4. August 2021

Felicity Ward: Sag mir, wer ich bin

Porträt eines Traumas.

Ein Tag im Jahr 1962 verändert das Leben der Kanadierin Sally Hamilton für immer: Die 16-jährige wird während ihrer Ferien in Paris von einem Unbekannten verschleppt, misshandelt und fast ermordet. Nach mehreren Tagen zwischen Leben und Tod erwacht sie in einem Krankenhaus; hier beginnt der Roman. Anfangs weiß die junge Frau nicht einmal mehr, wer sie ist und so dauert es, bis ihre Eltern ausfindig gemacht werden können und anreisen. Nach und nach kehren Sallys Erinnerungen zurück; nur jene an Tat und Täter bleiben verschwommen und bruchstückhaft. Sally stört das kaum, sie will sowieso nur vergessen. Doch ihre Ängste lassen sie nicht los und bestimmen ihr weiteres Leben, was beklemmend geschildert wird.


Die erste Hälfte des Romans fand ich sehr gelungen – die Beschreibung einer traumatisierten Frau, die versucht, ihren Albträumen mit einer Mischung aus Vermeidungs- und Konfrontationsstrategien zu trotzen. Sally möchte nicht über Paris reden und nach und nach gerät in ihrem Umfeld in Vergessenheit, dass sie fern ihrer Heimat Montreal einmal einen ominösen Zusammenbruch erlitten hat. Doch für Sally bleibt die Vergangenheit höchst lebendig – und scheint sie schließlich einzuholen.

Und ab da wurde „Sag mir, wer ich bin“ für meinen Geschmack leider schwächer. Die Schilderungen von Sallys Seelenleben sind einfühlsam und wirken meist authentisch. Wie sich eine nichtverarbeitete Gewalterfahrung noch Jahrzehnte später auswirken kann, führt der Roman erschütternd vor Augen. Doch das Verhalten eines weiteren Protagonisten gab mir Rätsel auf und so irritierte mich der finale Showdown mehr, als dass er mich mitriss.
Insgesamt liest sich der Roman wie ein langes Plädoyer für eine Therapie – es vergeht eigentlich kein Kapitel, in dem man sich nicht professionelle Hilfe für die Hauptfigur wünschen würde. Nebenbei ist einiges über das Montreal von vor 50 Jahren zu erfahren. „Sag mir, wer ich bin“, startet ziemlich packend, lässt im letzten Drittel jedoch nach und büßt an Nachvollziehbarkeit ein.

Verlag: Europa Verlag
Seitenzahl: 328
Erscheinungsdatum: 29. Juli 2021
ISBN:‎ 978-3958904057
Preis: 22,00 € (E-Book: 17,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

31. Juli 2021

Agatha Christie: Fata Morgana

Ungewohntes Mittelmaß.

Es war mal wieder Zeit für Agatha Christie. In diesem Fall ermittelt Miss Marple, es ist das fünfte von insgesamt zwölf Cosy Crimes mit ihr und der 43. Krimi der Autorin. Leider hatte ich den Eindruck, dass ihr hier die Puste etwas ausgegangen ist; die meisten ihrer Bücher sind kurzweiliger und raffinierter.


In „Fata Morgana“ besucht Miss Marple ihre alte Schulfreundin Carrie Louise, die in dritter Ehe verheiratet ist und mit ihrem Mann eine Einrichtung unterhält, in der junge, männliche Straftäter auf den rechten Weg zurückgelotst werden sollen. Das Ehepaar ist voller Idealismus, den längst nicht alle Familienmitglieder teilen. Und Familienmitglieder gibt es reichlich in dieser Patchwork-Sippe: Eine bereits verwitwete Tochter, eine relativ frisch verheiratete Enkelin, zwei längst erwachsene Stiefsöhne und einen aus erster Ehe, der fast das gleiche Alter wie Carrie Louise hat. Was die Sippschaft eint, ist die Liebe zu Carrie Louise, die fast zu gut für diese Welt wirkt. Doch irgendwer scheint es auf sie abgesehen zu haben …

