23. Juli 2024

Colm Tóibín: Long Island

Charakterstudien

Irland, Anfang der 1970er Jahre. Eilis reist nach langer Zeit das erste Mal zurück in ihr Heimatstädtchen Enniscorthy. Vor fast 20 Jahren hat sie es verlassen, um mit ihrem Mann Tony auf Long Island zusammenzuleben. Sie haben die zwei inzwischen fast erwachsenen Kinder Rosella und Larry bekommen und wohnen in unmittelbarer Nachbarschaft zu Tonys Eltern und den Familien seiner Brüder, wobei Eilis in dem italienischstämmigen Clan eine Exotin geblieben ist.

Nun ist etwas vorgefallen und Eilis braucht Abstand und reist zu ihrer Mutter. Doch nicht nur die lebt noch in Enniscorthy, auch Jim, der örtliche Pub-Besitzer, mit dem EIilis bei ihrem letzten Besuch eine Liaison hatte, ist noch vor Ort und hat ihre überstürzte Abreise zu einem Mann, von dessen Existenz er nicht mal wusste, nie komplett verwunden …

Es könnte der Beginn einer großen Liebesgeschichte über zweite Chancen und neues Glück sein – oder? In diese Kategorie passt „Long Island“ allerdings nur sehr bedingt. Vor allem geht es um drei Menschen – Eilis‘ Jugendfreundin Nancy ist auch noch eine wichtige Figur – die ihre Zukunft nochmal neu in die Hand nehmen wollen. Sie alle sind in unterschiedlichen Lebenssituationen und müssen herausfinden, was ihnen wichtig ist und welchen Preis sie dafür bereit sind zu bezahlen. Ihr Gefühlsleben ist widersprüchlich, ihre Entscheidungen sind komplex und die Folgen ihres Handelns eventuell unumkehrbar.

Autor Colm Tóibin, der selbst in Enniscorthy geboren wurde, schildert lakonisch, wie es seinen Hauptfiguren einen Sommer lang ergeht. Und obwohl keiner der drei ein totaler Sympathieträger ist, hat mich dieser grandios geschriebene Roman nicht mehr losgelassen. Der Autor schafft es, das Innenleben seiner Protagonist*innen so interessant zu erzählen, dass er die Handlung vermeintlich ruhig dahinplätschern lassen kann. Er hat ein ausgeprägtes Gespür für seine Charaktere, deren verschiedene Facetten erst nach und nach zum Vorschein kommen – auf dem Präsentierteller wird hier nichts geliefert, offen kommuniziert auch viel zu wenig. Und so müssen sich die Figuren einiges selbst zusammenreimen – ein Schicksal, dass sie mit den Romanleser*innen teilen. Vermutlich hat mich gerade das so gefesselt.

Bedauert habe ich, dass ich mir nicht die Zeit genommen habe, „Brooklyn“ vorab zu lesen oder zumindest den Film zu schauen. In dieser Vorgeschichte schildert Tóibín Eilis‘ Auswanderung und ihren ersten Sommer mit Jim. Um die Figuren schneller einordnen zu können, ist die Lektüre sicher hilfreich – außerdem macht „Long Island“ dann vermutlich noch mehr Spaß. Doch auch so hat mir das Buch sehr gefallen und ich habe die Hoffnung, dass Tóibín nochmal von Eilis, Jim und Nancy hören lassen könnte. Auserzählt ist diese Geschichte noch nicht.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 13. Mai 2024
ISBN: 978-3446279476
Preis: 26,- € (E-Book: 19,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.


10. Juli 2024

Marc-Uwe Kling: Views

Beklemmend

Die erste Hälfte dieses Buchs habe ich verschlungen. Danach konnte ich nur noch kleine Häppchen von ein, zwei Kapiteln lesen, bevor ich eine Pause brauchte. Marc-Uwe Kling hat einen Richtung Thriller gehenden Roman vorgelegt, der mir als Science-Fiction oder Dystopie deutlich besser gefallen hätte. Dummerweise wirkt er aber realitätsnah sowie gut recherchiert und hat mich dadurch erst so richtig gegruselt. In einem Bericht zur Preview des Buches habe ich gelesen, dass der Autor der Känguru-Chroniken befürchtet hatte, die Realität könnte „Views“ noch vor der Veröffentlichung einholen. Man will es sich nicht vorstellen.

