24. Juni 2019

Helmut Krausser: Trennungen. Verbrennungen

Manche Romane plätschern einfach nur munter vor sich hin und sind trotzdem grandiose Kompositionen – oder gerade deswegen? Helmut Krausser kann ich jedem empfehlen, der auf der Suche nach etwas wohlformulierter und vergnüglicher Ablenkung ist. Der Mann kann schreiben und greift mit großer Leichtigkeit alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins auf.


In „Trennungen. Verbrennungen“ entwirft Krausser einen locker-flockigen Reigen aus verschiedenen Personen, die in unterschiedlichsten Beziehungen zueinanderstehen. Im Zentrum des Ganzen steht ein wohlhabendes, in Wannsee lebendes Ehepaar: Archäologieprofessor Fred Reitlinger und seine Frau Nora, die in regelmäßigen Abständen Soireen organisieren, zu denen auch zwei besonders hoffnungsvolle Studenten eingeladen werden, Gerd und Leopold. Ersterer ist mit der kapriziösen Sonja liiert, deren Eltern für die ihrer Tochter zugedachte Zukunft finanzielle Anreize setzen. Zweiterer läuft an einem unglückseligen Tag der Tochter der Reitlingers über den Weg, die gegen alles und jeden rebelliert. Ihr Bruder Ansgar, ihre Freundin Caro, deren Affäre Petar – sie alle sind in ein komplexes Beziehungsgeflecht verwickelt und es kommt zu „Trennungen. Verbrennungen“, aber auch, um einen anderen Romantitel Kraussers zu zitieren, zu „Einsamkeit und Sex und Mitleid“. All dem lesend beizuwohnen, macht einfach Spaß. Kraussers plaudernder Erzählton, der das Leben und seine Abgründe beschreibt, ohne es sonderlich ernst zu nehmen, macht dieses Leseerlebnis sehr vergnüglich. „Trennungen. Verbrennungen“ lässt sich in einem Rutsch durchlesen und kennt weder Längen noch unnötige Aufregungen. Krausser scheut vor keiner möglichen Verwicklung zurück, wodurch es den ein oder anderen Überraschungsmoment gibt. Dabei behält er durchgehend seinen spöttisch-wohlwollenden Blick auf alles Menschliche. Ein Roman wie eine Oase der amüsanten Gelassenheit.

Verlag: Berlin Verlag
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 19. März 2019
ISBN: 978-3827013934
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

17. Juni 2019

Christina Dalcher: Vox

Objektiv bewerten – ist das bei Büchern überhaupt möglich? Während der Lektüre dieses Romans ist mir aufgegangen, dass ich noch nicht mal innerhalb meiner eigenen Maßstäbe objektiv bewerte. Manche mittelmäßigen Bücher enttäuschen mich mehr als andere, und das liegt noch nicht mal an meiner Leselaune, sondern an meinen Erwartungen. Bin ich im Vorfeld davon überzeugt, dass mir ein Buch gefallen wird, ist seine Fallhöhe größer als bei einem Roman, den ich mir spontan in der Buchhandlung oder Bibliothek aussuche. Und so hat mich dieses Werk, das schon seit einigen Monaten auf meiner Leseliste stand, extrem enttäuscht.


„Vox“ ist das Romandebüt der amerikanischen Linguistin Christina Dalcher. Doch noch mehr als von der Stimme handelt die Geschichte vom Schweigen, was das einen Frauenmund verbergende „x“ auf dem Cover perfekt illustriert. Der dystopische Roman ist in unserer Gegenwart angesiedelt: Der erste farbige Präsident der USA ist Geschichte, sein Amtsnachfolger – nicht Trump, sondern Präsident Myers – ein Vollidiot, der von der einflussreichen „Bewegung der Reinen“ wie eine Marionette gesteuert wird. Diese Bewegung propagiert, dass das moderne Leben die Wurzel allen Übels ist und Zucht und Ordnung wiederhergestellt werden müssen, indem längst überwundene Rollenbilder reaktiviert werden. Doch wie dreht man den Lauf der Welt zurück? Der Plan ist so perfide wie wirkungsvoll: Der männlichen Hälfte der Bevölkerung wird eingeredet, als Krone der Schöpfung Gott gewollte Dominanz zu besitzen. Und die weibliche Hälfte wird zum Schweigen gebracht – mittels eines Wortzählers, der sich fest um das Handgelenk jedes Mädchens und jeder Frau schließt und zählt, wie viele Wörter sie an einem Tag ausspricht. Sind es mehr als 100, gibt es Stromstöße.

