17. März 2025

Joël Dicker: Ein ungezähmtes Tier

Dickers bestes Buch

Joël Dicker ist einer meiner absoluten Lieblingsautoren. Alle Romane, die ich von ihm gelesen habe, fand ich großartig. Und so bin ich mit sehr hohen Erwartungen an „Ein ungezähmtes Tier“ herangegangen, die nicht nur nicht enttäuscht wurden: Ich glaube, es ist tatsächlich sein bestes Buch.

Die Geschichte spielt rund um einen Raubüberfall im Sommer 2022 in Genf. Dicker schildert die 20 Tage vorher, springt aber auch immer wieder kurz zum Tag des Überfalls. Zudem gibt es einige Rückblenden in die Vergangenheit. Im Zentrum des Romans stehen zwei Paare: Sophie und Arpad leben wie Karine und Greg in Cologny, einem schicken Vorort von Genf. Sie haben jeweils zwei Kinder in ähnlichem Alter, Arpad und Greg kennen sich aus deren Fußballverein. Soweit, so ähnlich, allerdings wohnen Sophie und Arpad in einer freistehenden Villa am Waldrand mit imposanten Glasfronten, während Karine und Greg in eine Neubausiedlung mit Doppelhaushälften gezogen sind, die die alteingesessenen Bewohner des Ortes naserümpfend als „Warze“ bezeichnen.

Die Paare freunden sich langsam an. Doch nicht nur das: Greg ist von der attraktiven Sophie extrem fasziniert und stalkt sie, ohne dass sie es merkt. Allerdings ist er bald nicht mehr der Einzige, der Sophie beobachtet, und überdies haben sie und Arpad etwas zu verbergen – vor der Welt, aber auch voreinander. In den 20 Tagen vor besagtem Raubüberfall drängen verschiedenste Geheimnisse ans Licht und werden die Leben von Sophie, Arpad, Karine und Greg unwiderruflich verändern.

Dicker springt spielerisch und mit immenser Leichtigkeit zwischen Perspektiven und Zeitebenen hin und her. Ich habe lange nicht verstanden, was da eigentlich im Busch ist und es hat mich kein bisschen gestört, weil diese grandiose Geschichte so wahnsinnig gut erzählt ist und immer neue Überraschungen bietet. Es gibt viele Twists und Entwicklungen, die unvorhersehbar und gleichzeitig komplett plausibel sind – und immer, wenn ich mir etwas doch nicht so recht erklären konnte, wurde irgendwann eine wasserdichte Begründung nachgeliefert. „Ein ungezähmtes Tier“ ist ein einziges spannendes Lesevergnügen und ich kann es nur absolut empfehlen. Einzig das Cover ist diesmal nicht mein Fall: Den dicken, glänzenden, weißen Rand oben und rechts empfinde ich als störend und vom Bild ablenkend.


Verlag: Piper
Seitenzahl: 432
Erscheinungsdatum: 27. Februar 2025
ISBN: 978-3492073448
Preis: 26,- € (E-Book: 18,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

7. März 2025

Daniel Glattauer: In einem Zug

Kammerspiel auf Schienen

Dieses Buch dürfte ein wunderbarer Begleiter für eine Zugfahrt sein – je nach Länge der Strecke bzw. ungeplanter Verlängerungen der Fahrtzeit lassen sich die 205 Seiten vielleicht sogar in einem Zug durchlesen. Und Vergnügen bereiten sie auch. 

Bestseller-Autor Eduard Brünhofer, der Ich-Erzähler dieses kurzweiligen Romans, ist auf dem Weg von Wien nach München, wo er ein Treffen mit seinem Verlag hat. In seinem Zugabteil sitzt eine Frau, wie er selbst ganz untypisch weder in ihr Handy noch in ein Buch oder eine Zeitschrift vertieft. Schnell finden sich die beiden in einem Gespräch wieder und lassen dabei jeglichen Smalltalk bald hinter sich, denn plötzlich geht es nur noch um die Liebe – theoretisch Brünhofers Fachgebiet, denn er ist spezialisiert auf Liebesromane und außerdem bereits mehrere Jahrzehnte mit seiner Ehefrau zusammen. Reisebekanntschaft Catrin dagegen ist Psychotherapeutin und glaubt weder an die große Liebe noch an langfristige Beziehungen. Es wird lebhaft diskutiert, wobei ich Catrins indiskrete Fragen ab und zu etwas anstrengend fand. People-Pleaser Brünhofer ging es da wohl ähnlich, aber er enttäuscht sein Gegenüber nicht. Überhaupt sind seine hin und her schweifenden Gedanken – über sich selbst, sein Schaffen, seine Ehe, seine Reisebekanntschaft und vieles andere – pointiert, humorvoll, selbstironisch und machen Spaß; da fällt es kaum ins Gewicht, dass Catrin in ihrer Penetranz ab und zu etwas nervig wirkt.