Und worum geht’s? Ein 16-jähriges Mädchen wird vermisst und taucht in einem verstörenden Video als Opfer mutmaßlicher Flüchtlinge wieder auf. Die Empörungsmaschinerie läuft an und gewinnt immer mehr an Fahrt. Während die polizeilichen Ermittlungen erfolglos bleiben, formiert sich eine Art Bürgerwehr, die Jagd auf die Täter machen will. Yasira Saad, Leiterin der zuständigen Soko beim BKA, steht unter immensem Druck. Und dann tauchen weitere Videos auf …

Mehr lässt sich an dieser Stelle kaum erzählen, ohne zu spoilern, und letzteres will ich auf keinen Fall – mich hat „Views“ nämlich mehrmals kalt erwischt, was den beklemmenden Gesamteindruck noch verstärkt hat. Marc-Uwe Kling führt hier gnadenlos vor Augen, wie fragil alles sein kann – das Leben an sich, der zivilisatorische Anstrich, der Rechtsstaat, die Demokratie … keine leichte Lektüre, obwohl sich „Views“ locker-flockig runterliest: kurze Kapitel und eine knackig erzählte Geschichte, die immer verstörendere Züge annimmt, bis hin zum für mich sehr unerwarteten Ende. Jetzt schwanke ich zwischen dem Wunsch nach einem schönen Feelgood-Roman – und dem nach einer Fortsetzung.


Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 27. Juni 2024
ISBN: 978-3550202995
Preis: 19,99 € (E-Book: 15,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

21. Juni 2024

Anthony Horowitz: Mord stand nicht im Drehbuch

Tod einer Kritikerin

Der Titel dieses Buches hat mich gleich an einen gemütlichen englischen Sonntagnachmittagskrimi erinnert. Doch gemütlich fühlt sich der Ich-Erzähler ganz und gar nicht, er steht nämlich unter Mordverdacht. Eine berüchtigte Theaterkritikerin hat sein gerade erstmals in London aufgeführtes Stück „Mindgame“ gnadenlos verrissen und wird am Morgen danach in ihrem Haus ermordet. Alle Indizien scheinen gegen Anthony Horowitz zu sprechen – den Protagonisten, der den Namen des echten Autors trägt und untrennbar mit ihm verschmolzen scheint. Jetzt kann nur noch Privatdetektiv Daniel Hawthorne helfen, dem Horowitz allerdings gerade die Zusammenarbeit aufgekündigt hat. Es sieht nicht gut aus für den Erdenker von Alex Rider …

„Mord stand nicht im Drehbuch“ ist der vierte Titel, in dem Anthony Horowitz über Anthony Horowitz schreibt bzw. so charmant wie gewitzt den Eindruck erweckt, seine Krimis wären autobiografisch. Die ersten beiden kenne ich noch nicht, aber den dritten „Wenn Worte töten“ habe ich sehr begeistert gelesen. Eventuell dazu beigetragen hat die Tatsache, dass der Handlungsort ein Literaturfestival ist und es immer wieder um den Literaturbetrieb geht. Dieser Folgeband hat dagegen die Theaterszene zum Thema. Ich habe etwas länger gebraucht, um damit warm zu werden, doch nach einem ruhigen Einstieg nimmt der Krimi sehr an Fahrt auf und schließlich befragt Hawthorne in bester Hercule-Poirot-Manier den scheinbar überschaubaren Kreis der möglichen Täterinnen und Täter. Dem Hauptverdächtigen Horowitz bleibt dabei wieder die Rolle des im Dunkeln tappenden Sidekicks – zum einen hat mich das amüsiert, zum anderen muss ich gestehen, auch nicht mehr Durchblick gehabt zu haben als die Hauptfigur. Die raffinierte Auflösung ließ dann aber keine Fragen mehr offen. Ein richtig guter, unterhaltsamer Krimi, in dem die nächsten Bände erfreulicherweise bereits angeteasert werden. Ich freue mich darauf!


