30. April 2019

Beck Dorey-Stein: Good Morning, Mr. President!

Dieses Buch wollte ich allein schon wegen seines vielversprechenden Beginns lesen. Noch vor dem ersten Kapitel kommen die „Leitlinien für aufstrebende Stenographinnen“, und bereits diese sind ein Eyecatcher, denn nicht nur die deutsche Übersetzung, sondern auch das amerikanische Original ist im Jahr 2018 erschienen – gibt es heutzutage überhaupt noch Stenographinnen? Anscheinend schon, und sie haben wohl Regeln zu befolgen wie „Leise atmen oder gar nicht“ und „Leben, um zu tippen, nicht tippen, um zu leben“. Eine Seite weiter steht nur ein einziger Satz „Ich sollte keine Stenographin sein.“ Ich finde, dieser Einstieg macht große Lust auf die weitere Lektüre – vor allem, wenn man weiß, wo die Autorin als Stenographin gearbeitet hat …


Beck Dorey-Stein verrät bereits im Untertitel von „Good Morning, Mr. President!“ wo sie bis 2017 beruflich tätig war: „Meine Jahre mit Obama im Weißen Haus“. Zufällig bekommt sie 2011 als arbeitslose Mittzwanzigerin ebendort einen Job als Stenographin. Nach ihren eigenen Schilderungen ist sie damit das unterste Glied in der Nahrungskette der Präsidenten-Entourage, aber trotzdem – im Wechsel mit ihren Stenographen-Kollegen – immer vor Ort, wenn es Reden von Potus (dem President of the United States) mitzuschneiden gibt. Ob im Oval Office, in der Air Force One, auf Auslandsreisen, wenn Obama sich mit den Mächtigen dieser Welt trifft oder bei Trauerfeiern nach Terroranschlägen – Beck Dorey-Stein ist live vor Ort. Man kann sich gut vorstellen, dass ihr teils verfremdeter Bericht schon allein wegen dieses Blicks hinter die Kulissen in den USA zum Bestseller wurde. Abgesehen davon ist er auch eine kleine Hommage an Obama, die zumindest mich beim Lesen ganz wehmütig werden ließ. Aber auch wenn Potus immer wieder vorkommt, ist er doch nur eine Randfigur in Beck Dorey-Steins Memoiren. Ihr Buch dreht sich vor allem um ihr eigenes Leben im und außerhalb des „Zirkus“, um Selbstfindung und ihre Suche nach echten Freunden und wahrer Liebe.
Und insbesondere, was die Suche nach wahrer Liebe angeht, hat mich die Autorin wirklich verblüfft: Schonungslos berichtet sie, wie sie immer wieder hinfällt, sich hochrappelt, erneut hinfällt. Sie macht dabei keine wirklich gute Figur und einige Schilderungen hätte sie sich und ihren Lesern vielleicht ersparen sollen – manchmal hätte ich diese Frau schütteln mögen, die sich wider besseren Wissens immer und immer wieder mit dem falschen Typen einlässt! Zu kurz kamen mir dagegen vor allem anfangs ein paar politische Hintergründe: Wohin Beck mit der Air Force One fliegt, ist in der Regel unwichtiger als der Flug selbst, die Ausstattung des Flugzeugs wird oft detaillierter beschrieben als die Erlebnisse an den Reisezielen. Aber die Autorin sieht natürlich auch nicht viel von den Zielen bzw. macht in erster Linie einfach ihren Job, der sie an faszinierende Orte führt, aber an sich nicht unbedingt faszinierend ist. Doch im Laufe ihrer Stenographinnen-Jahre lernt sie mehr und mehr, den Kopf zu heben und hinzusehen. Und der Blick hinter die Kulissen ist sowieso spannend – auch wenn die ersten paar Seiten des Buches einen pointierteren Bericht erwarten lassen als den, der dann tatsächlich zu lesen ist.

