27. Juni 2021

John Green: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?

Kurioser Mix, wunderbar erzählt.

Dieser Titel hat mich gleich angesprochen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das auch noch sehr höflich: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?“ Tja, gute Frage. Laut Wikipedia (das wiederum einen Artikel aus der NZZ zitiert) ist das Anthropozän „[das Zeitalter,] in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“. Es gibt verschiedene Ansätze, die den Beginn des Anthropozäns unterschiedlich datieren. Fest steht, dass es das einzige Zeitalter ist, das wir kennen. Aber was macht es eigentlich aus?


John Green nähert sich dieser Frage in kurzen Kapiteln, in denen er über Dinge, Momente und Erfahrungen schreibt, die für ihn mit dem Anthropozän verbunden sind – z.B. Klimaanlagen, Diet Dr Pepper und Jerzy Dudeks sportliche Leistung am 25. Mai 2005. Ich habe Dr Pepper noch nie getrunken und Jerzy Dudek sagte mir nichts. Aber das ist völlig egal, gerade letztere Geschichte habe ich gleich zweimal gelesen, weil sie mir so gut gefallen hat (und vermutlich auch, weil gerade EM ist und es thematisch so schön passt). Viele der Kapitel beziehen sich auf die USA, da Green ein amerikanischer Autor ist – mehrere Überschriften sagten mir gar nichts. Doch das stört beim Lesen in keiner Weise, denn von diesem Autor lässt man sich einfach gerne lesend an die Hand nehmen und zu den verschiedensten Themen dieses bunten Mixes führen.

Allerdings erzählt John Green nicht nur – er bewertet auch, nach der bewährten 5-Sterne-Skala, die wir alle aus dem Internet kennen. Sogar sein eigenes Buch ist nicht vor ihm sicher; er lässt sich kritisch über Copyrightseite, Titelseite und die Buchwerbung am Schluss aus. Ansonsten bewertet er von Kanadagänsen (zwei Sterne) über unsere Fähigkeit zu staunen (dreieinhalb Sterne) bis hin zum Halleyschen Kometen (viereinhalb Sterne) jedes Thema, das er unter die Lupe nimmt – aber erst, nachdem er es sorgsam von mehreren Seiten beleuchtet hat. Green schreibt über seine persönliche Beziehung dazu, seine Gedanken, seine Erlebnisse und reichert das Ganze mit Fakten und (zum Teil wunderbar unnützem) Wissen an. Das liest sich mal faszinierend, mal skurril, mal anrührend, macht großen Spaß und bringt gleichzeitig zum Nachdenken. Die Art, in der John Green über Emotionen schreibt, hat mich dabei an Matt Haig erinnert und mir sehr gefallen.

Apropos: Wie hat mir das Anthropozän denn nun bis jetzt gefallen? Die Antwort auf diese Frage in eine 5-Sterne-Skala zu pressen, erscheint mir unmöglich. Aber John Greens Buch, dem gebe ich viereinhalb Sterne.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 18. Mai 2021
ISBN:‎ 978-3446270558
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

16. Juni 2021

David Safier: Miss Merkel

Mit Puffel und Putin.

Angela Merkel geht in den Ruhestand – und was kommt dann? Die Frage nach der nächsten Kanzlerin oder dem nächsten Kanzler beschäftigt viele. David Safier fragt sich stattdessen, was die zukünftige Altkanzlerin mit der neugewonnenen Freiheit und Freizeit wohl anstellen wird. Seine Antwort: Sie geht unter die Hobby-Detektive! Und das, obwohl in ihrer fiktiven neuen Heimat, dem beschaulichen Klein-Freudenstadt, eigentlich absolut nichts los ist.


Safiers „Miss Merkel“ findet es gar nicht so einfach, plötzlich ein Rentnerleben zu führen. Ihre Anfangsschwierigkeiten kompensiert sie mit Kuchenbacken, was ungute Effekte auf den Waschbrettbauch ihres Personenschützers Mike hat. Ehemann Achim, liebevoll „Puffel“ genannt, freut sich auf die ruhige Zweisamkeit – oder Dreisamkeit: Das Ehepaar Merkel/Sauer hat sich nämlich einen Mops namens Putin zugelegt. Nun fehlen nur noch ein paar neue Freunde, um in Klein-Freudenstadt Fuß zu fassen. Ein Fest auf der nahegelegenen Burg scheint eine gute Gelegenheit, um Leute kennenzulernen – doch dann verstirbt der Gastgeber in seinem von innen verschlossenen Weinkeller. Für den örtlichen Kommissar ein klarer Fall von Selbstmord, aber Angela Merkel hat Zweifel. Obwohl weder Ehemann noch Bodyguard begeistert sind, beginnt sie, Nachforschungen anzustellen und stößt dabei auf mehrere Ungereimtheiten …

