ich das nicht selbst beurteilen.

„Vox“ hätte ein gutes, wichtiges Buch sein können, doch die mangelhafte Umsetzung hat aus der eigentlich packenden dystopischen Idee komplett die Luft rausgelassen. Dass aus dem vorhandenen Potential so wenig gemacht wurde, ist in meinen Augen noch schlimmer, als wenn das Buch dieses gar nicht erst gehabt hätte.

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 400
Erscheinungsdatum: 15. August 2018
ISBN: 978-3103974072
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

7. Juni 2019

Alina Brosnky: Der Zopf meiner Großmutter

Großmütter gibt es in der Literatur viele. Meist handelt es sich um kluge und weitsichtige Frauen mit großem Herzen, viel Geduld und einem immer offenen Ohr, die stets zur Stelle sind, wenn sie gebraucht werden. Und oft bringen sie dann auch noch Kuchen mit.


In Alina Bronskys „Der Zopf meiner Großmutter“ erfüllt die russische Oma keins der gängigen Klischees. Sie ist selbstgerecht, herrschsüchtig, weiß alles besser, beschimpft und tyrannisiert ihr Umfeld. Backen tut sie zwar, gleich zu Beginn des Romans zum Geburtstag ihres vielleicht fünf- oder sechsjährigen Enkels Mäxchen, doch der darf die Torte nur anschauen und einmal dran schnuppern, bevor sie vor seinen sehnsüchtigen Augen verzehrt wird. Denn Max verträgt Kuchen eh nicht, weiß die Oma. Außerdem ist er, wie sie ihm immer wieder einbläut, debil, schwachsinnig, todkrank und wird das Erwachsenenalter niemals erreichen. Dass weder Ärzte noch Lehrer diese Diagnose bestätigen, verunsichert Margarita Iwanowna kein bisschen.

Diese beratungsresistente Schreckschraube war dann auch der Grund, dass mich die Geschichte anfangs ziemlich befremdet hat. Natürlich muss nicht jede Oma selbstlos und wohlwollend auftreten, aber diese hier beleidigt und piesackt ihr verwaistes Enkelkind in einem fort, ohne dass ihr schweigsamer Mann Tschingis Mäxchen jemals zu Hilfe kommt. Für mich war das kein Lesespaß, sondern ziemlich unangenehm. Doch der Roman entwickelt sich, Mäxchen, aus dessen Perspektive er geschrieben ist, wird älter, verständiger und schafft es mehr und mehr, sich von der Großmutter zu emanzipieren – wobei er gleichzeitig eine Ahnung von deren wahrem Wesen bekommt. Außerdem wirbelt noch ein für alle Seiten unerwartetes Ereignis das Familiengefüge unwiderruflich durcheinander: Der Großvater verliebt sich. Und ab da bekommt der Roman eine gewisse Leichtigkeit, die mir vorher gefehlt hat.

Alina Bronsky schildert Mäxchens Heranwachsen in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft in nüchternen Worten, die doch anrühren. Sie ist eine Meisterin der knappen Beschreibungen, die alles ausdrücken und nachwirken. Und nötigt ihren Lesern schließlich sogar Respekt vor Margarita Iwanowna ab – einer Großmutter, die ich nicht so schnell vergessen werde.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 9. Mai 2019
ISBN: 978-3462051452
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Leseexemplar erhalten.

29. Mai 2019

Agatha Christie: Die großen Vier

Agatha Christie ist die Queen of Crime; ihre Weltauflage wird auf zwei Milliarden Bücher geschätzt. Doch dass sie sich bis heute großer Beliebtheit erfreut, bedeutet nicht, dass jeder ihrer Krimis gleichermaßen gelungen ist.