Normalerweise führt Agatha Christie ihre Leser sehr gekonnt aufs Glatteis, doch hier fallen kleine Ungereimtheiten relativ schnell ins Auge. Außerdem scheint der Krimi einem etwas eintönigem Schema zu folgen: Zunächst schütten fast alle wichtigen Figuren Miss Marple nacheinander ihr Herz aus, dann passiert etwas und darauf folgt eine äußerst ausführliche Polizeibefragung, bei der wiederum sämtliche Protagonisten zu Wort kommen. Andere Krimis der Autorin sind deutlich abwechslungsreicher geschrieben, in diesem gibt es nicht ganz so viel Handlung. Insgesamt wirkt er etwas uninspiriert; es fehlen der Pfiff und die gewohnte Raffinesse. „Fata Morgana“ ist nicht schlecht, aber im Vergleich zu Christies anderen Krimis nur Mittelmaß.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Fata Morgana“ gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 208
Erscheinungsdatum: 4. September 2015; „Fata Morgana“ erschien jedoch bereits 1958 erstmals auf Deutsch (und 1952 auf Englisch).
ISBN: 978-3455650556
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

25. Juli 2021

Michael Robotham: Die andere Frau

Der elfte Fall.

Mit dem elften Band einer Reihe anzufangen, ist nicht die beste aller Ideen. Beim Griff zu diesem Buch hatte ich allerdings übersehen, dass es Teil einer Reihe ist und rechne bei Psychothrillern zudem generell nicht mit einem Serienformat. Dies findet sich eher bei Krimis – zu denen ich „Die andere Frau“ allerdings auch zählen würde. Das Buch hat mich also in mehrfacher Hinsicht überrascht.


„Die andere Frau“ lernt der Psychologe Joe O’Loughlin kennen, weil sie am Krankenbett seines Vaters William auf der Intensivstation sitzt. William liegt im Koma und die Fremde behauptet, dessen Ehefrau zu sein – seine andere Ehefrau, neben O’Loughlins Mutter. Joe ist wie vor den Kopf gestoßen und lässt die Unbekannte zunächst rausschmeißen, muss jedoch bald feststellen, dass diese sich nicht so schnell abwimmeln lässt. Außerdem entdeckt er, dass sein strenger, distanzierter Vater ihm völlig unbekannte Seiten hat.

Michael Robotham hat verschiedene Unstimmigkeiten eingebaut, die eventuell Spannung erzeugen sollten, die Geschichte für mich aber eher unglaubwürdig machten. Das Verhalten mehrerer Figuren wird nicht aufgeklärt und die Begründungen hierfür empfand ich als etwas billig. So ist beispielsweise Joes Mutter so aufgebracht, dass sie Gespräche über ihre Ehe quasi verweigert, anstatt Licht ins Dunkel zu bringen. Vater William scheint komplett konträre Wesenszüge zu haben, die die Lesenden aber nicht in Aktion erleben, da er ja im Koma liegt. Joes Schwestern sind eigentlich überflüssiges Beiwerk und bleiben komplett blass – wenn ich sie aus den früheren Büchern gekannt hätte, hätte ich das aber vielleicht anders empfunden. Die Hauptfigur selbst ermittelt auf eigene Faust und vergisst dabei leider immer wieder, seine Erkenntnisse mit dem zuständigen Detective Inspector Stuart Macdermid zu teilen. Und wann immer Joe nicht weiterweiß, kreuzt praktischerweise eine neue Spur seinen Weg. Das alles fand ich vor allem irritierend; Spannung kam eher wenig auf.

Trotzdem ist es nicht so, dass mir „Die andere Frau“ gar nicht gefallen hätte. Joes tragische Familiengeschichte als verwitweter Vater zweier Töchter war besser geschrieben als der eigentliche Fall, aber auch der las sich flüssig. Dass sich viele Figuren immer wieder aufs Neue unlogisch verhielten, hat mich allerdings gestört. Und so werde ich auf die Lektüre der zehn Vorgängerbände wohl erst einmal verzichten.

Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 27. Dezember 2018
ISBN:‎ 978-3442315048
Preis: 14,99 € (E-Book: 9,99 €)

11. Juli 2021

Daniela Krien: Der Brand

Sommer unterm Brennglas.

