18. März 2018

Bianca Marais: Summ, wenn du das Lied nicht kennst

Das folgende Buch wollte ich unbedingt lesen. Das Cover sprach mich zwar gar nicht an (es zieren filigran gezeichnete Vögeln und Pflanzen, in der gedruckten Ausgabe ist es außerdem rosafarben), der Inhalt aber um so mehr.


16.06.1976 – Schicksalstag in Südafrika. Im Township Soweto beginnt ein beispielloser Schüleraufstand gegen das rassistische Bildungssystem sowie das Apartheidsregime an sich. Die Polizei geht mit brutaler Gewalt gegen die größtenteils minderjährigen Demonstranten vor, viele sterben. Mittendrin im Geschehen ist die 49-jährige Beauty Mbali, eine der beiden Hauptfiguren im Roman „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“. Sie demonstriert nicht, sie sucht – ihre 17-jährige Tochter Nomsa, die seit sieben Monaten bei der Familie von Beautys Bruder wohnt, um in Soweto eine höhere Bildung zu erlangen, als es ihr an den Schulen in ihrem Homeland möglich wäre. Beauty kann Nomsa in den Unruhen nicht finden, auch in den Tagen, Wochen, Monaten danach bleibt das Mädchen verschwunden. Doch Beauty gibt ihre Tochter nicht auf.

Auch für die neunjährige Robin ist der 16.06.1976 ein Schicksalstag. Das kleine weiße Mädchen wohnt in der Minenstadt Boksburg, 50 km von Soweto entfernt, und bekommt dort nur wenig von den Unruhen in Soweto mit. Auch ihre Eltern gehen abends unbesorgt zu einer Einladung – werden auf dem Weg dorthin jedoch von Schwarzen ermordet. Von einem auf dem anderen Tag Vollwaise, bleibt Robin nur noch ihre alleinstehende Tante Edith, die Stewardess und mit ihrer plötzlichen Vormundschaft für ein Kind heillos überfordert ist. Schließlich kreuzen sich ihre und Beautys Wege.

Die südafrikanische Autorin Bianca Marais, selbst erst 1976 geboren, schildert die Auswirkungen der Apartheid in „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ aus verschiedensten Perspektiven, was ich als wirklich gelungen empfunden habe. Zunächst einmal werden unterschiedliche Ausprägungen von Rassismus gezeigt: Bösartig, gedankenlos, gewohnheitsmäßig. An Robins Beispiel wird deutlich, was es mit einem Kind macht, wenn es in der Überzeugung aufwächst, es sei aufgrund seiner Hautfarbe anderen Menschen grundsätzlich überlegen. Durch Randbemerkungen von Beauty und anderen schwarzen Protagonisten zeigt sich, wie sich die Apartheid auf alle Lebensbereiche auswirkte: Toiletten für Weiße benutzen? Verboten. Ohne Genehmigung außerhalb des eigenen Homelands unterwegs sein? Verboten. Am Strand spazieren oder im Meer baden? Verboten, auch das ist den Weißen vorbehalten. Paradoxerweise, denn wie lässt Marais ihre Protagonistin Beauty denken: „Ich habe keine Ahnung, warum sie stundenlang in der Sonne braten, um braun zu werden, wo sie unsere Hautfarbe doch so abstoßend finden.“

Doch es gibt auch Weiße, die Beauty helfen. Menschen, denen man ihre guten Absichten vielleicht erst auf den zweiten Blick ansieht. Außenseiter mit gutem Herzen. Der Roman handelt viel von Schwarz und Weiß, ist aber nicht schwarzweiß, was mir sehr gefallen hat.

Allerdings wurde mir „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ irgendwann zu überladen. Nach dem Verlust ihrer Eltern macht Robin eine Wandlung durch, in deren Verlauf sie erkennt, dass die Welt nicht untergeht, wenn sie und eine Schwarze das gleiche Geschirr und Badezimmer benutzen. Eine so begrüßenswerte wie nachvollziehbare Erkenntnis. Dass dieses verlorene, verstörte Mädchen aber schließlich in einer „Shebeen“, einer illegal betriebenen Kneipe in Soweto, eine flammende Rede darüber hält, dass sie hofft, dass Nelson Mandela eines Tages das Land regieren und die Nation heilen wird, so dass sie alle als Gleiche zusammenleben können – das war mir entschieden zu viel der Wandlung und weiser Vorhersehung. Das Kind wächst in einem Maße über sich hinaus, das mir fast märchenhaft erschien. Auch sonst war der Roman an einigen Stellen einfach zu schön, um wahr zu sein. Sowohl Robin als auch Beauty lernen im Verlauf des Buches, „dass einem Freunde an den seltsamsten Orten und in völlig unerwarteter Gestalt begegnen können“. Aber dass Robins neuer Freundeskreis aus einem jüdischen Jungen, einem homosexuellen Paar, weißen Widerständlern und einem Farbigen besteht, kam mir doch arg konstruiert vor; sämtliche diskriminierte Minderheiten schienen vertreten. Hier hat es Autorin Marais für meinen Geschmack einfach übertrieben – sicher aus ehrenwerten Motiven, aber zu Lasten der Glaubwürdigkeit.

Trotzdem ist „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ ein empfehlens- und lesenswerter Roman, der das Südafrika der 1970er Jahre auf viele verschiedene Arten illustriert. Mir hat er es emotional nähergebracht, als es ein Sachbuch, eine Ausstellung oder eine Fernsehdokumentation gekonnt hätten. Dies ist ein Verdienst des Buches. Am Ende deutet Hauptfigur Robin an, dass es eventuell eine Fortsetzung gibt, die ich mir aufgrund des offenen Endes sehr gut vorstellen könnte – und auf jeden Fall lesen würde.