Doch vielleicht gerade, weil „Good Morning, Mr. President“ doch nicht so witzig und überspitzt ist und gerade, weil die Autorin ihr desaströses Liebesleben vor dem Leser ausbreitet, wirkt sie komplett authentisch. Und auch ein bisschen, wie man sich das typische All-American Girl so vorstellt: Beck ist ein gutaussehender, sportlicher Kumpeltyp, der bestens in eine romantische Komödie mit allerlei Verwicklungen passen würde. Und wie die Heldinnen in solchen Filmen reift auch die Autorin während ihrer Jahre im Weißen Haus, sie findet wahre Freunde und weibliche role models, bekommt ein feines Gespür für den unterschiedlichen Umgang mit Macht und geht ihrer wahren Leidenschaft nach – dem Schreiben. Das Ergebnis ist dann schließlich ihr Buch, „Good Morning, Mr. President!“, das ich allen empfehlen kann, die am Blick hinter die Kulissen der Macht Spaß haben und ein gewisses Maß an Geduld mit der Autorin mitbringen, die mir als Leserin zwar ab und zu auf die Nerven gegangen ist, ihr Herz aber definitiv am rechten Fleck hat.

Verlag: Rowohlt
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 20. November 2018
ISBN: 978-3499633522
Preis: 12,99 € (E-Book: 9,99 €)

23. April 2019

Raffaella Romagnolo: Bella Ciao

Die mir gänzlich unbekannte Netflix-Serie „Haus des Geldes“ hat das Lied „Bella Ciao“ zum offiziellen Sommerhit 2018 gemacht. „Bella Ciao“ war damit vermutlich der älteste Sommerhit aller Zeiten, denn das im letzten Jahr neu abgemischte Arbeiterlied hat eine über hundertjährige Geschichte. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts sangen es italienische Reispflückerinnen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es umgedichtet und entwickelte sich zur Hymne des Widerstands gegen den Faschismus, und in diesem Zusammenhang kam es auch in dem Roman vor, den ich als letztes gelesen habe.


Raffaella Romagnolo erwähnt das titelgebende Partisanenlied „Bella Ciao“ nur einmal namentlich in ihrem neuesten Buch, doch Partsianen gibt es dafür reichlich. Die Handlung spielt im Dorf Borgo di Dentro im ialienischen Piemont, in das die Amerikanerin Giulia Masca 1946 zurückkehrt, nachdem sie es 45 Jahre zuvor in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen hat. Giulia Masca stammt aus einfachsten Verhältnissen und hat schon als Kind in der örtlichen Seidenspinnerei gearbeitet. Wegen des Verrats einer Freundin hat sie die Heimat verlassen und in New York Glück und Wohlstand gefunden, während Europa erst vom Ersten und dann vom Zweiten Weltkrieg erschüttert wurde. Nun ist sie für eine Nacht zurückgekehrt und die Erinnerungen holen sie ein. Doch nicht nur Giulia Mascas Leben wird in Rückblicken berichtet – auch das ihrer Kindheitsfreundin Anita Leone, die Borgo die Dentro nie verlassen hat. Im Gegensatz zu Einzelkind Giulia wurde Anita in eine starke und nicht ganz so arme Großfamilie hineingeboren, die gepachtete Weinberge bewirtschaftet. Ihre Kindheit ist glücklicher als die ihrer Freundin, doch leicht hat sie es später nicht. Die Autorin schildert entbehrungsreiche, harte Arbeiterleben, die von Existenzängsten, Kriegen und Naturkatastrophen erschüttert werden, doch auch von Liebe, Zusammenhalt und Loyalität geprägt sind. Gleich an zwei Stellen hat Raffaella Romagnolo Stammbäume eingefügt, damit ihre Leser von den komplexen Beziehungsgeflechten nicht zu verwirrt sind. Ich musste nur manchmal darauf zurückgreifen: Die meisten Figuren sind gut greifbar und mit klaren Eigenheiten versehen, was es leichter macht, sich in den verschiedenen Familienverbünden einigermaßen zurechtzufinden.