Auf dem Cover dieses Romans scheint die titelgebende Feuersbrunst abgebildet zu sein. Doch von dem Brand, der am Anfang dieser Geschichte steht, wird nur telefonisch berichtet. Die 49-jährige Hauptfigur Rahel erfährt kurz vor der Abreise, dass das seit Langem für den Sommerurlaub gebuchte Quartier abgebrannt ist. Und so fahren sie und ihr Mann Peter nicht in die Alpen, sondern in die Uckermark und hüten dort den Hof von Freunden, was mehr eine Pflichtübung als die ersehnte Auszeit ist. Dabei wollten sie doch Kraft tanken und einander wieder näherkommen – letzteres hatte sich zumindest Rahel erhofft. Als dann noch ihre Tochter mit den beiden Enkelkindern bei dem Paar einfällt, scheint jegliche Entspannung in weite Ferne gerückt.

„Der Brand“ handelt also von Familie, ist aber weit davon entfernt, eine amüsante Generationengeschichte zu sein. Und das liegt vor allem am sezierenden Stil von Autorin Daniela Krien, die unaufgeregt und schonungslos Gefühle und Situationen schildert. Dabei schafft sie es, ihre Figuren komplex zu charakterisieren, ohne sie zu bewerten oder die Sympathien klar zu verteilen. Krien ist eine dichte Erzählung gelungen, die sich aber auch durch eine überraschende Leichtigkeit auszeichnet, weil einige Themen nur angedeutet und längst nicht alle Krisen detailliert beschrieben oder gar gelöst werden. Dadurch wirkt der Roman sehr lebensnah. Sein großes Thema ist weniger die Geschichte einer Familie oder einer Ehe, sondern die Veränderung von Menschen und ihren Beziehungen im Laufe des Lebens. Die Autorin fängt beides auf eine leise, fast nebensächliche Art und Weise ein, aber ihre präzisen Beobachtungen haben mich das ein oder andere Mal kalt erwischt und einige Sätze hallen nach. Daniela Kriens Roman hinterlässt Spuren.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 28. Juli 2021
ISBN:‎ 978-3257070484
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

27. Juni 2021

John Green: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?

Kurioser Mix, wunderbar erzählt.

Dieser Titel hat mich gleich angesprochen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das auch noch sehr höflich: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?“ Tja, gute Frage. Laut Wikipedia (das wiederum einen Artikel aus der NZZ zitiert) ist das Anthropozän „[das Zeitalter,] in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“. Es gibt verschiedene Ansätze, die den Beginn des Anthropozäns unterschiedlich datieren. Fest steht, dass es das einzige Zeitalter ist, das wir kennen. Aber was macht es eigentlich aus?


John Green nähert sich dieser Frage in kurzen Kapiteln, in denen er über Dinge, Momente und Erfahrungen schreibt, die für ihn mit dem Anthropozän verbunden sind – z.B. Klimaanlagen, Diet Dr Pepper und Jerzy Dudeks sportliche Leistung am 25. Mai 2005. Ich habe Dr Pepper noch nie getrunken und Jerzy Dudek sagte mir nichts. Aber das ist völlig egal, gerade letztere Geschichte habe ich gleich zweimal gelesen, weil sie mir so gut gefallen hat (und vermutlich auch, weil gerade EM ist und es thematisch so schön passt). Viele der Kapitel beziehen sich auf die USA, da Green ein amerikanischer Autor ist – mehrere Überschriften sagten mir gar nichts. Doch das stört beim Lesen in keiner Weise, denn von diesem Autor lässt man sich einfach gerne lesend an die Hand nehmen und zu den verschiedensten Themen dieses bunten Mixes führen.

Allerdings erzählt John Green nicht nur – er bewertet auch, nach der bewährten 5-Sterne-Skala, die wir alle aus dem Internet kennen. Sogar sein eigenes Buch ist nicht vor ihm sicher; er lässt sich kritisch über Copyrightseite, Titelseite und die Buchwerbung am Schluss aus. Ansonsten bewertet er von Kanadagänsen (zwei Sterne) über unsere Fähigkeit zu staunen (dreieinhalb Sterne) bis hin zum Halleyschen Kometen (viereinhalb Sterne) jedes Thema, das er unter die Lupe nimmt – aber erst, nachdem er es sorgsam von mehreren Seiten beleuchtet hat. Green schreibt über seine persönliche Beziehung dazu, seine Gedanken, seine Erlebnisse und reichert das Ganze mit Fakten und (zum Teil wunderbar unnützem) Wissen an. Das liest sich mal faszinierend, mal skurril, mal anrührend, macht großen Spaß und bringt gleichzeitig zum Nachdenken. Die Art, in der John Green über Emotionen schreibt, hat mich dabei an Matt Haig erinnert und mir sehr gefallen.