Verlag: Wunderraum
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 12. März 2018
ISBN: 978-3336547944
Preis: 23,00 € (E-Book: 15,99 €)

12. März 2018

Nicolas Barreau: Das Lächeln der Frauen

Manche Romane stehen etwas länger in meinem Regal, bevor sie gelesen werden - dieses Buch besaß ich mindestens zwei Jahre und 10 Monate, bevor ich es zur Hand nahm. Ich bekam es 2015 zum Geburtstag geschenkt - oder war es sogar schon 2013? Lustigerweise erhielt ich zum gleichen Geburtstag direkt noch ein weiteres Buch des Autors. Die Cover ähnelten sich so sehr, dass ich im ersten Moment befürchtete, ein Buch doppelt bekommen zu haben. Beide Romane klangen nett, trotzdem verschwanden sie erstmal ungelesen im Regal. Man muss ja auch immer in der richtigen Stimmung für ein Buch sein. Dieses hier fiel mir wieder in die Hand, als ich letzte Woche etwas kurzweilige Unterhaltung für zwischendurch suchte.


Laut Cover fand Christine Westermann „Das Lächeln der Frauen“ „unglaublich komisch, verführerisch, witzig und romantisch!“ Das versprach viel – ein bisschen zu viel. Obwohl mir der Roman alles in allem gut gefallen hat, konnte er die aufgrund dieser schriftlichen Lobeshymne bei mir geweckten Erwartungen nicht ganz erfüllen. Ich denke immer noch darüber nach, wie ich das Buch in einem Wort beschreiben würde – vermutlich wäre das „süß“. „Das Lächeln der Frauen“ ist ein süßer Roman. Die Hauptfigur Aurélie Bredin, Restaurantbesitzerin mit Liebeskummer, ist süß. Sie lebt in einem adretten kleinen Appartement, führt ein hinreißend niedliches Restaurant und irgendwie ist mir das alles schon zu perfekt gewesen. Keine Brüche, nirgends. Das Ganze liest sich dadurch fast märchenhaft. Ich bevorzuge normalerweise etwas mehr Realität, aber nachdem ich mich auf die süße Perfektion eingelassen hatte, gefiel mir der Roman ganz gut. Wie auch Aurélie Bredin am gleichnamigen Buch-im-Buch „Das Lächeln der Frauen“ Gefallen findet. Durch einen Zufall gelangt die Nichtleserin an diesen Roman und erkennt während der Lektüre sowohl sich als auch ihr Restaurant wieder – Zufall ausgeschlossen. Sie beschließt, den englischen Autor des Buches, Robert Miller, kennenzulernen. Ihrem Glück entgegen scheint nur der Verlagslektor André Chabanais zu stehen, der dem ersten Eindruck nach nicht sehr entgegenkommend wirkt.

Hier und da ist „Das Lächeln der Frauen“ doch ein wenig sehr vorhersehbar, aber das tut dem Lesevergnügen keinen großen Abbruch. Wer französisches Flair mag, sich an Irrungen und Wirrungen nicht stört und gerne Liebesromane liest, bei denen sich auch mal schmunzeln lässt, der ist mit diesem modernen und süßen Märchen bestens bedient. Es hat mich nicht nachhaltig beeindruckt, war aber eine schöne Zwischendurch-Lektüre - genau wie gewünscht.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 1. April 2012
ISBN: 978-3492272858
Preis: 9,99 € (E-Book: 9,99 €)

7. März 2018

Torsten Seifert: Wer ist B. Traven?

Den folgenden Roman habe ich beim Literaturportal Lovelybooks gewonnen. Er wurde mit "Für Fans des Schwarzweißkinos" beworben. Wenn sich die Gelegenheit zufällig bietet, schaue ich vielleicht mal einen alten Heinz Erhart-Film oder "Drei Männer im Schnee", hier war allerdings ein weniger lustiges Schwarzweißfilm-Genre gemeint. Trotzdem war das nicht der Hauptgrund, dass ich mit dem Roman nicht komplett warm wurde.


Wer ist B. Traven? Wer sich diese Frage noch nie gestellt hat, dem seien hier in aller Kürze die Fakten genannt: B. Traven war ein höchst erfolgreicher Autor, dessen Romane und Erzählungen größtenteils in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen. Man geht davon aus, dass er in Mexiko lebte, dem Handlungsort seiner meisten Werke. Wer B. Traven jedoch wirklich war, ist bis heute nicht hundertprozentig erwiesen. Es existieren keine Fotos vom Autor, er trat nirgends in Erscheinung und verheimlichte sowohl seinen Werdegang als auch Aufenthaltsort. B. Traven war ein Phantom – ein bestsellerschreibendes Phantom, was insbesondere den Medien keine Ruhe ließ.
Der Roman „Wer ist B. Traven?“ beginnt damit, dass das amerikanische Life-Magazin im Jahr 1947 eine Art Kopfgeld auf B. Traven aussetzt – die Identität des Bestsellerautors soll um jeden Preis gelüftet werden. Der junge Journalist Leon Borenstein wird von seinem Chef beauftragt, das Geheimnis zu enthüllen und reist zur Verfilmung des Traven-Romans „Der Schatz der Sierra Madre“ nach Mexiko, unter dem Vorwand, Hauptdarsteller Humphrey Bogart interviewen zu wollen. Ihm wird zwar erzählt, dass bereits drei andere Reporter auf B. Traven angesetzt waren, die alle unter mehr oder minder mysteriösen Umständen außer Gefecht gesetzt wurden – doch dem misst er erst einmal keine Bedeutung bei und macht sich auf die Reise. Doch bald muss auch Leon Borenstein am eigenen Leib erfahren, dass B. Traven nicht so einfach zu fassen ist …

Dem Autor Torsten Seifert gelingt es in seinem Roman bestens, Realität und Fiktion zu vermischen. Der Leser macht sich gemeinsam mit Hauptfigur Borenstein auf die Suche nach B. Traven. Egal ob beim Schachspiel mit Humphrey Bogart, in der Stierkampf-Arena oder in einem mexikanischen Bordell – der Roman ist so detailliert, dass es tatsächlich so gewesen sein könnte – abgesehen davon, dass Borenstein eine Erfindung von Seifert ist.