Der Roman besteht zu großen Teilen aus einem langen stream of consciousness. „In einem Zug“ umfasst tatsächlich fast nur diese eine Zugfahrt. Das Gespräch findet im Abteil und im Speisewagen statt und hat dadurch Kammerspiel-Charakter. Als Leserin hatte ich mich gefühlt auf dem Nachbarsitz eingerichtet und schließlich den Eindruck, meine Gegenüber nun gut zu kennen. Als sich Buch und Reise dann dem Ende zuneigten und ich keine größeren Überraschungen mehr erwartet habe, hat mich Glattauer allerdings mit einem eleganten Finaltwist gekonnt verblüfft. Da schließt sich ein Kreis so vollkommen, dass es mich sowohl beeindruckt als auch amüsiert hat. „In einem Zug“ ist mein erster Glattauer, mein letzter wird es wohl nicht sein.


Verlag: DuMont
Seitenzahl: 205
Erscheinungsdatum: 13. Januar 2025
ISBN: 978-3755800408
Preis: 23,- € (E-Book: 18,99 €)

28. Februar 2025

Emily Rudolf: Das Dinner

True-Crime- statt Krimi-Dinner

„Das Dinner“ hatte das Zeug, ein Thriller ganz nach meinem Geschmack zu werden: Fünf Freunde und ein vermeintlich fröhliches Zusammenkommen, das nach und nach durch immer mehr ans Licht kommende Geheimnisse getrübt wird. Begeistert hat mich das Buch aber leider nicht, was zum einen an gewissen Längen, zum anderen an ein paar Logiklücken liegt.

Lotta und Jonathan haben ihre alte Clique zu einem Abendessen eingeladen, nachdem sie sie jahrelang nicht gesehen haben: Kiano ist Jonathans ehemals bester Freund, Hanna Jonathans Schwester und Tristan ihr Ex. Man trifft sich in einem so stylischen wie abgelegenen Restaurant in der Eifel, das das Pärchen Lotta und Jonathan zusammen managt. Geplant ist ein Krimi-Dinner, wie zu früheren, unbeschwerten Zeiten. Doch ein Stuhl bleibt leer: Der von Maria, Hannas bester Freundin, die vor fünf Jahren bei einem Musikfestival spurlos verschwunden ist. Der verbliebene Freundeskreis hat sich seitdem nicht mehr getroffen, doch nun will man nach vorne sehen – oder? Beim Krimi-Dinner kommen Erinnerungen an jenen letzten Festivalabend hoch und es wird schnell klar, dass einige der Mitspielenden etwas zu verbergen haben und nicht mehr allzu viele freundschaftliche Gefühle vorhanden sind. Und irgendjemand scheint sein ganz eigenes Spielchen zu spielen – aber wer? Und warum?

Emily Rudolf lässt alle Figuren zu Wort kommen, sowohl in Rückblenden als auch in der Krimi-Dinner-Gegenwart. Das macht das Ganze zunächst sehr abwechslungsreich, hilft beim Kennenlernen der Charaktere und bei der Einschätzung der Situation. Allerdings kommt irgendwann der Punkt, an dem Lotta, Jonathan, Kiano, Hanna und Tristan ihre Erinnerungen immer genauer miteinander abgleichen – und da wird es dann manchmal etwas eintönig. Das Festivalgeschehen spielt sich zwischen Zelten, Tanzfläche und Toiletten ab; hier gibt es naturgemäß nicht so viel Abwechslung, wenn auch etwas mehr als beim gegenwärtigen Setting im Restaurant. Darüber hinaus habe ich weniger mit den Protagonistinnen und Protagonisten mitgefiebert als erwartet, denn kaum eine*r von ihnen war wirklich sympathisch; stattdessen werden jede Menge fragwürdige Entscheidungen bezüglich Partnerwahl und Substanzkonsum getroffen. Am Ende wartet Rudolf noch mit überraschenden Twists auf, bei denen allerdings nicht jedes Detail logisch erscheint. Insgesamt hatte ich mir von diesem Thriller einfach mehr erhofft.