Verlag: Insel
Seitenzahl: 327
Erscheinungsdatum: 20. Mai 2024
ISBN: 978-3458644163
Preis: 25,- € (E-Book: 21,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.


7. Juni 2024

Rebecca F. Kuang: Yellowface

Buchliebe auf den ersten Blick 

Buchliebe auf den ersten Blick: Das Cover, die Leseprobe, der Farbschnitt mit dem tropfenden Füller – ich wusste sofort, das muss ich lesen. Romane, die den Literaturbetrieb thematisieren, mag ich sowieso, Pointiert-Satirisches ebenfalls und wenn dann noch Richtig und Falsch verschwimmen und die Protagonistin Leserinnen und Leser auf ihre mutmaßlich dunkle Seite zieht, finde ich das ziemlich spannend. „Yellowface“ bietet all das und ist darüber hinaus sehr unterhaltsam geschrieben.


Zum Inhalt: June Hayward und Athena Liu, beide 27 Jahre alt, kennen sich seit dem Studium in Yale, das beide mit einem klaren Ziel vor Augen verfolgt haben: Sie wollten erfolgreiche Autorinnen werden. Athena hat es ein paar Jahre später geschafft, June nicht. Zwar hat auch sie einen Verlag gefunden, der ihren Debütroman veröffentlicht hat, doch der Titel fand keine große Aufmerksamkeit und ist mehr oder weniger versandet. Nun hat June eine Schreibblockade und Athena einen Netflix-Deal, auf den sie mit ihrer früheren Kommilitonin anstoßen will. Dass Athena an diesem ausgelassenen Abend das Zeitliche segnet, ist ein tragischer Unfall. Dass June ein unveröffentlichtes Manuskript von ihr einsteckt, eine Kurzschlussreaktion. Dass sie es lektoriert, weiterentwickelt und schließlich als ihres veröffentlicht ein Coup – aber wird sie tatsächlich damit durchkommen?

Autorin Rebecca F. Kuang ist ein temporeicher, überraschender und extrem origineller Roman gelungen. „Yellowface“ setzt sich amüsant-intelligent und erstaunlich ergebnisoffen mit Themen wie dem Autorendasein, geistigem Eigentum und kultureller Aneignung auseinander. Die Irrungen und Wendungen haben mich vielfach verblüfft und gefesselt. Kurz vorm Finale driftet der Roman dann etwas ab und wird noch eine ganze Ecke abgedrehter als vorher. Das Ende fand ich allerdings wieder sehr stimmig und der Geschichte würdig. Ein cooles Buch und einer meiner zwei Frühjahrs-Favoriten.


Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 29. Februar 2024
ISBN: 978-3847901624
Preis: 24,- € (E-Book: 23,99 €)

1. Mai 2024

Agatha Christie, Dominique Ziegler (Autor Graphic Novel), Olivier Dauger (Illustrator Graphic Novel): Die Tote in der Bibliothek

Falsches Format für diesen Klassiker

„Die Tote in der Bibliothek“ war der erste Agatha-Christie-Krimi überhaupt, den ich gelesen habe. Ein Freund meines Vaters besuchte uns, ich war vielleicht 12 oder 13, und brachte ihn mir in der schwarzweiß-gestreiften Ausgabe mit, die auch damals schon etwas älter war – offensichtlich ein Buch aus seinen eigenen Beständen. Ich weiß nicht mehr, ob ich es sofort gelesen habe oder erst irgendwann später, aber dass es raffiniert war, wusste ich auf jeden Fall zu schätzen und lese bis heute gerne ab und zu Krimis von der Queen of Crime. Warum also nicht mal als Graphic Novel?

Hier, nach der Lektüre, meine Antwort: Weil die Umsetzung einfach nicht so gut funktioniert. 