Die Lektüre von „Wer ist B. Traven“ hat mir das Mexiko Mitte des 20. Jahrhunderts atmosphärisch nahegebracht. Damit hatte ich im Vorfeld nicht unbedingt gerechnet und fand es durchaus interessant. Allerdings hatte ich mehr Spannung erwartet, die aber nur gelegentlich aufkam. Grund dafür mag der ein oder andere Zeitsprung oder Ortwechsel sein, der für mich als Leser zu überraschend kam, doch auch den Motiven einiger Protagonisten vermochte ich nicht zu folgen. Teilweise blieben Zusammenhänge einfach verborgen. Für den Ausgang der Geschichte mögen sie nicht unbedingt wichtig gewesen sein, doch jegliche Spannung verpuffte dadurch immer wieder. Mehr als die wahre Identität B. Travens beschäftige mich die Frage, welche Absichten welche Figur eigentlich verfolgte – ohne, dass das irgendwann aufgelöst worden wäre. Auch Leon Borenstein blieb eine eher blasse Haupfigur, mit der ich nicht so richtig mitfiebern konnte.
So blieb ich dann nach Abschluss des Buches auch etwas unzufrieden zurück und hatte das Gefühl, es wäre mir irgendwie nicht gelungen, tief genug einzusteigen.
Dennoch nehme ich einiges an Mexiko-Feeling mit, schöne Sätze und interessante Gedanken. „Wer ist B. Traven?“ ist gut geschrieben und grandios recherchiert. Die Lektüre lohnt sich, ich warne jedoch davor, einen fesselnden Abenteuerroman zu erwarten. Wer so etwas lesen will, sollte – nach all den im Buch zu lesenden Beschreibungen – wohl doch eher direkt zu B. Travens Werken greifen.

Verlag: Tropen
Seitenzahl: 269
Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2017
ISBN: 978-3608503470
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

26. Februar 2018

Jan Weiler: Kühn hat Ärger

Gerade gestern habe ich das neueste Buch von Jan Weiler ausgelesen, das ich über die Plattform Vorablesen bekommen habe. Eigentlich ist es ein Krimi - Hauptfigur Kühn ist Hauptkommissar und sucht einen Mörder -, aber außerdem noch viel mehr als das: Gesellschaftsroman, Milieustudie, Gegenwartsliteratur. Und so wundert es nicht, dass auf dem Cover schlicht "Roman" steht.


Hauptkommissar Kühn hat Ärger. In seiner Ehe läuft es nicht gut, er hat ein Pubertier zu Hause, in den Keller des Eigenheims sickern Giftstoffe und auch auf der Arbeit gibt es – schon allein berufsbedingt – wenig zu lachen. Ein jugendlicher Intensivstraftäter wird an einer Tramhaltestelle ermordet aufgefunden. Dabei schien er die Kurve bekommen zu haben: Neue Freunde, neue Ziele, neuer Ehrgeiz. Was ist passiert? Die Ermittlungen führen Kühn in zwei sehr unterschiedliche Bezirke Münchens: Nach Neuperlach, wo der ermordete Amir unter prekären Bedingungen aufgewachsen ist. Und nach Grünwald, wo Amirs neue Freundin Julia wohnt: Jeans von Dolce & Gabbana, japanisches Bonsai-Parkett und Austernfrühstücke.
Kühn bei seinen Ermittlungen zu begleiten ist fesselnd, nicht zuletzt wegen der unterschiedlichen Milieustudien: Die Hoffnungslosigkeit in Neuperlach, die Sorgen auf der Weberhöhe, die Dekadenz in Grünwald -  und dennoch muss man, wie Jan Weiler seinen Kühn einmal denken lässt, überall „nur einen falschen Schritt machen […], um abzustürzen.“ Andererseits stellt eine Zufallsbekanntschaft im Verlauf des Romans klar: „Ich will lieber an einer faulen Auster verrecken als an einer verdorbenen Currywurst.“

Kühn ist ein ruhiger, reflektierter Typ, der beobachtet und assoziiert; der versucht, nicht zu urteilen und der gleichzeitig kein Superman ist, sondern ein Familienvater mit einem anstrengenden Job, einer Ärzte-Phobie und Geldsorgen. Autor Jan Weiler zieht den Leser komplett in Kühns Leben hinein, mal will man ihm Mut zusprechen, mal ihm einen Tritt geben. Der Hauptprotagonist wirkt einfach glaubwürdig – wie der komplette Krimi, dessen Handlung weder überzogen noch vorhersehbar ist. Auch am Ende löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf, es bleibt einiges ungeklärt, beruflich wie privat; aber so ist es ja, das Leben eben. Es wirkt fast virtuos, wie der Autor einige Erzählstränge zu Ende erzählt, andere offenlässt, einzelne Themen nur streift – und dennoch fügt sich am Ende ein zufriedenstellendes Gesamtbild zusammen. Und trotzdem beschäftigt mich das Buch noch, die Fragen, wie wohl einzelne Protagonisten auf die Enthüllungen im Mordfall reagiert haben, wie es an Kühns Wohnort, der Weberhöhe, weitergeht …  Als Leser kann man nur hoffen, irgendwann wieder am Alltag des Hauptkommissars teilhaben zu dürfen; zu erfahren, wie sein Leben weiter verläuft, mit der Familie, mit den Kollegen. Fans atemloser Spannung werden an „Kühn hat Ärger“ vermutlich nicht so viel Freunde haben, wer aber gerne komplex-gelungene Mischungen aus Krimi und Roman liest – quasi echte Kriminalromane –, der wird Kühn vermutlich ebenso gerne begleiten wie ich es getan habe.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 400
Erscheinungsdatum: 1. März 2018
ISBN: 978-3492057578
Preis: 20,00 € (E-Book: 17,99 €)