Verlag: Scherz
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 29. Januar 2025
ISBN: 978-3651025158
Preis: 18,- € (E-Book: 12,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

20. Januar 2025

Paula Hawkins: Die blaue Stunde

Psychogramm einer Unterschätzten

Dieser Roman beginnt mit einem überraschenden Knochenfund und entwickelt sich dann nach und nach zu einer erschreckenden und faszinierenden Charakterstudie. Der Verlag hat ihn nicht als Thriller betitelt, was nur folgerichtig ist, plätschern die Geschehnisse doch teilweise so vor sich hin wie das Wasser zwischen Ebbe und Flut am Fahrdamm von Eris Island. Doch Paula Hawkins spitzt die Begebenheiten mehr und mehr zu, bis es am Ende einen Showdown gibt, der mich komplett kalt erwischt hat.

Handlungsort von „Die blaue Stunde“ ist besagte Insel, die bei Niedrigwasser durch einen Fahrdamm erreichbar ist. Hier hat die Künstlerin Vanessa Chapman gelebt, gemalt und getöpfert, bevor sie ihrer Krebserkrankung erlegen ist. Ihren künstlerischen Nachlass hat sie zur Überraschung aller einer Stiftung vermacht, mit deren Gründer sie sich wegen einer abgesagten Ausstellung einen jahrelangen Rechtsstreit geliefert hatte. Allerdings sind seit der Testamentseröffnung bereits Jahre vergangen, und Kunstwerke sowie Tagebücher der Verstorbenen sind noch immer nicht komplett übergeben worden. Plötzlich steht zudem ein ungeheurer Verdacht im Raum: Ein Anthropologe behauptet, das eines von Chapmans Kunstwerken nicht, wie von ihr angegeben, eine Paarhuferrippe enthält, sondern die eines Menschen. Da der Ehemann der verstorbenen Künstlerin bereits viele Jahre vor ihrem Tod verschollen ist, bietet es sich förmlich an, über die Herkunft der Rippe zu spekulieren. Um Schadensbegrenzung bemüht, reist Stiftungs-Kurator James Becker, ein ausgewiesener Chapman-Experte, nach Eris Island, um mit Grace Haswell, der Testamentsvollstreckerin, langjährigen Freundin und Mitbewohnerin der Künstlerin zu sprechen – und endlich auch die Herausgabe des restlichen Nachlasses in die Wege zu leiten.

Paula Hawkins verknüpft geschickt verschiedene Zeitebenen miteinander. Es gibt Beckers Nachforschungen, Haswells Gedanken und Erinnerungen, aber auch Briefe und Tagebucheinträge von der verstorbenen Künstlerin – letztere sämtlich undatiert, es ist also weder für Hauptfigur Becker noch für die Leserinnen und Leser dieses Romans einfach, sich einen Reim auf die Abfolge der Ereignisse zu machen. Die Inhalte der kurzen Kapitel fügen sich nach und nach wie ein Mosaik zusammen. Wie die Geschichte dabei fast unmerklich an Fahrt aufnimmt und plötzlich alles ineinandergreift, hat mich sehr fasziniert. Schon früh wird klar, dass „Die blaue Stunde“ sehr viel mehr ist als eine Art Kunstkrimi um einen gefundenen Knochen – der Roman enthält Geschichten von Liebe, Freundschaft, Hass und Einsamkeit. Ab und zu packte mich durchaus ein leichter Grusel, wozu der Handlungsort Eris Island definitiv beigetragen hat – diese kleine Insel, mal abgeschnitten, mal für jeden zugänglich und unbarmherzig gegenüber denen, die sie unterschätzen. Das Gesamtbild am Ende ist stimmig, unvorhersehbar und verstörend. Paula Hawkins ist einfach eine Meisterin ihres Fachs.