Der Krimi steht und fällt mit seiner Hauptfigur – das dürfte kaum überraschen. Die in die Gedanken dieser fiktiven Angela Merkel eingestreuten Anekdötchen zum Berliner Betrieb sind durchaus amüsant zu lesen; auch das Zusammenleben mit Puffel und Putin sowie die Begegnungen mit dem gemeinen Volk sind unterhaltsam. Das Cosy Crime dient eher als Kulisse; Spannung kommt nicht wirklich auf und mit Miss Marple hat Miss Merkel in etwa so viel gemein wie Klein-Freudenstadt mit dem Prenzlauer Berg. Wegen des Genres sollte man also nicht zu diesem Buch greifen, die originelle Grundidee macht allerdings Spaß. David Safier beweist wieder einmal, dass er ein Meister der witzig-abstrusen Gedankenexperimente ist. Das Ergebnis ist ein netter Schmöker und trotz aller Absurditäten irgendwie auch eine Hommage auf Angela Merkel.

Verlag: Kindler
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 23. März 2021
ISBN:‎ 978-3463406657
Preis: 16,00 € (E-Book: 9,99 €)

6. Juni 2021

Katharina Döbler: Dein ist das Reich

Auf Südsee-Mission.

„Dein ist das Reich“ – was für ein mächtiger Titel. Er scheint gleich auf Mehreres anzuspielen: auf das Gottvertrauen der Protagonisten, aber auch auf das Reich Gottes, das sie den Papua auf Neuguinea nahebringen wollen. Die Idee, in ein fremdes Land einzudringen und den Einheimischen die eigene Kultur aufzuzwingen, könnte ebenfalls mitschwingen. Denn um all das geht es in diesem Buch, in dem die Autorin Katharina Döbler ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet.


1913 verlassen Döblers spätere Großväter Heiner Mohr und Johann Hensolt ihre fränkische Heimat und begeben sich auf eine lange Schiffsreise – noch nicht ahnend, dass sie dadurch dem Ersten Weltkrieg entgehen werden. Die jungen Männer sind von dem lutherischen Missionswerk in Neuendettelsau entsandt und auf dem Weg nach Kaiser-Wilhelms-Land, wie die deutsche Südsee-Kolonie heißt. Johann wird dort als Missionar arbeiten und Heiner als Pflanzer für die Bewirtschaftung einer Palmenplantage verantwortlich sein. Beide sind erst Anfang zwanzig.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Kolonie australisches Mandatsgebiet, doch die deutschen Missionsabgesandten dürfen bleiben und sogar ihre Bräute aus Deutschland nachholen. Marie und Linette sind grundverschieden und lernen sich auch erst viele Jahre später kennen, da die Familien in unterschiedlichen Teilen Neuguineas leben. Doch ihre Kinder, von denen sich zwei – Döblers Eltern – nach dem Zweiten Weltkrieg verloben werden, eint die Sehnsucht nach dem inzwischen verlorenen Paradies.

Man kann sich heute kaum vorstellen, wie es ist, die Heimat zu verlassen, um in einem Land zu leben, das man nur von ein paar Reiseberichten und Schwarzweißfotografien kennt. Und dann geht es noch nicht mal „nur“ um das Leben in der Fremde, sondern sie soll auch noch nach deutschen Vorstellungen bewirtschaftet und gestaltet werden, die indigenen Völker erzogen und missioniert. Die vier Franken glauben an ihren Auftrag, gehen mit der Herausforderung jedoch so unterschiedlich um wie mit dem später aufkeimenden Nationalsozialismus.

Döblers Roman tastet sich behutsam an die fiktionalisierten Schicksale ihrer Großeltern heran. Immer wieder werden alte Fotos und ihre Erinnerungen an Gespräche mit Familienangehörigen beschrieben. Doch am Lebendigsten lesen sich die Geschehnisse in Neuguinea. Was Kolonialismus bedeutet, wie Mission funktioniert – oder eben auch nicht: Döbler macht diese Themen nahbar. „Dein ist das Reich“ ist keine leichte oder bequeme Kost, der koloniale Rassismus und die Verkennung der politischen Entwicklung schmerzen ab und zu richtiggehend. Die unterschiedlichen Haltungen von Linette, Johann, Marie und Heiner regen außerdem zum Nachdenken an: Welche Irrungen sind im historischen Kontext nachvollziehbar – und welche nicht? Was macht Macht mit Menschen? Eine spannende Ergänzung wäre die Sicht der Papua auf die beschriebenen Missionsabgesandten, doch diese hätte den Roman sicher gesprengt. „Dein ist das Reich“ zerrt ein Stück eher unbekannter deutscher Kolonialgeschichte ans Licht, gewährt einen vielschichtigen Zugang dazu und trägt dazu bei, es vor dem Vergessen zu bewahren.

Verlag: Claassen
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 3. Mai 2021
ISBN: 978-3546100090
Preis: 24,00 € (E-Book: 21,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.