18. Februar 2018

Mariana Leky: "Was man von hier aus sehen kann"

Neulich erzählte mir eine Freundin begeistert von dem Roman, den sie gerade las. Sie wollte ihn mir empfehlen, hatte aber den Titel vergessen. "Er spielt im Westerwald", begann sie ihn zu beschreiben und ich dachte mir, dass das jetzt nicht unbedingt der vielversprechendste Schauplatz sei. Aber als sie fortfuhr "Er heißt so ähnlich wie 'Was ich sehe'!" fiel bei mir der Groschen.
Mariana Lekys "Was man von hier aus sehen kann" war vielleicht das schönste Buch, das ich letztes Jahr gelesen habe. Nun wurde ich gerade doppelt daran erinnert - zum einen durch meine Freundin, zum anderen, weil es gerade von den Leserinnen und Lesern des Branchenmagazins "BuchMarkt" zum Buch des Jahres 2017 gekürt wurde (und Verfasserin Mariana Leky zur Autorin des Jahres).


Schon das so unaufdringliche wie märchenhafte Cover von „Was man von hier aus sehen kann“ zeigt, dass man es als Leser mit einem ganz besonderen Roman zu tun hat. Das abgebildete Okapi spielt eine wichtige Rolle, obwohl es nur in den Träumen der alten Selma auftaucht. Doch das ganze Dorf weiß, dass Selmas Okapi-Träume stets Vorboten für einen nahenden Todesfall sind und ist deswegen in höchster Alarmbereitschaft. In diesem Roman wird dann auch gestorben, aber noch viel mehr gelebt und geliebt. Es gibt eine ganze Handvoll von Hauptfiguren, die ich vielleicht verschroben nennen würde, wären sie mir während der Lektüre nicht gar so sehr ans Herz gewachsen. Im Mittelpunkt steht Luise, die zu Beginn des Romans zehn Jahre alt ist und im Laufe des Buches erwachsen wird. Doch genauso wichtig sind ein Optiker, der das Talent hat, die unmöglichsten Zusammenhänge aufzustellen, ein junger Gewichtestemmer, eine abergläubische Kräutersammlerin, Luises von Okapis träumende Großmutter Selma, ein buddhistischer Mönch und ein besonders hässlicher Hund mit dem Namen Alaska. Die Protagonisten sind weder besonders schön (abgesehen von dem Mönch vielleicht) noch außergewöhnlich gebildet (abgesehen von dem Optiker vielleicht). Sie sind keine strahlenden Helden, aber sie haben eine außergewöhnliche Herzenswärme, die liebenswertesten Marotten, die man sich vorstellen kann und oft auch einen weisen Blick auf die Dinge. Mariana Leky lässt ihre Leser vollends in die kleine, komplexe Welt ihrer Figuren eintauchen, und diese Welt ist so anrührend, dass sich das beim Lesen wie ein Geschenk anfühlt. Die Autorin hat außerdem einen einzigartigen Stil. Die Sprache des Romans ist wunderschön poetisch, was seine Lesbarkeit aber keinesfalls einschränkt. Mit kunstvoller Leichtigkeit wird mit Worten gespielt und vor vielen Kapiteln begonnene sprachliche Fäden werden später unverhofft erneut aufgenommen. Ein ganz feiner, leiser Humor schimmert immer wieder durch. Ein Buch zum intensiven Mitfühlen und dabei ohne jeden Kitsch. Ich bin nach wie vor ganz verzaubert von diesem Leseerlebnis.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 18. Juli 2017
ISBN: 978-3832198398
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

12. Februar 2018

Marie Benedict: "Frau Einstein"

Historische Romane lese ich selten, aber dieser hat mich gereizt: "Frau Einstein".


Was fällt einem ein, wenn man den Namen Einstein hört? Der Nobelpreisträger, das berühmte Bild von ihm mit der herausgestreckten Zunge, die Relativitätstheorie. Kaum jemand dürfte an Mileva Marić denken, die erste „Frau Einstein“. Dabei war sie eine bemerkenswerte Persönlichkeit: Ab 1896 eine der ersten Studentinnen der Mathematik und Physik am Eidgenössischen Polytechnikum in Zürich, sah sie einer Karriere als berufstätige Frau entgegen – für die damalige Zeit höchst unüblich. Die Serbin hatte, unterstützt von ihrem Vater, bereits einen steinigen Weg hinter sich: Als Mädchen und junge Frau mit unüblichem Wissensdurst war sie in ihrer Heimat schnell zur Außenseiterin geworden, ein angeborerener Hüftschaden, der sie zeitlebens hinken ließ, tat sein Übriges dazu. Mileva Marić war ein einsames Kind mit einem Ziel, das sie 1896 endlich zu erreichen schien, als sie ihr Studium aufnahm – fern von zu Hause in der Schweiz, wo sie als Osteuropäerin zwar schiefen Blicken ausgesetzt war, Frauen aber bereits studieren dürften.