Verlag: dtv
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 9. Januar 2025
ISBN: 978-3423284547
Preis: 22,- € (E-Book: 16,99 €)

28. Dezember 2024

Ruth Ware: One Perfect Couple

Von der Reality-Show zum Survival Trip

Ein TV-Dreh auf einer einsamen Insel, bei dem die Teilnehmerinnen und Teilnehmer plötzlich auf sich allein gestellt sind und ums Überleben kämpfen – genau so eine Geschichte hatte ich vor fast zwei Jahren schon einmal gelesen. „Stranded – Die Insel“ von Sarah Goodwin hatte mich letztendlich ziemlich enttäuscht – die Logiklücken waren einfach zu groß und haben mir den Thriller verleidet. Umso gespannter war ich, ob Ruth Wares Umsetzung eines ähnlichen Settings gelungener sein würde. Und tatsächlich wurde ich positiv überrascht!

Eine neue Reality-Show mit dem Titel „One Perfect Couple“ soll auf einer einsamen Insel im Indischen Ozean gedreht werden. Schauspieler Nico wird für das TV-Format angefragt und bekniet seine Freundin Lyla, ihn zu begleiten. Die Virologin steckt gerade in einer Sinnkrise: Ihre Studien bringen nicht die erhofften Ergebnisse, ihr befristeter Vertrag an der Uni wird vermutlich nicht verlängert werden und wohin ihre Beziehung führt, ist sie sich auch nicht mehr so sicher. Da Nico jedoch überzeugt ist, dass „One Perfect Couple“ sein Durchbruch werden könnte, lässt sie sich breitschlagen. Und findet sich nur kurze Zeit später mit vier anderen Paaren in einem noch nicht komplett fertiggestellten Boutique Resort wieder; viele Seemeilen vom Festland entfernt.

Gleich nach der Ankunft überschlagen sich die Ereignisse: Völlig unerwartet muss bereits der erste Kandidat die Sendung verlassen und wird von der Fernsehcrew auf einer Jacht zurück zum Festland eskortiert. Nur wenige Stunden später wird die Insel von einem heftigen Sturm getroffen, der nicht nur Teile der Infrastruktur zerstört, sondern auch Menschenleben fordert. Das Fernsehteam kehrt nicht zurück und bald müssen die TV-Kandidatinnen und -Kandidaten erkennen, dass ihnen auch sonst niemand zu Hilfe eilt. Und dass sowohl die Essens- als auch die Trinkwasservorräte auf dieser Insel endlich sind …

Was dann folgt, fand ich ziemlich spannend: Die Gruppe sortiert sich völlig neu. Während es im Fernsehformat darum gegangen wäre, Challenges zu gewinnen und sich zu profilieren, sind nun alle damit beschäftigt, das eigene Überleben zu sichern. Erst scheint die Gruppe an einem Strang zu ziehen, doch die Nerven liegen bei vielen blank.

Die sich entwickelnde Dynamik ist sehr fesselnd geschildert. Schnell habe ich mit Ich-Erzählerin Lyla gerätselt, mit wem sie Allianzen bilden und wem sie noch vertrauen kann. Die Entwicklung der Dinge habe ich ebenso wenig vorhergesehen wie die Hauptfigur, trotz des Prologs. Und dann gab es am Ende noch mal einen Twist, der meine letzten offenen Fragen ziemlich elegant beseitigte. Ruth Ware greift Themen auf, die ich im ersten Teil des Buches niemals erwartet hätte, doch das Ergebnis hat mich ziemlich überzeugt. Ein gelungener Pageturner mit einem Cover, das einem Trash-TV-Werbeplakat alle Ehre machen würde, dessen Ende aber kaum weiter davon entfernt sein könnte.


Verlag: dtv
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 27. Dezember 2024
ISBN: 978-3423264136
Preis: 17,- € (E-Book: 12,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

4. Oktober 2024

Matt Haig: Die Unmöglichkeit des Lebens

Viel Übernatürliches, wenig überzeugende Handlung

Wie so viele andere hat mich „Die Mitternachtsbibliothek“ absolut begeistert. Schon seit Langem wollte ich mal wieder etwas von Matt Haig lesen, nun war es endlich soweit.