„Bella Ciao“ ist nicht immer ganz einfach zu lesen. Nicht so sehr wegen der Fülle an Protagonisten, auch nicht wegen der immerhin fast ein halbes Jahrhundert umfassenden, umrissenen italienischen Geschichte: Was mir etwas zugesetzt hat, sind Beschreibungen von Elend und Leid. Als Leser zieht man mit den Figuren in Schlachten, die in den meisten Familiensagas nicht so detailliert beschrieben werden. Beim Lesen war ich mehr als einmal froh, 100 Jahre nach den Hauptfiguren geboren worden zu sein. Doch „Bella Ciao“ ist auch einer dieser Romane, die einem eine ganz neue, in meinem Fall unbekannte Welt eröffnen, die man nicht mehr vergisst. Die Autorin schreibt mit viel Einfühlungsvermögen und schafft so komplexe Entwicklungen, in denen Menschen über sich hinauswachsen und auch Gut und Böse nicht immer klar zu trennen sind. Ich empfehle, sich etwas Zeit für „Bella Ciao“ zu nehmen – es ist kein Buch, bei dem es reicht, jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Seiten zu lesen. Doch wem es möglich ist, sich von Raffaella Romagnolo nach Borgo di Dentro mitnehmen zu lassen, der wird mit einem intensiven Leseerlebnis belohnt und weder Giulia Masca noch die Familie Leone schnell vergessen können.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 528
Erscheinungsdatum: 20. März 2019
ISBN: 978-3257070620
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

Ich habe dieses Buch als Leseexemplar erhalten.

Allen Lesern einen schönen Welttag des Buches!

16. April 2019

Katrine Engberg: Blutmond

Das erste Buch der Dänin Katrine Engberg wurde letztes Jahr auf Deutsch veröffentlicht. Ich habe „Krokodilwächter“ nicht gelesen, obwohl der Thriller vielversprechend klang. Umso gespannter war ich nun, als ich das zweite Buch der Autorin in die Hände bekam, in dem nicht nur das gleiche Polizeiteam ermittelt, sondern auch andere Figuren aus Engbergs Debüt vorkommen. Wenn man eine Serie mit Band zwei beginnt, gestaltet sich der Einstieg in die Geschichte ja manchmal als schwierig – hier gelingt er aber problemlos, was mir schon mal gefallen hat.


Ein „Blutmond“ kündigt sich in dem gleichnamigen Thriller an, der in der Nacht zu einem 28. Januar beginnt, sechs Tage vor dem Naturschauspiel. Die Hauptfiguren scheint das herzlich wenig zu interessieren: Polizeiassistent Jeppe Kørner ist gerade tiefenentspannt und mit neuer Freundin von einer Australienreise zurückgekehrt und seine Kollegin Anette Werner mit gesundheitlichen Problemen beschäftigt. Außerdem steht ganz Kopenhagen im Zeichen der alljährlichen Fashion Week. Doch schon eine Pre-Party endet tödlich: Modekönig Alpha Bartholdy wird leblos in einem Park aufgefunden. Schnell stellt sich raus: Der TV-Promi hatte nicht nur Fans, sondern auch Feinde. Im Zuge der Polizeiermittlungen erhält der Leser einige Einblicke in deren Leben, aus ihren eigenen Perspektiven. Außerdem lernt er ein paar Protagonisten kennen, die er noch gar nicht einordnen kann. Wie alles zusammenhängt, scheint rätselhaft. Polizeiassistent Jeppe Kørner muss sich allerdings bald eingestehen, dass ein Name relativ oft genannt wird – und zwar der Name eines seiner langjährigsten Freunde, der überdies nicht auffindbar ist …

Katrine Engberg führt ihre Ermittler genau wie ihre Leser mehrmals in die Irre. Das gelingt ihr außerordentlich gut, ohne dass der Plot allzu verwirrend wird. Das einzige, was mich leicht gestört hat, war die Starrköpfigkeit der Hauptfigur: Jeppe weiß, dass er befangen ist, lässt sich davon jedoch nicht stören und begehrt auch noch trotzig auf, wenn die Kollegen ihn aus guten Gründen außen vor lassen – das hat manchmal genervt, genau wie die mangelnde Kooperationsbereitschaft von gewissen Verdächtigen. Das Zwischenmenschliche kommt nicht zu kurz, steht aber auch nicht im Mittelpunkt. Obendrauf gibt’s ganz viel Kopenhagen-Atmosphäre, gepaart mit klirrender Januarkälte, deren Beschreibung einen schon beim Lesen frösteln lässt. „Blutmond“ ist facettenreich, raffiniert und toll geschrieben – einzelne Sätze und Passagen wirken richtiggehend poetisch, die Mordmethode dagegen wird so nüchtern-präzise geschildert, dass man sich dem Grauen kaum entziehen kann. Dazu gibt‘s den ein oder anderen netten Cliffhanger und in der zweiten Hälfte entwickelt sich die Geschichte irgendwann zum Pageturner. Trotzdem würde ich sie nicht dem Thriller-, sondern dem Krimigenre zuordnen. Für alle Fans des Ermittlerteams gibt’s noch die gute Nachricht, dass in Dänemark bereits der dritte Teil der Serie erschienen ist. Ich werde nicht zum letzten Mal von Jeppe Kørner gelesen haben.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 20. März 2019
ISBN: 978-3257070583
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €, nur ePUB)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