Der Roman setzt mit Marićs Studienjahren ein, die vielversprechend beginnen: In einer Züricher Pension trifft sie zum ersten Mal in ihrem Leben Gleichgesinnte. Junge Ausländerinnen, die ebenfalls zum Studium in die Schweiz gekommen sind. Sie schließt erste Freundschaften und studiert mit großem Ernst und Erfolg. Der neue Schwung, den Marić verspürt und ihre Faszination für die Physik bringt Autorin Marie Benedict wunderbar rüber; man kann Marićs Begeisterung auch ohne größeres naturwissenschaftliches Interesse nachempfinden. Doch dann kommt ihr ein Mann in die Quere: Albert Einstein. Zunächst ist er der einzige ihrer ausschließlich männlichen Kommilitonen, der ihr ein freundliches Interesse entgegenbringt. Zwischen den beiden bahnt sich eine Freundschaft an – und irgendwann auch mehr. Marić versucht erst, ihre Gefühle zu unterdrücken, doch als ihre Freundin Helena sich verlobt, gibt sie Einsteins Werben schließlich nach. Was beiden vorschwebt, ist ein unkonventionelles Leben als Bohémiens – gleichberechtigtes gemeinschaftliches Leben und Forschen. Doch eine ungeplante Schwangerschaft, mit der Einstein sie komplett allein lässt, setzt Marićs erfolgreichem Studium ein Ende. Es stellt sich heraus, dass Einstein trotz seiner Liebe zu ihr ein unverlässlicher Partner ist – sowohl in privater als auch in wissenschaftlicher Hinsicht. Nachdem er in Lohn und Brot ist, heiraten die beiden trotzdem, doch Marićs Ziele und Träume fallen Einstein nach und nach zum Opfer. Sah sie während ihres Studiums noch die Wissenschaft als Gottes geheime Sprache und sich selbst auf einem Kreuzzug, kommt sie mit der Zeit gänzlich von ihrem Weg ab – vor allem, weil Einstein gemeinsame Forschungsergebnisse als seine eigenen Errungenschaften deklariert und sie auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter beschränkt.

„Frau Einstein“ macht wütend – wütend auf Einstein, der erst seine Versprechungen und schließlich auch Marić bricht, einfach, weil er es kann, als Mann seiner Zeit. Dabei ist „Frau Einstein“ natürlich nur ein Roman, in dem viele erzählte Anekdoten der dichterischen Freiheit zuzuschreiben sind. Bei einigen Passagen habe ich überlegt, ob Benedict zu weit geht – wenn Einsteins herzloser Umgang in Bezug auf die erstgeborene Tochter thematisiert wird oder sie die Erstidee zur Relativitätstheorie Marić zuschreibt. Das Schicksal von Tochter Lieserl Einstein konnte nie wirklich geklärt werden und im Nachwort erwähnt Benedict selbst, dass Marićs tatsächlicher Beitrag zu den Albert Einstein zugeschriebenen Theorien ungewiss ist. Der Einstein im Roman entwickelt sich zunehmend zum Scheusal, was der historischen Figur eventuell Unrecht tut. Allerdings kann offensichtlich belegt werden, dass der Nobelpreisträger kein einfacher Mensch war, ein sehr selbstbezogener Ehemann und auch als Vater eher ein Versager. In ihrem Nachwort schreibt Benedict, dass sie mit ihrem Roman nicht den wissenschaftlichen Verdienst Einsteins schmälern, sondern die menschliche Seite hinter seinen wissenschaftlichen Arbeiten beleuchten wollte. Als Mensch gibt ihr Einstein jedoch eine dermaßen schlechte Figur ab, dass sich notgedrungen auch der Blick auf den Wissenschaftler verändert. Dabei ist der Roman einzig und allein aus der Sicht seiner Frau geschrieben, die beständig als sein Opfer dargestellt wird. Benedict zeichnet die beiden schwarz-weiß, ich hätte mir ab und an ein etwas differenzierteres Bild gewünscht. Dennoch verdient es Marić offensichtlich, zumindest in diesem Buch einmal die Hauptrolle zu spielen – auch wenn sie im Titel wieder nur auf ihre Rolle als Ehefrau des berühmten Wissenschaftlers reduziert wird.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 15. Februar 2018
ISBN: 978-3462049817
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

7. Februar 2018

Yewande Omotoso: "Die Frau nebenan"

Folgendes Buch besitze ich bereits seit ein paar Monaten, habe es aber jetzt erst anläslich eines Kapstadt-Besuchs gelesen. Mein Glück, denn sonst hätte ich wirklich etwas verpasst. Da es abseits aller Touristenpfade spielt, hat es zwar inhaltlich gar nicht so sehr zum Urlaub gepasst, aber einen großartigen Eindruck von den Schwierigkeiten des Miteinanders gegeben, dem Erfahrungen, Prägungen, Traditionen im Weg stehen können - nicht nur in Südafrika.


Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben ...


… wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt – oder der bösen Nachbarin. Hortensia und Marion können davon ein Lied singen, wobei sich hier kaum eine Einteilung in „fromm“ und „böse“ vornehmen lässt. Die Nachbarinnen, bereits jenseits der achtzig und in einem reichen Kapstädter Vorort namens Katterijn wohnend, pflegen eine bereits Jahrzehnte währende Abneigung zueinander. Die dunkelhäutige Hortensia wirft der weißen Marion Rassismus vor, Marion Hortensia dagegen Boshaftigkeit – beides ist gerechtfertigt. Doch als sie, inzwischen verwitwet und auf sich alleingestellt, in unterschiedliche Notsituationen kommen, nähern sie sich einander an und räumen der jeweils anderen widerwillig einen Platz in ihrem Leben ein. Ihr Umgang miteinander bleibt dabei scharfzüngig und schonungslos, aber dennoch müssen sie feststellen, dass sie einander tatsächlich mal Stütze, mal moralischer Kompass sein können – und niemand ist darüber verblüffter als die beiden selbst.