Kurz zum Inhalt: „Die Tote in der Bibliothek“ wird bereits zu Beginn gefunden, im Haus des ehrwürdigen, älteren Colonel Bantry und seiner Frau. Sie liegt morgens vor den Bücherregalen – blond, jung, leicht bekleidet und mausetot. Das Ehepaar hat die Frau noch nie gesehen, doch dass sie in ihrem Haus gefunden wird, macht natürlich keinen guten Eindruck. Außer der Polizei ruft Mrs. Bantry deswegen auch gleich ihre Freundin Jane Marple, die sich – zunächst zum Ärger der Ermittler Chief Constable Melchett und Inspektor Flem – selbst umhört. Bald stellt sich heraus, dass die Tote als Tänzerin in einem Hotel gearbeitet hat und ein älterer Gast ihr so zugetan war, dass er sie in seinem Testament berücksichtigen wollte. Doch seine sonstigen Erben haben wasserdichte Alibis und der Fall wird immer undurchsichtiger …

„Die Tote in der Bibliothek“ ist eine verschlungene Geschichte mit einigen Twists – wer sie noch nicht kennt, tappt vermutlich lange im Dunkeln. Wenn ich Krimis lese, rätsel ich immer gerne mit; nehme aber an, dass man beim Lesen der Graphic Novel gar nicht dazu kommt. Hier geht alles Schlag auf Schlag, man lernt die Charaktere gar nicht richtig kennen und hat keine Möglichkeit, auf Zwischentöne oder Anspielungen zu achten. Generell geht leider vieles verloren, was die Krimis von Agatha Christie ausmacht. Darüber hinaus wirkt Miss Marple wie eine nervige Besserwisserin, die ständig aus dem Nichts auftaucht und sich einmischt – und sie sieht kein bisschen aus wie Margaret Rutherford! Fair enough, aber die sehe ich einfach vor mir, wenn ich einen Miss-Marple-Krimi lese. Doch auch das Gesamtbild war für mich nicht stimmig. Die Geschichte kann sich nicht so aufbauen wie im Roman, Emotionen bleiben auf der Strecke (außer bei Inspektor Flem, der Ärger und Ungeduld stets freien Lauf lässt – das allerdings in einem Ton, der nicht zu Agatha Christies Krimis passt). Wer „Die Tote in der Bibliothek“ nicht kennt, ist vermutlich nicht so kritisch mit der Graphic Novel und auch mir haben die Illustrationen an sich eigentlich gefallen. Trotzdem tat es mir leid um die Geschichte. Für sie ist es einfach nicht das richtige Format.


Verlag: Carlsen Comics
Seitenzahl: 64
Erscheinungsdatum: 26. März 2024
ISBN: 978-3551794130
Preis: 20,- €

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

23. April 2024

Lucy Clarke: The Hike

Spannung, Twists und Emotionen

Mehrere Freundinnen in unterschiedlichsten Lebenssituationen, ein Reiseziel, das sie an ihre Grenzen bringt und eine Handvoll unvorhersehbarer Ereignisse – fertig ist der neue Thriller von Lucy Clarke. Die vier Protagonistinnen, von denen „The Hike“ handelt, sind schon zusammen zur Schule gegangen. Inzwischen sind Maggie, Liz, Helena und Joni Anfang dreißig und haben sich mehr oder weniger auseinandergelebt. Ein gemeinsamer Urlaub soll die Freundschaft auffrischen und den Vieren eine Alltagsauszeit ermöglichen. Allerdings stehen nicht Sonne, Strand und Meer auf dem Programm, sondern eine Wanderung zu einem abgelegenen Berggipfel in Norwegen. Liz ist fest entschlossen, den anspruchsvollen Trip auch gegen den Widerstand ihrer Freundinnen durchzuziehen, sieht sich jedoch bald mit Widrigkeiten konfrontiert, die sie sich nie hätte vorstellen können …