8. April 2019

Joël Dicker: Das Verschwinden der Stephanie Mailer

Joël Dicker gehört zu meinen Lieblingsautoren. Er hat bislang drei Romane geschrieben, die ich alle verschlungen habe und herausragend fand. „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ war noch ein Spontankauf, der mir eine halbe schlaflose Nacht bescherte, als ich einfach nicht mehr aufhören konnte, zu lesen. „Die Geschichte der Baltimores“ kaufte ich mir dann direkt nach Erscheinen und freute mich über das Wiedersehen mit Protagonist Marcus Goldman. Und als jetzt „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ erschien, habe ich meine bei „Vorablesen“ gesammelten Punkte ohne Zögern eingesetzt, um ein Rezensionsexemplar zu ergattern. Und was soll ich sagen? Ich wurde nicht enttäuscht!


„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ spielt in Orphea, einer beschaulichen Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Alljährlicher Höhepunkt des öffentlichen Lebens ist ein Theaterfestival, das in der Romangegenwart im Jahr 2014 bereits 20-jähriges Jubiläum feiern soll. Mindestens halbvergessen scheinen die Ereignisse vom Premierenabend des ersten Festivals 1994: Damals wurden vier Einwohner Orpheas erschossen, unter ihnen die Familie des damaligen Bürgermeisters. Zwei junge Polizisten der State Police konnten den Fall nach mehrmonatiger Arbeit lösen. Einer von ihnen, Jesse Rosenberg, feiert zu Beginn des Romans gerade sein Ausscheiden aus dem Polizeidienst, als ihn eine Journalistin anspricht, die ihm auf den Kopf zusagt, dass er damals in Orphea den Falschen verhaftet hätte. Rosenberg nimmt die geheimnistuerische Stephanie Mailer zunächst nicht ernst, doch nur ein paar Tage später wird die junge Frau als vermisst gemeldet. Hat sie eventuell wirklich etwas herausgefunden – und wohin ist sie verschwunden?

„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ ist vieles: hochspannend, unterhaltsam, tragisch, begeisternd und voller Leben. Joël Dicker führt seine Leser durch einen dichten Roman voller Perspektivwechsel, Rückblenden und wahnwitziger Wendungen. Doch selbst Entwicklungen, die mir überdreht vorkamen, bekamen irgendwann einen Sinn, wurden nachvollziehbar und fügten sich wie Puzzlestücke in den Gesamtkontext ein. Dieser Autor ist einfach ein Meister seines Fachs: Er hat ein unfassbares Talent, Protagonisten und Schauplätze lebendig werden zu lassen und ein großartiges Gespür für die richtige Dosis. Trotz vieler Details und einer Fülle handelnder Personen bleibt „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ wundervoll lesbar und auf die Haupthandlung fokussiert. Überdies macht der Roman regelrecht süchtig. Es ist wie bei einem Esel, der einer Mohrrübe hinterherläuft: Als Leser fühlt man sich der Lösung der Romanrätsel stets nah und lässt sich von Dicker willig auf jede neue Fährte mitnehmen, was die 672 Seiten im Nu verfliegen lässt. Wenn doch die Wartezeit auf das nächste Buch des Autors nur auch so schnell verginge!

Als Trost für alle, die wie ich nun wieder warten: Seit dem 1.04. ist exklusiv auf tvnow.de „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ zu sehen – als Serie, mit Patrick Dempsey in der Hauptrolle. Ich habe noch keine Folge gesehen, werde das aber als Joël Dicker-Fan natürlich bald nachholen.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 672
Erscheinungsdatum: 2. April 2019
ISBN: 978-3492059398
Preis: 25,00 € (E-Book: 18,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.