Hortensia und Marion haben sehr unterschiedliche Lebenswege hinter sich, die im Laufe des Romans in Form von Erinnerungen erzählt werden. Jede von ihnen blickt auf ein bewegtes Leben zurück: Marion, 1933 in Südafrika geborene Tochter litauischer Auswanderer, hat sich eine Karriere als Architektin aufgebaut und vier Kinder großgezogen. Hortensia dagegen ist in Barbados aufgewachsen, hat in London studiert und ist schließlich eine so bekannte wie erfolgreiche Textildesignerin geworden, die vor ihrem Umzug nach Kapstadt lange mit ihrem englischen Ehemann in Nigeria lebte. Im Vergleich zu ihr wirkt Marion gelegentlich etwas blass, was nicht nur Hortensias scharfer Beobachtungsgabe und ihrer verbittert-unversöhnlichen Perspektive geschuldet ist. Ein Blick auf den Lebenslauf der Autorin legt nahe, dass ihr die Figur der Hortensia beim Schreiben des Romans auch etwas näherstand, hat sie deren Lebensstationen doch an ihre eigene Biografie angelehnt: Yewande Omotoso ist in Barbados geboren, in Nigeria aufgewachsen und lebt heute in Südafrika. Die 37-jährige Autorin ist sie viel jünger als ihre Protagonistinnen, die dennoch so glaubwürdig wie lebendig erscheinen, wenn auch Marions Konturen nicht ganz so scharf herausgearbeitet wurden wie Hortensias.

Omotoso schildert die beiden unterschiedlichen Frauenschicksale sehr anschaulich. Die sich unterhaltsam lesenden Wortduelle der beiden lockern eine Lektüre auf, die große Fragen anpackt: Wo fängt Rassismus an? Wie kann Versöhnung aussehen? Eine Geschichte über Einsamkeit und Freundschaft, inneren Frieden und Rachegelüste, angesiedelt in der südafrikanischen Post-Apartheid-Ära und damit in einem spannungsgeladenen Umfeld. „Die Frau nebenan“ ist vielschichtig und alles andere als schwarz-weiß. Ein feiner Lesegenuss, der nachwirkt.

Verlag: List
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 10. März 2017
ISBN: 978-3471351444
Preis: 18,00 € (E-Book: 14,99 €)

31. Januar 2018

Homer Hickam: "Albert muss nach Hause"

Zum Monatsende hin habe ich ein weiteres Weihnachtsgeschenk beendet. Meine lesebegeisterte Tante hat es mir geschickt und wie so oft ein gutes Händchen bewiesen. Das Buch hat einen Hauch von Magie in diesen Januar gebracht - ohne dabei in irgendeiner Art und Weise Übersinnliches anzudeuten. Aber schon das Cover zeigt, dass man es hier mit keiner ganz normalen Geschichte zu tun hat ...


„Albert muss nach Hause“ handelt von einem außergewöhnlichen Roadtrip. Elsie und ihr Mann Homer wollen ihren Alligator Albert nach Orlando bringen, wo er vermutlich hergekommen ist – zumindest hat ihn ein von dort stammender Ex-Freund Elsie zur Hochzeit geschenkt. Damals passte Albert noch in eine kleine Pappschachtel, doch inzwischen hat er eine ansehnliche Größe erreicht und es wird Zeit für ihn, das Bergarbeiterstädtchen Coalwood in West-Virginia zu verlassen – findet zumindest Homer. Sorgen bereitet ihm allerdings, dass seine Frau Elsie ihrer Heimat – und eventuell auch ihm – ebenfalls den Rücken kehren will. Homer hofft, dass sich alles regeln lässt, wenn sie Albert erst einmal losgeworden sind. Und so begibt sich das junge Ehepaar auf diese Reise mit ungewissem Ausgang. Ungeplant hat es sogar gleich zwei tierische Begleiter: Neben Alligator Albert kommt auch noch ein so namen- wie herrenloser Hahn mit, dessen Anwesenheit zwar sowohl Romanfiguren als auch Leser vor ein Rätsel stellt, der aber alles in allem eine charmante Figur macht.

Homer Hickam der Jüngere, ein Jahre nach diesem Roadtrip geborener Sohn von Elsie und Homer, ist Autor und Erzähler dieser so skurrilen wie warmherzigen Geschichte. Zwischen den einzelnen Reisestationen schildert er kurz, wie er von seinen Eltern von den jeweiligen Etappen erfuhr; sie wurden ihm im Laufe seines Lebens nach und nach erzählt. Was in diesem Roman tatsächlich der Wahrheit entspricht, wird sein Geheimnis bleiben. Elsie, Homer der Ältere, Albert und die Reise nach Florida scheint es wirklich gegeben zu haben – und die anderen Geschehnisse? „Die haben wir auch alle gemacht,“ sagt Elsie „auch wenn wir sie nicht gemacht haben“. Als Leser kann man kaum anders, als zu hoffen, dass die Erlebnisse von Elsie, Homer und Albert wahr sind – auch wenn sie teilweise ziemlich verrückt erscheinen und mindestens zwei von den drei Hauptfiguren regelmäßig mehr Glück als Verstand haben. Man wünscht sich, dass Elsie in ihrem Leben wirklich die Chance hatte, sich immer wieder neu zu erfinden und dass Homer tatsächlich mit dieser geduldigen Güte gesegnet war, die ihn im Roman auszeichnet. Und Albert? Die eigentliche Hauptfigur des Buches ist der vermutlich sympathischste Alligator, von dem man je gehört hat. Den möchte man am liebsten am Bauch kraulen, bis er grinst, und ihm dabei seine Glückslaute entlocken, die wie „Yeah-yeah-yeah“ klingen.