Lucy Clarkes letztes Buch „One of the girls“ fand ich richtig super und habe mich daher sehr auf „The Hike“ gefreut. Und auch hier zeigt die britische Autorin ihr Können: Spannung, Twists und Emotionen kommen nicht zu kurz. Schriftstellerkollegin Claire Douglas bezeichnet „The Hike“ in einem Blurb auf dem Buchrücken sogar als „ihr bestes Buch“ – soweit würde ich allerdings nicht gehen, denn „One of the girls“ war noch unvorhersehbarer. Apropos Buchrücken: Komplett überflüssig ist die Ankündigung „Vier Freundinnen in der Wildnis Norwegens. Nur drei kommen zurück.“ – klingt unheilvoll und mysteriös, ist aber vor allem ein Spoiler, den dieser atmosphärische Thriller nicht nötig hat. Er hat mich gut unterhalten und immer wieder überrascht. Einige Wendungen habe ich zwar durchaus erahnt, aber gestört hat mich das nicht. Schöne Spannungslektüre für die nächste Bergtour oder einen Freundinnenurlaub.


Verlag: dtv
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 18. April 2024
ISBN: 978-3423263849
Preis: 17,- € (E-Book: 12,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

17. März 2024

Gaea Schoeters: Trophäe

Ausnahmebuch

Auf diesem Blog war es lange ruhig - das wird sich heute ändern, denn dieser Roman ist einfach zu gut, um ihn nicht hier vorzustellen. Das erste Buch seit langem, das mich mal wieder so richtig begeistert (und gleichzeitig mit Grauen erfüllt). Auf der Rückseite des Schutzumschlags wird es völlig zu Recht als "ethischer Mindfuck" beschrieben. Ein absoluter Lesetipp – und warum?

Es lässt sich so vieles an "Trophäe" hervorheben; zum Beispiel die präzise, elegante Sprache und die eindrückliche Darstellung von Tieren und Natur. Der Roman ist dicht erzählt und konzentriert sich auf wenige Protagonisten und Handlungsschauplätze. Hauptfigur ist der amerikanische Jäger Hunter White – der Name ein Klischee, der Mann dahinter jedoch nicht zu unterschätzen. Hunter ist ein Trophäenjäger mit Ethos, zumindest stellt er sich selbst so dar und seine Perspektive ist den Leserinnen und Lesern am nächsten. Nicht zum ersten Mal ist er mit einer teuer erkauften Jagdlizenz nach Afrika gekommen, doch diese hier war vermutlich die kostspieligste: Hunter will ein Nashorn erschießen und damit die Big Five vollmachen – Löwe, Büffel, Elefant und Leopard hat er also bereits erlegt. Kein Wunder, dass er mit seinem südafrikanischen Jagdtourenorganisator schon gut befreundet ist – van Heeren weiß genau, was Hunter White will. Eine halbwegs authentische Jagderfahrung, Übernachtungen im Zelt, keinen Firlefanz. Die Tage des ausgewählten Nashorns sind gezählt, doch erstmals läuft nicht alles nach Plan und es sieht ganz so aus, als müsste Hunter mit leeren Händen zurückreisen. Doch dann erzählt ihm van Heeren von den Big Six und plötzlich erscheinen alle moralischen und ethischen Fragen, mit denen Gaea Schoeters ihre Leser*innen bis dahin konfrontiert hat, wie leichte Aufwärmübungen …

Die flämische Autorin geht von Anfang an in die Vollen. Hunter Whites Respekt vor der Beute hat mir beim Lesen durchaus welchen abgenötigt, seine Argumentation, warum Trophäenjagd Artenschutz bedeutet, klingt erschreckend logisch. Nebenbei lässt Gaea Schoeters ihren passionierten Jäger immer wieder Erfahrungen machen, die ihm zeigen: Westliche Wertevorstellungen muss man sich erstmal leisten können. Vom amerikanischen oder auch deutschen Sofa aus mag Gut und Böse klar trennbar sein, in Afrika stellt sich aber einiges anders dar. Darf man urteilen, wenn man die Komplexität von Situationen interkulturell gar nicht erfassen kann? Und als sie mich als Leserin endlich soweit hatte, dass ich alte Gewissheiten mit neuer Demut in Frage stellte, trieb es die Autorin erbarmungslos auf die Spitze. Ein verstörender Roman, der fasziniert, herausfordert und erschreckt. Ungewöhnlich und absolut lesenswert.