„The Big Four“ (1927 auf Englisch veröffentlicht und erst sehr viel später, 1963, als „Die großen Vier“ auf Deutsch) wurde von ihr selbst als „rotten book“ bezeichnet; sie veröffentlichte das „scheußliche“ Werk, als sie nach ihrer Scheidung in finanziellen Schwierigkeiten steckte. „Die großen Vier“ basiert auf 12 Kurzgeschichten, die Christie bereits veröffentlicht hatte und nur noch in Romanform bringen mussten. Vor diesem Hintergrund erklären sich die größten Schwächen dieses Buches: Auf viele kleinere Fälle wird kaum eingegangen, Hercule Poirot löst sie im Handumdrehen mit übermenschlichem Scharfsinn, während sein treuer Freund Hastings extrem schwer von Begriff scheint. Gemeinsam versuchen die beiden, einer Verbrecherbande das Handwerk zu legen, die nichts Geringeres zu planen scheint, als die Weltherrschaft an sich zu reißen – was sie konkret bezweckt, bleibt allerdings mehr als schwammig. Die vier Köpfe der Untergrundorganisation sind dermaßen genial, gut vernetzt und fähig, dass sie nach Belieben in fremde Rollen schlüpfen, Geldsummen erschleichen und Gegner aus dem Weg räumen, ohne dass ihnen jemand auf die Schliche kommt. Nur Poirot können sie aus unerfindlichen Gründen nicht einfach ermorden, sondern ersinnen jede Menge komplizierter Fallen, denen der kluge Belgier jedoch immer in letzter Sekunde ausweicht (was umso erstaunlicher ist, da offentlich jeder nach Belieben in sein Haus einbrechen kann). Das alles wirkt ziemlich abstrus, um es mal vorsichtig auszudrücken. Als Agatha Christie-Fan begleite ich Poirot und Hastings generell sehr gerne, aber dass die Autorin ihren alternden Detektiv plötzlich zu einer Mischung aus Superbrain und Geheimagent weiterentwickelt, hat mich doch ziemlich befremdet. Das Gleiche gilt für die Beschreibungen von „gelbgesichtigen“ Chinesen und „verschlagenen“ Orientalen – da zeigt sich eben doch, dass der Text bald 100 Jahre alt ist.
Einer der vier Schurken schlägt Poirot bereits zu Beginn des Buches vor, er solle wieder seine „frühere Beschäftigung aufnehmen und die Probleme von Damen der Londoner Gesellschaft lösen“. Ganz ehrlich – wäre Poirot mal darauf eingegangen. Lieber einen Fall richtig und nachvollziehbar aufklären, als die Lösungen für viele kleine wie ein Magier aus dem Ärmel schütteln. Aber gut, Poirots Schöpferin war in einer schwierigen Lage und brauchte das Geld. Auch eine Königin greift mal daneben.

Ich habe eine ältere Ausgabe von "Die großen Vier" gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum der aktuellen Ausgabe: 4. September 2015; "Die großen Vier" erschien jedoch bereits 1963 erstmals auf Deutsch (und schon 1927 auf Englisch).
ISBN: 978-3455650532
Preis: 10,00 € (E-Book: 8,99 €)

21. Mai 2019

Tara Isabella Burton: So schöne Lügen

Als ich am Wochenende durch die Fußgängerzone lief, kam mir ein kleines Mädchen entgegen, dessen T-Shirt „No glitter, no party“ verkündete. Das könnte auch das Motto dieses funkelnden Buches sein, auf dessen Umschlag Verlagsname und ISBN fast verschwinden vor lauter Glitzer. Im schwarzen Zentrum des Covers werden „So schöne Lügen“ angekündigt. Und tatsächlich ist dieser grandiose Roman voll davon …


Tara Isabella Burtons Debüt erzählt von der Endzwanzigerin Louise, die nach New York gezogen ist, um Schriftstellerin zu werden, sich jetzt allerdings mit drei Jobs mehr schlecht als recht durchschlägt und nicht mal mehr Muße hat, ein Buch zu lesen – geschweige denn, eins zu schreiben. Den Glamour des Big Apple, von dem sie früher mal geträumt hat, erleben andere – zum Beispiel die 23-jährige Lavinia, reiche Erbin und stets auf der Suche nach dem Außergewöhnlichen, Extravaganten – und dem nächsten ausdrucksstarken Foto, das sie auf ihren Facebook-Account hochladen kann. Durch einen Zufall lernen sich die beiden Frauen kennen und Lavinia lässt Louise an ihrem aufregenden Leben teilhaben, das diese sich alleine nie leisten könnte. Bald zeigt sich jedoch, dass Lavinias Großzügigkeit so schnell nachlassen kann, wie sie begonnen hat – z. B. wenn Louise nicht mit der gewünschten Begeisterung auf ihre Ideen reagiert. Louise studiert ihre neue Freundin sehr genau, um deren Wünsche zu erahnen und bloß nicht in Ungnade zu fallen. Und nach ein paar Monaten zahlt sich ihre intensive Charakterstudie noch ganz anders aus, als beide sich je hätten träumen lassen …

„So schöne Lügen“ ist die Geschichte einer toxischen Freundschaft, deren Entwicklung der Leser live miterlebt. Dabei mehren sich die leisen Alarmsignale und ab und zu meldet sich ein auktorialer Erzähler, der nonchalant einen verstörenden Blick in die Zukunft wirft, was sehr zur Spannung beiträgt. Aber auch so deutet sich an, dass Lavinia und Louise unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuern – doch wie wird die aussehen und wird zumindest eine von beiden heil herauskommen?