Apropos: Wie hat mir das Anthropozän denn nun bis jetzt gefallen? Die Antwort auf diese Frage in eine 5-Sterne-Skala zu pressen, erscheint mir unmöglich. Aber John Greens Buch, dem gebe ich viereinhalb Sterne.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 18. Mai 2021
ISBN:‎ 978-3446270558
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

16. Juni 2021

David Safier: Miss Merkel

Mit Puffel und Putin.

Angela Merkel geht in den Ruhestand – und was kommt dann? Die Frage nach der nächsten Kanzlerin oder dem nächsten Kanzler beschäftigt viele. David Safier fragt sich stattdessen, was die zukünftige Altkanzlerin mit der neugewonnenen Freiheit und Freizeit wohl anstellen wird. Seine Antwort: Sie geht unter die Hobby-Detektive! Und das, obwohl in ihrer fiktiven neuen Heimat, dem beschaulichen Klein-Freudenstadt, eigentlich absolut nichts los ist.


Safiers „Miss Merkel“ findet es gar nicht so einfach, plötzlich ein Rentnerleben zu führen. Ihre Anfangsschwierigkeiten kompensiert sie mit Kuchenbacken, was ungute Effekte auf den Waschbrettbauch ihres Personenschützers Mike hat. Ehemann Achim, liebevoll „Puffel“ genannt, freut sich auf die ruhige Zweisamkeit – oder Dreisamkeit: Das Ehepaar Merkel/Sauer hat sich nämlich einen Mops namens Putin zugelegt. Nun fehlen nur noch ein paar neue Freunde, um in Klein-Freudenstadt Fuß zu fassen. Ein Fest auf der nahegelegenen Burg scheint eine gute Gelegenheit, um Leute kennenzulernen – doch dann verstirbt der Gastgeber in seinem von innen verschlossenen Weinkeller. Für den örtlichen Kommissar ein klarer Fall von Selbstmord, aber Angela Merkel hat Zweifel. Obwohl weder Ehemann noch Bodyguard begeistert sind, beginnt sie, Nachforschungen anzustellen und stößt dabei auf mehrere Ungereimtheiten …

Der Krimi steht und fällt mit seiner Hauptfigur – das dürfte kaum überraschen. Die in die Gedanken dieser fiktiven Angela Merkel eingestreuten Anekdötchen zum Berliner Betrieb sind durchaus amüsant zu lesen; auch das Zusammenleben mit Puffel und Putin sowie die Begegnungen mit dem gemeinen Volk sind unterhaltsam. Das Cosy Crime dient eher als Kulisse; Spannung kommt nicht wirklich auf und mit Miss Marple hat Miss Merkel in etwa so viel gemein wie Klein-Freudenstadt mit dem Prenzlauer Berg. Wegen des Genres sollte man also nicht zu diesem Buch greifen, die originelle Grundidee macht allerdings Spaß. David Safier beweist wieder einmal, dass er ein Meister der witzig-abstrusen Gedankenexperimente ist. Das Ergebnis ist ein netter Schmöker und trotz aller Absurditäten irgendwie auch eine Hommage auf Angela Merkel.

Verlag: Kindler
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 23. März 2021
ISBN:‎ 978-3463406657
Preis: 16,00 € (E-Book: 9,99 €)

6. Juni 2021

Katharina Döbler: Dein ist das Reich

Auf Südsee-Mission.

„Dein ist das Reich“ – was für ein mächtiger Titel. Er scheint gleich auf Mehreres anzuspielen: auf das Gottvertrauen der Protagonisten, aber auch auf das Reich Gottes, das sie den Papua auf Neuguinea nahebringen wollen. Die Idee, in ein fremdes Land einzudringen und den Einheimischen die eigene Kultur aufzuzwingen, könnte ebenfalls mitschwingen. Denn um all das geht es in diesem Buch, in dem die Autorin Katharina Döbler ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet.