Verlag: Zsolnay
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 19. Februar 2024
ISBN: 978-3552073883
Preis: 24,- € (E-Book: 17,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

27. Oktober 2023

Wolf Haas: Eigentum

Hommage

Der österreichische Autor Wolf Haas erzählt in „Eigentum“ von seiner fast 95-jährigen Mutter. Er schildert die Gespräche mit der Hochbetagten an ihren letzten Lebenstagen im Altenheim, gibt ihre Erinnerungen wieder und lässt seinen Gedanken freien Lauf. Diese springen zwischen der Situation, der Vergangenheit, einer anstehenden Poetikvorlesung und der zu planenden Beerdigung hin und her. Das Ganze liest sich keineswegs schwermütig, sondern ist eine feine Mischung nüchterner, anrührender und skurriler Betrachtungen – und eine Hommage an die Mutter.

Marianne Haas war offensichtlich kein einfacher Charakter und tickte ganz anders als der Autor selbst. Man war sich vermutlich fern, fremd und nah zugleich, wie das nur in engen familiären Beziehungen der Fall sein kann. 1923 in ärmlichen Verhältnissen geboren, hatte die Frau ein oft hartes und karges Leben und immer ein Ziel vor Augen, das der Autor auch als Titel seines Romans gewählt hat: Eigentum. Doch Marianne Haas konnte nie Eigentum erwerben, trotz „sparen, sparen, sparen“ (sie war eine Liebhaberin von dreifachen Wortwiederholungen). Die notwendige Anzahlung wurde immer erhöht, wenn das Sparziel in greifbarer Nähe schien, Inflation entwertete das Geld – im Jahr der Hyperinflation geboren, scheint sich dieses Motiv durch ihr Leben zu ziehen. Erst als ihr Mann beerdigt und auf dem Friedhofskreuz auch bereits ihr Name verewigt ist, ist dem Gefühl nach eigener Grund und Boden da – wenn auch anders als vom Leben erhofft.

Wolf Haas lässt seine Mutter selbst zu Wort kommen, wenn es um ihre Lebenserinnerungen geht. Familiengeschichte, Servierkurs, Arbeit im Grandhotel, Kriegserinnerungen werden aus ihrer Perspektive und in einem ihr eigenen, unemotionalen Erzählstil geschildert. Dazwischen hängt der Sohn seinen Gedanken nach. „Eigentum“ ist ein schmales Büchlein von 157 Seiten mit keinerlei Längen. Es betrachtet ein Leben und das Leben äußerst kurzweilig, liest sich mal tragisch, mal amüsant und hat mich so manches Mal wegen einer knapp geäußerten Lebensweisheit, einer scharfsinnigen Betrachtung, eines bittersüßen Einschubs oder ein paar unerwarteten Humorfunken innehalten lassen. Ein gutes Buch, eine gelungene Hommage. Lesen, lesen, lesen.


Verlag: Hanser
Seitenzahl: 160
Erscheinungsdatum: 4. September 2023
ISBN: 978-3446278332
Preis: 22,- € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

2. August 2023

Joël Dicker: Die Affäre Alaska Sanders

Wiedersehen mit Marcus Goldman. 

Ich habe fast alle Romane von Joël Dicker gelesen – ach was, verschlungen; er ist einer der wenigen Autoren, dessen Hardcover ich mir sogar ohne Kenntnis der Inhaltsangabe kaufen würde. Sein neuestes Buch „Die Affäre Alaska Sanders“ ist die dritte Begegnung mit seinem Ich-Erzähler Marcus Goldman, auf die ich mich sehr gefreut habe. Als einziges bedauert habe ich bei der Lektüre, dass es schon eine ganze Weile (achteinhalb Jahre?) her ist, dass ich „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ gelesen habe – die Bezüge in „Die Affäre Alaska Sanders“ sind zahlreich, die Protagonisten zum Teil die gleichen und ich konnte mich an viele leider nur noch rudimentär erinnern. Dicker-Fans, die mehr Lesezeit als ich haben, würde ich daher empfehlen, den Marcus-Goldman-Erstling nochmal zu lesen. Man kann „Die Affäre Alaska Sanders“ aber auch sonst sehr genießen, und genau das habe ich getan.