Eine der großen Stärken dieses gesellschaftskritischen Romans ist definitiv Burtons Fähigkeit, Charaktere mit vielen Facetten und Widersprüchen glaubhaft auszugestalten. Dabei gewährt sie faszinierende und abstoßende Einblicke in eine Glitzerwelt, in der es ausschließlich um den schönen Schein geht. Selbstdarstellung ist alles – sich inszenieren, Fotos machen, diese online stellen. Wenn die Lügen schön genug sind, interessiert sich niemand für die Wahrheit. Im Laufe des Romans lernt Louise, dieses Spiel bis zur Perfektion zu beherrschen. Sie dabei zu begleiten, ist faszinierend und erschreckend zugleich – und wirkt leider gar nicht realitätsfern, nimmt doch social media eine immer größere Rolle ein. Mich hat „So schöne Lügen“ sehr gepackt – wer gerne von fatalen Freundschaften und menschlichen Abgründen liest, kommt hier voll auf seine Kosten.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 17. Mai 2019
ISBN: 978-3832183707
Preis: 22,00 € (E-Book: 9,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

17. Mai 2019

Iain Reid: The Ending

Schon der Taschenbucheinband dieses Buches weckte bei mir hohe Erwartungen. Auf dem Cover heißt es: „Du wirst dich fürchten. Und du wirst nicht wissen, warum.“ Die Rückseite bewirbt die Geschichte als „raffiniertes, stilistisch brillantes Psychodrama für Liebhaber von Stephen King und Alfred Hitchcock“. Was kann da noch schief gehen? Eine Menge.


„The Ending“ ist das Debüt des Kanadiers Iain Reid. Es handelt von einem jungen Paar, der Ich-Erzählerin und ihrem Freund Jake. Die beiden sind noch nicht lange zusammen und gerade auf dem Weg zu Jakes Eltern, die einen Bauernhof auf dem Land haben, laut Beschreibung irgendwo im Nirgendwo. Die Erzählerin wird Jakes Familie erstmals kennenlernen und ist gespannt. Gleichzeitig überlegt sie jedoch, mit Jake Schluss zu machen. Abgelenkt wird sie durch die Anrufe eines Stalkers, der ihr seit einigen Wochen nachstellt und von dem sie Jake bislang nichts erzählt hat. Eine Ausgangssituation mit einigem Potential, könnte man meinen.

Doch trotzdem kommt während der ersten fast 100 Seiten kaum Spannung auf, was bei einem 240 Seiten langen Thriller schon ein schlechtes Zeichen ist. Stattdessen haben mich die philosophisch angehauchten Gespräche des Paares während der nicht enden wollenden Autofahrt zunehmend gelangweilt. Als die beiden ihr Ziel erreichen, nimmt die Handlung zwar immer noch nicht wirklich an Fahrt auf, doch zumindest passiert mal was – aber das erschien mir alles sehr abstrus. Und so fühlte ich mich zwar stellenweise abgestoßen, habe mich jedoch immer noch nicht gegruselt. Mit King und Hitchcock hatte die Entwicklung des Ganzen in meinen Augen sehr, sehr wenig zu tun. Beide sind Meister des Nervenkitzels, der auch in „The Ending“ mit allen Mitteln erzeugt werden soll, aber die Geschichte trägt einfach nicht, die Charaktere bleiben blass und ihr Handeln kaum nachvollziehbar. Das Ende mag so manches erklären, hat mich aber über die Längen der Geschichte nicht nachträglich hinweggetröstet. Und wenn sich alle Protagonisten seltsam verhalten und man mit niemandem mitfühlen kann, lässt einen halt auch der Showdown relativ kalt. Schade – das Cover war/ist so vielversprechend! Die Schneesturm-Atmosphäre bei Nacht und der blutrote Titel hatten mich gleich neugierig gemacht und dazu beigetragen, dass ich mir ein weitaus gruseligeres Leseerlebnis vorgestellt hatte.