Dalcher entwirft ein ziemlich verstörendes Szenario, das mehrere große Themen streift: dass der Gedanke „sowas ist doch bei uns nicht möglich“ stets fahrlässig ist, man Bürgerrechte wahrnehmen sollte und Kommunikation den Menschen ausmacht. Die Kernaussagen von „Vox“ kannte ich dann auch schon, bevor ich überhaupt zu diesem Buch griff – durch die die Veröffentlichung begleitende Werbekampagne und den Medienhype. Worauf ich allerdings nicht gefasst war: „Vox“ ist schlecht geschrieben. Die Figuren sind holzschnittartig zusammengezimmert, Dialoge oft platt und ein Klischee jagt das nächste. Zudem hat die Autorin absolut kein Händchen dafür, Spannung aufzubauen oder irgendeine Atmosphäre zu schaffen. Die Romanhandlung entwickelt sich auf eine so komplett unlogische Art und Weise, das ich spätestens während des letzten Buchdrittels nur noch hoffte, schnell fertig zu werden. Danach las ich in einigen anderen Rezensionen, dass manche Leser „Vox“ als einen Abklatsch von Margaret Atwoods „Report einer Magd“ empfunden haben. Da ich dieses Buch jedoch nicht gelesen habe, kann ich das nicht selbst beurteilen.

„Vox“ hätte ein gutes, wichtiges Buch sein können, doch die mangelhafte Umsetzung hat aus der eigentlich packenden dystopischen Idee komplett die Luft rausgelassen. Dass aus dem vorhandenen Potential so wenig gemacht wurde, ist in meinen Augen noch schlimmer, als wenn das Buch dieses gar nicht erst gehabt hätte.

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 400
Erscheinungsdatum: 15. August 2018
ISBN: 978-3103974072
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

7. Juni 2019

Alina Brosnky: Der Zopf meiner Großmutter

Großmütter gibt es in der Literatur viele. Meist handelt es sich um kluge und weitsichtige Frauen mit großem Herzen, viel Geduld und einem immer offenen Ohr, die stets zur Stelle sind, wenn sie gebraucht werden. Und oft bringen sie dann auch noch Kuchen mit.


In Alina Bronskys „Der Zopf meiner Großmutter“ erfüllt die russische Oma keins der gängigen Klischees. Sie ist selbstgerecht, herrschsüchtig, weiß alles besser, beschimpft und tyrannisiert ihr Umfeld. Backen tut sie zwar, gleich zu Beginn des Romans zum Geburtstag ihres vielleicht fünf- oder sechsjährigen Enkels Mäxchen, doch der darf die Torte nur anschauen und einmal dran schnuppern, bevor sie vor seinen sehnsüchtigen Augen verzehrt wird. Denn Max verträgt Kuchen eh nicht, weiß die Oma. Außerdem ist er, wie sie ihm immer wieder einbläut, debil, schwachsinnig, todkrank und wird das Erwachsenenalter niemals erreichen. Dass weder Ärzte noch Lehrer diese Diagnose bestätigen, verunsichert Margarita Iwanowna kein bisschen.

Diese beratungsresistente Schreckschraube war dann auch der Grund, dass mich die Geschichte anfangs ziemlich befremdet hat. Natürlich muss nicht jede Oma selbstlos und wohlwollend auftreten, aber diese hier beleidigt und piesackt ihr verwaistes Enkelkind in einem fort, ohne dass ihr schweigsamer Mann Tschingis Mäxchen jemals zu Hilfe kommt. Für mich war das kein Lesespaß, sondern ziemlich unangenehm. Doch der Roman entwickelt sich, Mäxchen, aus dessen Perspektive er geschrieben ist, wird älter, verständiger und schafft es mehr und mehr, sich von der Großmutter zu emanzipieren – wobei er gleichzeitig eine Ahnung von deren wahrem Wesen bekommt. Außerdem wirbelt noch ein für alle Seiten unerwartetes Ereignis das Familiengefüge unwiderruflich durcheinander: Der Großvater verliebt sich. Und ab da bekommt der Roman eine gewisse Leichtigkeit, die mir vorher gefehlt hat.

Alina Bronsky schildert Mäxchens Heranwachsen in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft in nüchternen Worten, die doch anrühren. Sie ist eine Meisterin der knappen Beschreibungen, die alles ausdrücken und nachwirken. Und nötigt ihren Lesern schließlich sogar Respekt vor Margarita Iwanowna ab – einer Großmutter, die ich nicht so schnell vergessen werde.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 9. Mai 2019
ISBN: 978-3462051452
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Leseexemplar erhalten.