Die titelgebende Alaska Sanders – 22 Jahre alt, bildhübsch, zielstrebig und immer freundlich – wird Anfang April 1999 in der Nähe der Kleinstand Mount Pleasant, New Hampshire, ermordet. Der Fall kann postwendend gelöst werden: Ihr Ex Walter gesteht nach seiner Festnahme den Mord und begeht noch auf der Polizeistation Suizid. Seinen besten Freund Eric hat er vorher als Mittäter verraten, worauf dieser zu lebenslanger Haft verurteilt wird.

Das alles ist elf Jahre her, als der Schriftsteller Marcus Goldman, beruflich erfolgreich, privat etwas verloren, durch seinen alten Bekannten Sergeant Perry Gahalowood auf den Fall stößt. Gahalowood war damals an den Ermittlungen beteiligt und bekommt nun den Hinweis, dass etwas faul ist. (Das ist die Kurzversion – hierbei spielen eine private Tragödie, Irrungen und Umwege eine Rolle, die fast eine eigene Geschichte in der Geschichte sind – typischer Dicker-Stil eben.) Und so ermitteln der Sergeant und der Schriftsteller wieder. Marcus Goldman versucht außerdem, seinen früheren Mentor Harry Quebert ausfindig zu machen, kommt dabei aber genauso wenig voran wie in der Affäre Alaska Sanders.

Der Roman hat 592 Seiten und dabei keinerlei Längen. Er wird zum Teil in Rückblenden und aus verschiedenen Perspektiven erzählt und hat mich nicht losgelassen. Auch wenn ein Mord im Zentrum steht, ist „Die Affäre Alaska Sanders“ von einem herkömmlichen Krimi weit entfernt mit den vielen Schleifen, die Dicker erzählt. Trotzdem ist der Roman spannend und hat mich keine Sekunde gelangweilt. Joël Dickers Erzählkunst begeistert mich einfach und ich hoffe auf ein baldiges Wiedersehen mit Marcus Goldman und Sergeant Gahalowood – das gelungene Ende macht Hoffnung, dass irgendwann vom Mordfall Gaby Robinson erzählt werden wird. Darauf freue ich mich jetzt schon!


Verlag: Piper
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 1. Juni 2023
ISBN: 978-3492071963
Preis: 26,- € (E-Book: 18,99 €)

17. Mai 2023

Anthony Horowitz: Wenn Worte töten

Kurios, intelligent und unvorhersehbar. 

Der britische Autor Anthony Horowitz schreibt eine Krimireihe, in der der britische Autor Anthony Horowitz der Ich-Erzähler ist – schon das ist so kurios, dass es mich sehr neugierig gemacht hat. Ich habe allerdings erst durch den dritten Band davon erfahren und kann nun aus eigener Erfahrung sagen, dass man diesen unabhängig von den Vorgängerbüchern lesen kann, das aber so viel Spaß macht, dass man sich Band eins und zwei nach der Lektüre eh besorgen will.