Die drei mit dem zugelaufenen Hahn auf ihrer Reise zu begleiten, fühlt sich wie ein modernes Märchen an. Ein Märchen in dem Kismet eine große Rolle spielt, in dem „das Alpha und das Omega der amerikanischen Literatur“ in Form von John Steinbeck und Ernest Hemingway Gastauftritte haben und in dem man nicht mal den gefühlt in jedem zweiten Teil vorkommenden Ganoven Slick und Huddie böse sein kann. Ein Märchen, in dem mitunter alles möglich scheint und das wie im Flug vergeht. „Albert muss nach Hause“ ist eine bezaubernde Unterhaltung.

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 528
Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2017
ISBN: 978-3959671262
Preis: 9,99 € (E-Book: 7,99 €)

26. Januar 2018

Horst Evers: "Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex"

Letztes Jahr hatten Horst Evers und ich quasi 10-Jähriges, denn seit 2007 lese ich seine Bücher. Und musste eben feststellen, dass ich inzwischen insgesamt sieben davon im Regal stehen habe – da können nicht viele Autoren mithalten! Von seinen zwei Romanen habe ich allerdings nur einen gelesen, „Der König von Berlin“, der meiner Meinung nach bei Weitem nicht an Evers‘ alltagsbeobachtende Geschichtenbände herankommt. Letztere liebe ich und hatte mir daher sein neuestes Buch „Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex“ zu Weihnachten schenken lassen.


Horst Evers hat einen äußerst witzigen Blick auf alltägliche Begebenheiten – vor allem auf alltägliche Begebenheiten, die ihm passieren. Er ist die Hauptfigur in seinen Geschichten und schont sich dabei nicht im Mindesten. Die Nebenfiguren kehren immer wieder – Lebensgefährtin, Tochter, Nachbar, Onkel, Freunde -, man kennt sich nach einigen Büchern. Doch nicht nur sie tauchen wiederholt auf: Äußerst kunstvoll schafft es Evers immer wieder, einer Randbemerkung fünf Geschichten weiter plötzlich Bedeutung beizumessen. Das ist eins seiner Markenzeichen und über solche Passagen freue ich mich jedes Mal wieder. Genau wie über die unvergleichliche Evers-Perspektive, mit der der Autor über die Welt sinniert: Philosophisch, pragmatisch, mit viel Witz und immer wieder ziemlich überraschenden Erkenntnissen.

Und so steht „Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex“ eigentlich in guter Tradition zu den bisherigen Geschichtenbänden: „Die Welt ist nicht immer Freitag“, „Gefühltes Wissen“, „Mein Leben als Suchmaschine“, „Für Eile fehlt mir die Zeit“ und „Wäre ich Du, würde ich mich lieben“.  Und trotzdem … irgendwas war diesmal anders. Aber was? Voller Vorfreude hatte ich das Buch angefangen zu lesen und erst einmal war alles so, wie es sein sollte. Schon die erste Geschichte ist typisch Horst Evers: Er beschreibt, wie er einkaufen geht und für die Teenager-Tochter ein paar Unterhosen besorgen soll. Von der großen Auswahl überfordert ruft er sie aus dem Laden an und sie bittet ihn um WhatsApp-Fotos, um aus der Ferne eine Entscheidung fällen zu können. Dass ein mittelalter Mann Mädchenunterwäsche fotografiert, ruft allerdings eine Verkäuferin auf den Plan und die Geschehnisse nehmen ihren Lauf, werden mit Erinnerungen an andere schräge Einkaufserlebnisse angereichert, es gibt zwei, drei unerwartete Wendungen und raus kommt eine ziemlich lustige, ziemlich typische Evers-Geschichte.
Aber irgendwie kamen nicht viele Geschichten an sie ran. Einige waren überdreht, dafür mit weniger Witz – man kann sie alle gut lesen, das Buch ist unterhaltsam … aber ich habe in Erinnerung, mich über die Vorgänger deutlich mehr amüsiert zu haben. Sie waren subtiler, mit mehr überraschenden Wendungen, mehr Komik. Nun grüble ich, ob es an Horst Evers oder an mir liegt. Fällt ihm nicht mehr so viel ein – oder finde ich es einfach nicht mehr so komisch wie früher? Ich hoffe fast auf Ersteres und werde demnächst mal wieder in „Für Eile fehlt mir die Zeit“ reinlesen.

Verlag: Rowohlt Berlin
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 20. Januar 2017
ISBN: 978-3871341724
Preis: 16,95 € (E-Book: 14,99 €); die Taschenbuchausgabe soll am 24. April 2018 für 9,99 € erscheinen.

21. Januar 2018

Mareike Krügel: "Sieh mich an"

Bereits im Herbst habe ich "Sieh mich an" gelesen. Das auffällige Romancover mit der im Titel enthaltenen Aufforderung schien mir damals überall zu begegnen. In der E-Book-Version kommt es zugegebenermaßen nicht ganz so gut raus. Ich war sehr neugierig auf das Buch und hatte mich auf die Lektüre gefreut, die sich auch lohnt - aber dennoch anders ist, als ich erwartet hatte.