„Die Unmöglichkeit des Lebens“ begann in meinen Augen vielversprechend: Grace Winters ist eine verwitwete, pensionierte Mathematiklehrerin, die sich schon lange jedes Vergnügen versagt. Der Tod ihres Sohnes Daniel, noch im Kindesalter, hat sie ihrer Lebensfreude beraubt, der ihres Mannes vor wenigen Jahren sein Übriges dazu beigetragen. Grace Winters ist selbstgewählt einsam und ihre Tage verlaufen ziemlich monoton. Das ändert ein unerwartetes Erbe: Eine ehemalige Kollegin hat Grace ihr Häuschen auf Ibiza vermacht und einer überraschenden Laune folgend fliegt diese kurzentschlossen dorthin. Dass das ihr Leben grundlegend verändert, erfährt man bereits auf den allerersten Seiten, denn der Roman beginnt mit zwei Briefen: Graces früherer Schüler Maurice schreibt ihr, weil sie immer nett zu ihm war und er gerade in einer schwierigeren Lebensphase ist. Und sie antwortet ihm sehr herzlich und schickt ihm außerdem im Anhang ihre Geschichte mit – mit der Bemerkung, dass sie nie an Magie geglaubt hat und sich daran auch nichts geändert hätte. Nun ja.
Zauberstöcke und -sprüche kommen in Graces Geschichte vielleicht nicht vor, aber übernatürliche Aktivitäten spielen in „Die Unmöglichkeit des Lebens“ eine entscheidende Rolle, und zwar in einem Ausmaß, der mich immer wieder aufs Neue überrascht hat. Mit einem Hauch von Unerklärbarem hätte ich gut leben können. Aber hier steht das Paranormale dermaßen im Vordergrund, dass ich stellenweise das Gefühl hatte, es geht nur noch darum und die Handlung bleibt komplett auf der Strecke. Grob gesagt sind Matt Haigs Themen Umweltschutz, Ibiza und die Verarbeitung von persönlichen Traumata und Schuldgefühlen. Er verbindet sie mit einem ziemlich großen Schuss Übernatürlichem, auf den ich nicht näher eingehen will, um nicht zu viel vorwegzunehmen. Überzeugt hat mich das Ganze nicht.

Zwar schreibt Matt Haig gewohnt großartig, behutsam und empathisch über menschliche Empfindungen und formuliert auch in diesem Roman wieder Lebensweisheiten, die ich mir am liebsten abgeschrieben hätte. Aber die Handlung ist in meinen Augen zunehmend wild zusammengeschustert und wird eigentlich nur durch die übernatürlichen Phänomene zusammengehalten. Da passt dann auch einiges nicht so recht zueinander.

Als ich mit dem Buch begann, war ich davon überzeugt, dass ich es toll finden würde und musste mir dann irgendwann eingestehen: nö. Aber es war sicher nicht mein letzter Roman von Matt Haig – neues Buch, neues Glück?


Verlag: Droemer
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 29. August 2024
ISBN: 978-3426282762
Preis: 24,- € (E-Book: 19,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

6. September 2024

Micha Lewinsky: Sobald wir angekommen sind

Selbstfindung in Brasilien

Ben Oppenheim ist Ende vierzig, semi-erfolgreicher Schriftsteller, nicht praktizierender Jude, lebt in Zürich und von seiner Ehefrau Marina getrennt. Er hat zwei Kinder, eine Geliebte und jede Menge Selbstzweifel. Als der Krieg in Osteuropa jedoch näher zu rücken scheint und Marina und er den Ausbruch des dritten Weltkriegs befürchten, sind sich beide für einen Moment ihrer Sache ganz sicher. Kurz darauf sitzen sie mit Kindern und Gepäck im Flugzeug nach Brasilien – in das Land, in das schon Bens Vorbild Stefan Zweig auf seiner Flucht vor den Nationalsozialisten emigriert ist. Für einen Moment scheint alles möglich, doch dann muss Ben feststellen, dass er seine Unsicherheiten und Probleme nicht in Zürich zurückgelassen hat.