In „Wenn Worte töten“ ist Hauptfigur Anthony Horowitz zu einem neuen, kleinen Literaturfestival auf der Kanalinsel Alderney eingeladen – zusammen mit Privatermittler Daniel Hawthorne, der ihn beauftragt hat, als Biograf über ihn zu schreiben. Obwohl die beiden schon eine längere Arbeitsbeziehung hinter sich haben, ist keine größere Vertrautheit oder gar Freundschaft bemerkbar. Horowitz ist allerdings sehr zufrieden, dass er diesmal nicht den Detektiv begleitet, sondern ein Heimspiel hat – mit Literaturfestivals kennt er sich aus, für Hawthorne sind sie unbekanntes Terrain. Als jedoch der Sponsor des Summer Festivals ermordet wird, ändert sich das schlagartig. Hawthorne hört sich um, scheint nebenbei jedoch auch noch eine ganz eigene Agenda zu verfolgen. Horowitz dagegen stellt wilde Überlegungen in alle Richtungen an und findet dabei vieles verdächtig, was mir als Leserin auch aufgefallen war. Überflüssig zu erwähnen, dass wir beide oft der gleichen falschen Fährte folgten.

Mir hat „Wenn Worte töten“ großen Spaß gemacht – die Selbstironie des Autors, der sich selbst als etwas tapsige, nur mittelmäßig erfolgreiche Hauptfigur eingesetzt hat, die Darstellung der anderen Schriftsteller und des Literaturbetriebs und letztendlich natürlich auch der Fall. Leicht irritiert hat mich nur, dass Hawthorne Horowitz beständig „Sportsfreund“ nennt. Ich musste jedes Mal an einen älteren Landadeligen denken, dabei ist der Privatermittler erst 39 Jahre alt und der Krimi spielt in der Gegenwart – dieser antiquierte Ausdruck passt da einfach nicht. Das englische „Pal“, was hier vermutlich übersetzt wurde, klingt in der Originalausgabe sicherlich geläufiger. Abgesehen von dieser Kleinigkeit liest sich „Wenn Worte töten“ wunderbar und ist ein intelligenter, literarischer Krimi mit unvorhersehbaren Wendungen.


Verlag: Insel
Seitenzahl: 333
Erscheinungsdatum: 17. April 2023
ISBN: 978-3458643739
Preis: 24,- € (E-Book: 20,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

2. Mai 2023

Lucy Clarke: One of the girls

Beste Spannungs-Unterhaltung. 

Sechs Frauen verbringen vier Tage in einer Strandvilla auf einer griechischen Insel – das könnte ein launiger Sommerroman sein. Lucy Clarkes „One of the girls“ ist allerdings eher in Richtung Thriller anzusiedeln: spannend, unvorhersehbar und voller Plot Twists.

Bella, Fen, Robyn, Eleanor und Ana kennen sich gar nicht alle untereinander, sind jedoch zur Feier des Junggesellinnenabschieds ihrer Freundin Lexi nach Griechenland gereist. Trauzeugin Bella will das perfekte Partywochenende organisieren, doch das gestaltet sich schwieriger als gedacht. Zwar geben sich Lexi zuliebe alle Mühe, doch unter der Oberfläche brodelt es: Gut gehütete Geheimnisse drohen, ans Licht zu kommen, eigene Pläne werden verfolgt. Und dass die Hen Party mit einem Todesfall endet, wird schon auf den ersten Seiten angeteasert. Eine vielversprechende Ausgangsbasis!

Die britische Autorin Lucy Clarke lässt in kurzen Kapiteln alle sechs Protagonistinnen zu Wort kommen, wodurch schnell klar wird, dass Außendarstellung und Gefühlsleben längst nicht immer übereinstimmen. Was sie jedoch voneinander verbergen, bleibt lange im Unklaren und die kursiven Einschübe, die das Wochenende im Rückblick bewerten, ohne etwas zu verraten, tun ihr Übriges. „One of the girls“ ist ein Pageturner, der sich kaum aus der Hand legen lässt. Die Gruppendynamik scheint sich stetig zu verändern und mit jeder Enthüllung rückt die angeteaserte Katastrophe ein Stück näher. Nebenbei geht es um Freundschaft, Versöhnung, Liebe, Rache und Reue. Und dann kam doch vieles ganz anders, als ich vermutet hatte. Ein absolut gelungener Spannungsroman!


Verlag: dtv
Seitenzahl: 432
Erscheinungsdatum: 20. April 2023
ISBN: 978-3423263597
Preis: 15,95 € (E-Book: 12,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.