1913 verlassen Döblers spätere Großväter Heiner Mohr und Johann Hensolt ihre fränkische Heimat und begeben sich auf eine lange Schiffsreise – noch nicht ahnend, dass sie dadurch dem Ersten Weltkrieg entgehen werden. Die jungen Männer sind von dem lutherischen Missionswerk in Neuendettelsau entsandt und auf dem Weg nach Kaiser-Wilhelms-Land, wie die deutsche Südsee-Kolonie heißt. Johann wird dort als Missionar arbeiten und Heiner als Pflanzer für die Bewirtschaftung einer Palmenplantage verantwortlich sein. Beide sind erst Anfang zwanzig.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Kolonie australisches Mandatsgebiet, doch die deutschen Missionsabgesandten dürfen bleiben und sogar ihre Bräute aus Deutschland nachholen. Marie und Linette sind grundverschieden und lernen sich auch erst viele Jahre später kennen, da die Familien in unterschiedlichen Teilen Neuguineas leben. Doch ihre Kinder, von denen sich zwei – Döblers Eltern – nach dem Zweiten Weltkrieg verloben werden, eint die Sehnsucht nach dem inzwischen verlorenen Paradies.

Man kann sich heute kaum vorstellen, wie es ist, die Heimat zu verlassen, um in einem Land zu leben, das man nur von ein paar Reiseberichten und Schwarzweißfotografien kennt. Und dann geht es noch nicht mal „nur“ um das Leben in der Fremde, sondern sie soll auch noch nach deutschen Vorstellungen bewirtschaftet und gestaltet werden, die indigenen Völker erzogen und missioniert. Die vier Franken glauben an ihren Auftrag, gehen mit der Herausforderung jedoch so unterschiedlich um wie mit dem später aufkeimenden Nationalsozialismus.

Döblers Roman tastet sich behutsam an die fiktionalisierten Schicksale ihrer Großeltern heran. Immer wieder werden alte Fotos und ihre Erinnerungen an Gespräche mit Familienangehörigen beschrieben. Doch am Lebendigsten lesen sich die Geschehnisse in Neuguinea. Was Kolonialismus bedeutet, wie Mission funktioniert – oder eben auch nicht: Döbler macht diese Themen nahbar. „Dein ist das Reich“ ist keine leichte oder bequeme Kost, der koloniale Rassismus und die Verkennung der politischen Entwicklung schmerzen ab und zu richtiggehend. Die unterschiedlichen Haltungen von Linette, Johann, Marie und Heiner regen außerdem zum Nachdenken an: Welche Irrungen sind im historischen Kontext nachvollziehbar – und welche nicht? Was macht Macht mit Menschen? Eine spannende Ergänzung wäre die Sicht der Papua auf die beschriebenen Missionsabgesandten, doch diese hätte den Roman sicher gesprengt. „Dein ist das Reich“ zerrt ein Stück eher unbekannter deutscher Kolonialgeschichte ans Licht, gewährt einen vielschichtigen Zugang dazu und trägt dazu bei, es vor dem Vergessen zu bewahren.

Verlag: Claassen
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 3. Mai 2021
ISBN: 978-3546100090
Preis: 24,00 € (E-Book: 21,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

31. Mai 2021

Agatha Christie: Mord im Spiegel

Pageturner mit kleinen Schwächen.

Agatha Christie führt mich meistens sehr erfolgreich hinters Licht. Hier hatte ich allerdings schon früh einen Verdacht, weil ich mir ein mögliches Tatmotiv vorstellen konnte, das sich am Ende des Whodunits dann tatsächlich bestätigte. „Mord im Spiegel“ hat mich aber dennoch bestens unterhalten.