Verlag: Droemer
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 2. November 2017
ISBN: 978-3426306192
Preis: 14,95 € (E-Book: 12,99 €)

9. Mai 2019

Kevin Kwan: Crazy Rich Asians

Wenn ich in ein Buch hineinblättere und als erstes einen Stammbaum sehe, schreckt mich das – je nach Länge des Stammbaums – manchmal ab. Wenn der Stammbaum drei komplette Familienzweige mit alleine 21 Ehepaaren umfasst (plus Kinder, erwachsene Unverheiratete und deren Lebensgefährten, falls vorhanden), überlege ich mir gut, ob ich diesen Roman wirklich lesen will. Wenn zum Stammbaum aber dann auch noch Fußnoten vermerkt sind, wie „Das kommt davon, wenn man sich in Argentinien liften lässt“ und „Plant gerade, mit seinem geliebten Kindermädchen davonzulaufen und an der Karaoke-WM in Manila teilzunehmen“ ist es offensichtlich um mich geschehen, denn ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass ich dieses hübsche pinke Buch gerne lesen würde, das in den USA monatelang auf der Bestsellerliste stand und in 30 Sprachen übersetzt wurde. Wenn es ein Autor schafft, in seinem 576 Seiten umfassenden Roman noch vor dem Titelblatt Humor unterzubringen, muss man ihm doch eine Chance geben – oder?


Doch weder der Stammbaum noch die Seitenzahl hatten mich gewarnt: Während der Lektüre dieses Buches bekam ich mehr und mehr den Eindruck, im Grunde genommen bettelarm zu sein – und gleichzeitig Hunger auf asiatisches Essen. Mit diesen Nebenwirkungen ist definitiv zu rechnen, wenn man Kevin Kwans Debüt „Crazy Rich Asians“ liest. Es handelt, wie der Name schon sagt von „verrückten, stinkreichen Asiaten, deren Leben sich nur ums Geldausgeben, Geldvergleichen und Geldverstecken dreht, die mit ihrem Geld protzen und deswegen anderer Leute Leben ruinieren“. Das ist zumindest das bittere Fazit von Hauptfigur Rachel, die in den USA aufgewachsen ist und mit ihrem Freund Nicholas Young zu einer Hochzeit in seine Heimat fliegt – nichtahnend, dass Nicks Familie zu den reichsten Singapurs gehört und er dort wie ein heißbegehrter Kronprinz behandelt wird, als beste Partie, die frau machen kann. Bevor Rachel die Lage auch nur ansatzweise durchschaut hat, findet sie sich in einem Haifischbecken zwischen arroganten Jugendfreundinnen, herablassenden Verwandten und einer scheinheiligen Schwiegermutter in spe wieder. Wobei Rachel und Nick noch nicht mal übers Heiraten gesprochen haben, doch mindestens Teile der Singapurer Elite sind sich einig, dass diese unwürdige Amerikanerin unbekannter Abstimmung es natürlich nur auf die Ehe mit einem der reichsten Junggesellen Asiens abgesehen haben kann. Und dass sie ihr Ziel erreicht, muss selbstverständlich mit allen Mitteln verhindert werden …

Kevin Kwan entführt seine Leser in die Welt der asiatischen Superreichen, inklusive Redewendungen auf Mandarin und jeder Menge Fußnoten, die dem nicht-asiatischen Leser einige Erklärungen liefern. Und so hat er mir einen völlig unbekannten, aber durchaus faszinierenden Kosmos erschlossen. Es geht nicht nur um Rachel und Nick, sondern auch um andere Familienmitglieder, die unterschiedliche Lebensstile und Interessen verfolgen; und so bleiben die „Crazy Rich Asians“ nicht so stereotyp, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Beschreibung von Luxusmarken, Hotels, Privatjets und asiatischen Köstlichkeiten ist dabei ziemlich ausführlich geraten, wird aber durch amüsante und bitterböse Kommentare stets aufgelockert. Als ich zwischenzeitlich feststellte, nur den ersten Band einer Trilogie in den Händen zu halten, war ich leicht irritiert – würde die Geschichte wirklich Stoff für drei Bände hergeben? Inzwischen kann ich mir das durchaus vorstellen und wüsste überdies sehr gerne, wie es mit den Youngs, Shangs und T’Siens weitergeht. Außerdem las ich irgendwann, dass das Buch sogar verfilmt wurde – als billiger Hollywood-Klamauk, schon den Trailer fand ich abschreckend. Er wird diesem komplexen Culture-Clash-Roman nicht gerecht, indem nicht nur unterschiedliche Kulturen und Wertvorstellungen, sondern auch Generationen auf höchst amüsante, aber auch ab und an nachdenklich machende Weise immer wieder aufeinanderprallen.

Verlag: Kein & Aber
Seitenzahl: 576
Erscheinungsdatum: 13. Mai 2019
ISBN: 978-3036957975
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.