Wäre die Hauptfigur nicht schon fortgeschrittenen Alters, wäre ich glatt versucht, diesen Roman mit „Coming of Age“ zu beschreiben. Doch Ben ist längst erwachsen. Eventuell befindet er sich in einer Midlife-Crisis, doch die Ängste, mit denen er kämpft, scheinen ihn bereits den Großteil seines Lebens zu begleiten und werden von ihm gerne auf seine jüdische Herkunft und die Last der Geschichte zurückgeführt – Bens Reflektionen hierzu haben mich zum Teil berührt und zum Teil überfordert. Paradoxerweise sind diese Ängste sowohl mit extremer Selbstkritik als auch der Gewohnheit, die Schuld bei anderen zu suchen, gepaart. Da der Erzähler Bens Innenleben und Gedanken minutiös enthüllt, bleibt Leserinnen und Lesern wenig erspart: Seine Larmoyanz ist allgegenwärtig und nur erträglich durch die glücklicherweise ebenfalls vorhandene Selbstironie und die pointierte Sichtweise auf das Leben. Als seine Ex zu ihm sagt: „Je schlechter es dir geht, desto lustiger bist du“ antwortet Ben zum Beispiel: „Ohne Deine Hilfe könnte ich das nicht.“

Der Humor und die Neugier darauf, ob und wie Ben sein Leben in den Griff kriegt, haben mich bei der Stange gehalten. „Sobald wir angekommen sind“ liest sich kurzweilig, auch wenn die Hauptfigur einem ein gewisses Maß an Geduld abverlangt. Etwas ratlos, was ich aus diesem Roman eigentlich mitnehme, bleibe ich am Ende dennoch zurück.


Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 24. Juli 2024
ISBN: 978-3257073157
Preis: 25,- € (E-Book: 21,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

15. August 2024

Julia Karnick: Man sieht sich

Verschlungene Pfade

Liebesromane lese ich eher selten und hätte dieses Buch daher fast verpasst. Und das wäre ziemlich schade gewesen, denn zum einen ist „Man sieht sich“ viel mehr als eine Liebesgeschichte und zum anderen hatte ich lange kein Buch in der Hand, dessen unterschiedliche Zeitebenen mich alle gleichermaßen überzeugen konnten. Eine Geschichte zum Reinversinken mit zwei Protagonisten, die aus dem Leben gegriffen scheinen.

Frie und Robert lernen sich Ende der 80er Jahre in der Oberstufe eines Flensburger Gymnasiums kennen. Sie ist Tochter aus gutbürgerlichem, wohlhabendem Elternhaus, er lebt mit seiner alleinerziehenden, kranken Mutter in einer kleinen Mietwohnung. Im Laufe ihrer verbleibenden Schulzeit freunden sich die beiden an, wobei Robert sich bald eingestehen muss, dass er rettungslos in Frie verknallt ist. Doch die hat ein anderes Beuteschema, außerdem sind sie befreundet, das Abi naht und beide gehen ihrer Wege. Die sich jedoch immer mal wieder kreuzen – z.B. in den 90ern in Hamburg, als Frie erkennt, dass Robert inzwischen ziemlich cool geworden ist. Oder 2002, als beide beruflich Fuß gefasst haben – wenn auch nicht unbedingt so, wie erhofft oder erwartet. 2022 haben Frie und Robert schließlich 30-jähriges Abitreffen.

Was ich richtig toll fand: „Man sieht sich“ ist kein Buch über verpasste Chancen, bei dem man die Protagonisten auf jeder dritten Seite schütteln und ihnen „Kapiert’s doch endlich“ zurufen will. Es zeigt die Werdegänge zweier Menschen mit allen Brüchen, Fehlentscheidungen und schicksalhaften wie auch zufälligen Wendungen, die nun mal dazugehören. Julia Karnick schickt ihre Leserinnen und Leser auf eine kleine Zeitreise und schafft es mühelos, dass Lebensgefühl sowohl verschiedener Jahrzehnte als auch Lebensabschnitte einzufangen. Wie Frie und Robert sich entwickeln, sich selbst neu erfinden oder auch treu bleiben, ist packend zu lesen. Aber auch die Nebenfiguren sind in diesem Roman stimmig entwickelt. Für mich hat alles gepasst, nur hier und da hätte ich mir die Geschichte noch etwas ausführlicher gewünscht, weil ich sie einfach so gerne gelesen habe. Zum Nachschmecken bleibt am Ende der Soundtrack zum Buch, der das Ganze noch einmal musikalisch untermalt und einen zeitweise in die 90er zurückbeamt. Gelungen!