Der Roman liest sich intensiv. Wie in einen Strudel wird man in das Leben der Ich-Erzählerin Katharina hinein gezogen. Die ca. Vierzigjährige ist eine aufopferungsvolle Mutter, vernachlässigte Ehefrau, schwer erreichbare Freundin, begeisterte Musiklehrerin und hilfsbereite Nachbarin. Tagtäglich schlüpft sie in diese verschiedenen Rollen, die alle besondere Anforderungen an sie stellen. In „Sieh mich an“ erlebt der Leser einen erstmal gar nicht so untypischen Freitag in Katharinas Leben mit. Und weiß durch ihre Innenansichten als Einziger, welche emotionale Zusatzbelastung sie nebenbei noch mit sich herumträgt: Katharina hat in ihrer Brust ein „Etwas“ ertastet, das sie nicht beim Namen nennen mag. Sie ist erblich vorbelastet und von ihrem nahenden Tod überzeugt, ohne bislang mit einem Arzt oder sonst jemandem über das „Etwas“ gesprochen zu haben. Doch das will sie ändern – am nächsten Montag. Der Chaos-Freitag, den „Sieh mich an“ beschreibt, soll das letzte nach außen hin unbeschwerte Wochenende einläuten.

Durch Rückblenden ist zu erahnen, wie Katharina zu der Frau geworden ist, die sie ist. Sachlich denkt sie über ihr Leben nach und lässt dabei nur wenig Emotionen zu. Der lakonische Schreibstil passt zum Inhalt, hat in mir jedoch auch eine gewisse Traurigkeit erzeugt. Die Figur der Katharina blieb mir stellenweise sehr fremd; ich konnte mich nur wundern, wie viel sie unausgesprochen lässt, wie viel sie hinnimmt. Gleichzeitig habe ich mir einige Passagen markiert; kluge Gedanken, ungewöhnliche Sichtweisen, über die sich ein nochmaliges Nachdenken lohnt. Krügels Katharina hat einen besonderen Blick auf das Leben und ihre Gedanken brechen ungefiltert auf den Leser ein. Wenn ich mich immer auf sie eingelassen hätte, wäre mein Lesefluss ganz schön ins Stocken geraten; so habe ich schon während des Lesens beschlossen, dass ich dieses Buch nicht zum letzten Mal in die Hand genommen habe. Und doch hat es mich etwas bedrückt. Katharina ist eine Kennerin und Liebhaberin der klassischen Musik und hält ihre eigene Lebensmelodie durchgehend in Moll, was mir zum Teil selbstgewählt erscheint. Wegen der melancholischen Grundstimmung bin ich unsicher geworden, ob ich das Buch einer Freundin weiterempfehlen soll. In jedem Fall ist es jedoch ein tragisch-schöner, weiser Roman über den Alltagswahnsinn und vieles, was das Leben ausmacht.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 1. August 2017
ISBN: 978-3492058551
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

12. Januar 2018

Bernhard Schlink: "Olga"

Heute erscheint ein Buch, das ich gestern beendet habe  - was nur möglich ist, weil ich es im Dezember auf der Plattform "Vorablesen" als Leseexemplar gewonnen habe. Es war nicht das erste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe, aber das erste, das ich hier empfehlen will, damit das Jahr 2018 im Romanregal mit einem richtigen Highlight beginnt. Denn genau das ist "Olga" für mich.


Schon länger war ich von keinem Roman mehr dermaßen angetan wie von „Olga“. Bereits auf den ersten Seiten hat mich Bernhard Schlinks klare, präzise, schöne Sprache begeistert. Aber auch inhaltlich zog mich die Geschichte der Anfang der 1880er Jahre geborenen Olga in ihren Bann. Früh Vollwaise ist sie zwar nicht ganz auf sich alleine gestellt, erfährt aber trotz Wissensdurst und Ehrgeiz kaum Förderung und Unterstützung. Dennoch geht Olga ihren – in Anbetracht ihrer Herkunft und der damaligen Zeit – ungewöhnlichen Weg. Und findet schon früh mit einem anderen einsamen Kind zusammen: Dem Gutsbesitzersohn Herbert. Olga und Herbert sind sich nicht ähnlich, aber sie begegnen einander auf Augenhöhe, verbringen gerne Zeit miteinander, werden langsam erwachsen und ein Liebespaar. Während sich Olga jedoch ein selbstständiges und unabhängiges Leben aufbaut, zieht es Herbert in die Ferne. Rastlos sucht er nach Weite und der Erfüllung, die ihm diese bringt. Seine erste Reise führt in als Soldat nach „Südwest“, also Namibia; weitere folgen.

Doch der Leser begleitet Herbert nur kurze Passagen lang, der Fokus des Buches richtet sich auf die titelgebende Hauptfigur. Olga, eine intelligente, belesene Frau, die schließlich den ersten Weltkrieg erlebt und irgendwann auch den zweiten. Ihre Geschichte wird bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählt; erst aus der Außenperspektive, irgendwann von einem späten Schützling, schließlich indirekt auch von ihr selbst. Alle drei Sichtweisen fügen das Bild einer starken Frau zusammen, die dem Wunsch der ihr am Herzen liegenden Männer, immer höher und immer weiter hinaus zu wollen, stets skeptisch gegenübersteht – wie auch dem sich immer wieder Bahn brechenden zeitgenössischen Größenwahn ihrer Landsleute. Olga bleibt sich treu – und dennoch gibt es im Laufe des Romans einige unvorhersehbare Wendungen, die mich tatsächlich in Atem gehalten haben, obwohl sich „Olga“ sonst eher ruhig liest.

Sprache, Erzählweise und Struktur der Geschichte machen sie zu einer ungewöhnlich intensiven Leseerfahrung. Für einige Handlungsstränge nimmt sich Bernhard Schlink Zeit, aber manches Mal zieht er sein Erzähltempo stark an. Dass „Olga“ trotzdem stimmig bleibt, zeigt, wie virtuos Schlink schreiben kann. Die Begleitung seiner Romanfigur durch ihr Leben ist ein bereicherndes Erlebnis, das mich nach Buchende wehmütig zurückgelassen hat.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 12. Januar 2018
ISBN: 978-3257070156
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)