23. Juli 2024

Colm Tóibín: Long Island

Charakterstudien

Irland, Anfang der 1970er Jahre. Eilis reist nach langer Zeit das erste Mal zurück in ihr Heimatstädtchen Enniscorthy. Vor fast 20 Jahren hat sie es verlassen, um mit ihrem Mann Tony auf Long Island zusammenzuleben. Sie haben die zwei inzwischen fast erwachsenen Kinder Rosella und Larry bekommen und wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Tonys Eltern und den Familien seiner Brüder, wobei Eilis in dem italienischstämmigen Clan eine Exotin geblieben ist.

Nun ist etwas vorgefallen und Eilis braucht Abstand und reist zu ihrer Mutter. Doch nicht nur die lebt noch in Enniscorthy, auch Jim, der örtliche Pub-Besitzer, mit dem EIilis bei ihrem letzten Besuch eine Liaison hatte, ist noch vor Ort und hat ihre überstürzte Abreise zu einem Mann, von dessen Existenz er nicht mal wusste, nie komplett verwunden …

Es könnte der Beginn einer großen Liebesgeschichte über zweite Chancen und neues Glück sein – oder? In diese Kategorie passt „Long Island“ allerdings nur sehr bedingt. Vor allem geht es um drei Menschen – Eilis‘ Jugendfreundin Nancy ist auch noch eine wichtige Figur – die ihre Zukunft nochmal neu in die Hand nehmen wollen. Sie alle sind in unterschiedlichen Lebenssituationen und müssen herausfinden, was ihnen wichtig ist und welchen Preis sie dafür bereit sind zu bezahlen. Ihr Gefühlsleben ist widersprüchlich, ihre Entscheidungen sind komplex und die Folgen ihres Handelns eventuell unumkehrbar.

Autor Colm Tóibin, der selbst in Enniscorthy geboren wurde, schildert lakonisch, wie es seinen Hauptfiguren einen Sommer lang ergeht. Und obwohl keiner der drei ein totaler Sympathieträger ist, hat mich dieser grandios geschriebene Roman nicht mehr losgelassen. Der Autor schafft es, das Innenleben seiner Protagonist*innen so interessant zu erzählen, dass er die Handlung vermeintlich ruhig dahinplätschern lassen kann. Er hat ein ausgeprägtes Gespür für seine Charaktere, deren verschiedene Facetten erst nach und nach zum Vorschein kommen – auf dem Präsentierteller wird hier nichts geliefert, offen kommuniziert auch viel zu wenig. Und so müssen sich die Figuren einiges selbst zusammenreimen – ein Schicksal, dass sie mit den Romanleser*innen teilen. Vermutlich hat mich gerade das so gefesselt.

Bedauert habe ich, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, „Brooklyn“ vorab zu lesen oder zumindest den Film zu schauen. In dieser Vorgeschichte schildert Tóibín Eilis‘ Auswanderung und ihren ersten Sommer mit Jim. Um die Figuren schneller einordnen zu können, ist die Lektüre sicher hilfreich – außerdem macht „Long Island“ dann vermutlich noch mehr Spaß. Doch auch so hat mir das Buch sehr gefallen und ich habe die Hoffnung, dass Tóibín nochmal von Eilis, Jim und Nancy hören lassen könnte. Auserzählt ist diese Geschichte noch nicht.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 13. Mai 2024
ISBN: 978-3446279476
Preis: 26,- € (E-Book: 19,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.


10. Juli 2024

Marc-Uwe Kling: Views

Beklemmend

Die erste Hälfte dieses Buchs habe ich verschlungen. Danach konnte ich nur noch kleine Häppchen von ein, zwei Kapiteln lesen, bevor ich eine Pause brauchte. Marc-Uwe Kling hat einen Richtung Thriller gehenden Roman vorgelegt, der mir als Science-Fiction oder Dystopie deutlich besser gefallen hätte. Dummerweise wirkt er aber realitätsnah sowie gut recherchiert und hat mich dadurch erst so richtig gegruselt. In einem Bericht zur Preview des Buches habe ich gelesen, dass der Autor der Känguru-Chroniken befürchtet hatte, die Realität könnte „Views“ noch vor der Veröffentlichung einholen. Man will es sich nicht vorstellen.

Und worum geht’s? Ein 16-jähriges Mädchen wird vermisst und taucht in einem verstörenden Video als Opfer mutmaßlicher Flüchtlinge wieder auf. Die Empörungsmaschinerie läuft an und gewinnt immer mehr an Fahrt. Während die polizeilichen Ermittlungen erfolglos bleiben, formiert sich eine Art Bürgerwehr, die Jagd auf die Täter machen will. Yasira Saad, Leiterin der zuständigen Soko beim BKA, steht unter immensem Druck. Und dann tauchen weitere Videos auf …

Mehr lässt sich an dieser Stelle kaum erzählen, ohne zu spoilern, und letzteres will ich auf keinen Fall – mich hat „Views“ nämlich mehrmals kalt erwischt, was den beklemmenden Gesamteindruck noch verstärkt hat. Marc-Uwe Kling führt hier gnadenlos vor Augen, wie fragil alles sein kann – das Leben an sich, der zivilisatorische Anstrich, der Rechtsstaat, die Demokratie … keine leichte Lektüre, obwohl sich „Views“ locker-flockig runterliest: kurze Kapitel und eine knackig erzählte Geschichte, die immer verstörendere Züge annimmt, bis hin zum für mich sehr unerwarteten Ende. Jetzt schwanke ich zwischen dem Wunsch nach einem schönen Feelgood-Roman – und dem nach einer Fortsetzung.


Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 27. Juni 2024
ISBN: 978-3550202995
Preis: 19,99 € (E-Book: 15,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.