Verlag: dtv
Seitenzahl: 473
Erscheinungsdatum: 13. Juni 2024
ISBN: 978-3423283915
Preis: 23,- € (E-Book: 18,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

23. Juli 2024

Colm Tóibín: Long Island

Charakterstudien

Irland, Anfang der 1970er Jahre. Eilis reist nach langer Zeit das erste Mal zurück in ihr Heimatstädtchen Enniscorthy. Vor fast 20 Jahren hat sie es verlassen, um mit ihrem Mann Tony auf Long Island zusammenzuleben. Sie haben die zwei inzwischen fast erwachsenen Kinder Rosella und Larry bekommen und wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Tonys Eltern und den Familien seiner Brüder, wobei Eilis in dem italienischstämmigen Clan eine Exotin geblieben ist.

Nun ist etwas vorgefallen und Eilis braucht Abstand und reist zu ihrer Mutter. Doch nicht nur die lebt noch in Enniscorthy, auch Jim, der örtliche Pub-Besitzer, mit dem EIilis bei ihrem letzten Besuch eine Liaison hatte, ist noch vor Ort und hat ihre überstürzte Abreise zu einem Mann, von dessen Existenz er nicht mal wusste, nie komplett verwunden …

Es könnte der Beginn einer großen Liebesgeschichte über zweite Chancen und neues Glück sein – oder? In diese Kategorie passt „Long Island“ allerdings nur sehr bedingt. Vor allem geht es um drei Menschen – Eilis‘ Jugendfreundin Nancy ist auch noch eine wichtige Figur – die ihre Zukunft nochmal neu in die Hand nehmen wollen. Sie alle sind in unterschiedlichen Lebenssituationen und müssen herausfinden, was ihnen wichtig ist und welchen Preis sie dafür bereit sind zu bezahlen. Ihr Gefühlsleben ist widersprüchlich, ihre Entscheidungen sind komplex und die Folgen ihres Handelns eventuell unumkehrbar.

Autor Colm Tóibin, der selbst in Enniscorthy geboren wurde, schildert lakonisch, wie es seinen Hauptfiguren einen Sommer lang ergeht. Und obwohl keiner der drei ein totaler Sympathieträger ist, hat mich dieser grandios geschriebene Roman nicht mehr losgelassen. Der Autor schafft es, das Innenleben seiner Protagonist*innen so interessant zu erzählen, dass er die Handlung vermeintlich ruhig dahinplätschern lassen kann. Er hat ein ausgeprägtes Gespür für seine Charaktere, deren verschiedene Facetten erst nach und nach zum Vorschein kommen – auf dem Präsentierteller wird hier nichts geliefert, offen kommuniziert auch viel zu wenig. Und so müssen sich die Figuren einiges selbst zusammenreimen – ein Schicksal, dass sie mit den Romanleser*innen teilen. Vermutlich hat mich gerade das so gefesselt.

Bedauert habe ich, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, „Brooklyn“ vorab zu lesen oder zumindest den Film zu schauen. In dieser Vorgeschichte schildert Tóibín Eilis‘ Auswanderung und ihren ersten Sommer mit Jim. Um die Figuren schneller einordnen zu können, ist die Lektüre sicher hilfreich – außerdem macht „Long Island“ dann vermutlich noch mehr Spaß. Doch auch so hat mir das Buch sehr gefallen und ich habe die Hoffnung, dass Tóibín nochmal von Eilis, Jim und Nancy hören lassen könnte. Auserzählt ist diese Geschichte noch nicht.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 13. Mai 2024
ISBN: 978-3446279476
Preis: 26,- € (E-Book: 19,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.


10. Juli 2024

Marc-Uwe Kling: Views

Beklemmend

Die erste Hälfte dieses Buchs habe ich verschlungen. Danach konnte ich nur noch kleine Häppchen von ein, zwei Kapiteln lesen, bevor ich eine Pause brauchte. Marc-Uwe Kling hat einen Richtung Thriller gehenden Roman vorgelegt, der mir als Science-Fiction oder Dystopie deutlich besser gefallen hätte. Dummerweise wirkt er aber realitätsnah sowie gut recherchiert und hat mich dadurch erst so richtig gegruselt. In einem Bericht zur Preview des Buches habe ich gelesen, dass der Autor der Känguru-Chroniken befürchtet hatte, die Realität könnte „Views“ noch vor der Veröffentlichung einholen. Man will es sich nicht vorstellen.

Und worum geht’s? Ein 16-jähriges Mädchen wird vermisst und taucht in einem verstörenden Video als Opfer mutmaßlicher Flüchtlinge wieder auf. Die Empörungsmaschinerie läuft an und gewinnt immer mehr an Fahrt. Während die polizeilichen Ermittlungen erfolglos bleiben, formiert sich eine Art Bürgerwehr, die Jagd auf die Täter machen will. Yasira Saad, Leiterin der zuständigen Soko beim BKA, steht unter immensem Druck. Und dann tauchen weitere Videos auf …

Mehr lässt sich an dieser Stelle kaum erzählen, ohne zu spoilern, und letzteres will ich auf keinen Fall – mich hat „Views“ nämlich mehrmals kalt erwischt, was den beklemmenden Gesamteindruck noch verstärkt hat. Marc-Uwe Kling führt hier gnadenlos vor Augen, wie fragil alles sein kann – das Leben an sich, der zivilisatorische Anstrich, der Rechtsstaat, die Demokratie … keine leichte Lektüre, obwohl sich „Views“ locker-flockig runterliest: kurze Kapitel und eine knackig erzählte Geschichte, die immer verstörendere Züge annimmt, bis hin zum für mich sehr unerwarteten Ende. Jetzt schwanke ich zwischen dem Wunsch nach einem schönen Feelgood-Roman – und dem nach einer Fortsetzung.


Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 27. Juni 2024
ISBN: 978-3550202995
Preis: 19,99 € (E-Book: 15,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

21. Juni 2024

Anthony Horowitz: Mord stand nicht im Drehbuch

Tod einer Kritikerin

Der Titel dieses Buches hat mich gleich an einen gemütlichen englischen Sonntagnachmittagskrimi erinnert. Doch gemütlich fühlt sich der Ich-Erzähler ganz und gar nicht, er steht nämlich unter Mordverdacht. Eine berüchtigte Theaterkritikerin hat sein gerade erstmals in London aufgeführtes Stück „Mindgame“ gnadenlos verrissen und wird am Morgen danach in ihrem Haus ermordet. Alle Indizien scheinen gegen Anthony Horowitz zu sprechen – den Protagonisten, der den Namen des echten Autors trägt und untrennbar mit ihm verschmolzen scheint. Jetzt kann nur noch Privatdetektiv Daniel Hawthorne helfen, dem Horowitz allerdings gerade die Zusammenarbeit aufgekündigt hat. Es sieht nicht gut aus für den Erdenker von Alex Rider …

„Mord stand nicht im Drehbuch“ ist der vierte Titel, in dem Anthony Horowitz über Anthony Horowitz schreibt bzw. so charmant wie gewitzt den Eindruck erweckt, seine Krimis wären autobiografisch. Die ersten beiden kenne ich noch nicht, aber den dritten „Wenn Worte töten“ habe ich sehr begeistert gelesen. Eventuell dazu beigetragen hat die Tatsache, dass der Handlungsort ein Literaturfestival ist und es immer wieder um den Literaturbetrieb geht. Dieser Folgeband hat dagegen die Theaterszene zum Thema. Ich habe etwas länger gebraucht, um damit warm zu werden, doch nach einem ruhigen Einstieg nimmt der Krimi sehr an Fahrt auf und schließlich befragt Hawthorne in bester Hercule-Poirot-Manier den scheinbar überschaubaren Kreis der möglichen Täterinnen und Täter. Dem Hauptverdächtigen Horowitz bleibt dabei wieder die Rolle des im Dunkeln tappenden Sidekicks – zum einen hat mich das amüsiert, zum anderen muss ich gestehen, auch nicht mehr Durchblick gehabt zu haben als die Hauptfigur. Die raffinierte Auflösung ließ dann aber keine Fragen mehr offen. Ein richtig guter, unterhaltsamer Krimi, in dem die nächsten Bände erfreulicherweise bereits angeteasert werden. Ich freue mich darauf!


Verlag: Insel
Seitenzahl: 327
Erscheinungsdatum: 20. Mai 2024
ISBN: 978-3458644163
Preis: 25,- € (E-Book: 21,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.