Miss Marple ermittelt – allerdings die meiste Zeit aus ihrem eigenen Wohnzimmer heraus. Die alte Dame hat durch eine schwere Bronchitis einiges von ihrer Rüstigkeit eingebüßt. Ihr besorgter Neffe hat sogar eine Pflegekraft bei ihr einquartiert, die ihr mächtig auf die Nerven geht. Über die Geschehnisse in ihrem Wohnort St. Mary Mead ist sie aber nach wie vor gut informiert, denn unter anderem ihre Freundin Mrs. Bantry versorgt sie mit den neuesten Entwicklungen. Deren altes Haus, Gossington Hall (in dem viele Jahre zuvor „Die Tote in der Bibliothek“ ermordet vor dem Kamin lag, nachzulesen im gleichnamigen Krimi), wurde an eine berühmte amerikanische Filmschauspielerin namens Marina Gregg verkauft – ein Umstand, dem Mrs. Bantry die Einladung zur Einweihungsfeier verdankt. Die Party findet jedoch ein jähes Ende, als einer der Gäste stirbt. Das Opfer, Mrs. Badcock, hat einen vergifteten Cocktail getrunken. Doch wer könnte ein Interesse daran gehabt haben, die Sekretärin eines Wohltätigkeitsvereins zu ermorden – und das vor aller Augen?

„Mord im Spiegel“ ist der achte von insgesamt zwölf Miss-Marple-Krimis. Er wurde 1962 veröffentlicht, 32 Jahre, nachdem der erste Fall der Hobbydetektivin erschien – kein Wunder, dass sie inzwischen in die Jahre gekommen ist! Dass Mrs. Marple ihre Informationen nur aus zweiter Hand erhält, stört weniger, als ich zu Beginn befürchtete. Ihr Hadern mit Alter und Gebrechlichkeit ist nachvollziehbar geschildert und gibt der Geschichte noch eine neue Facette. Weniger gelungen fand ich, dass die Auflösung am Ende relativ rasch abgehandelt wurde und nicht alle offenen Fragen beantwortete – das ist normalerweise nicht Agatha Christies Stil. Die ein oder andere Verwicklung wäre vielleicht auch nicht nötig gewesen. Einige von Christies anderen Cosy Crimes sind noch raffinierter konzipiert, doch ich habe auch diesen Krimi fast in einem Rutsch verschlungen und gespannt mitgerätselt. Solide Unterhaltung von der Queen of Crime!

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Mord im Spiegel“ gelesen; aktuell im Handel ist diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 4. September 2015; „Mord im Spiegel“ erschien jedoch bereits 1964 erstmals auf Deutsch (und 1962 auf Englisch).
ISBN: 978-3455650587
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

25. Mai 2021

Claudia Durastanti: Die Fremde

Kaum greifbar.

Lange ist es her, dass ich mich das letzte Mal so schwer mit einem Roman getan habe. Claudia Durastanti verarbeitet ihre Lebensgeschichte als Tochter gehörloser Eltern autofiktional; sie mischt also autobiographische Elemente mit frei erdichteten. Im Klappentext wird versprochen, dass „[d]ieser Roman […] einen keine Zeile lang unberührt [lässt]“, aber auf mich trifft leider das Gegenteil zu: „Die Fremde“ hat mich gänzlich kalt gelassen.


Anfangs nahm ich noch an, dass der Roman chronologisch erzählt werden würde, denn auf den ersten Seiten geht es um das Kennenlernen der Eltern, die Großeltern und die Familiengeschichte an sich. Und tatsächlich ist die Ich-Erzählerin am Ende des Buches erwachsen und beschreibt ihre eigene Beziehung. Der Weg dorthin streift ihre Kindheit, die Umzüge, ihre Reisen und den ersten Job. Das geschieht aber immer nur flüchtig, ohne dass irgendwelche Verbindungen geschaffen werden. Stattdessen werden Erinnerungsfragmente sprachgewaltig beschrieben. Die verwendeten Vergleiche und Metaphern habe ich manchmal als schief empfunden, wenn z.B. der Asphalt „regenschleimig“ ist oder ein „lebloses“ Mädchen sein E-Bike in Gang zu bringen versucht. Das kann aber natürlich auch der Übersetzung geschuldet sein.

„Die Fremde“ hangelt sich relativ assoziativ von einer Begebenheit zur nächsten und verliert sich dabei in Reflexionen. Es gibt keinen größeren Zusammenhang, der beim Lesen Halt bietet, und so ist der Roman an mir vorbeigezogen, ohne Spuren oder Eindruck zu hinterlassen. Zum Kern des Ganzen bin ich nicht vorgedrungen. Die zwischenmenschlichen Beziehungen, die mich durchaus interessiert hätten, waren kaum greifbar. Die Erzählerin berichtet mit großer Distanz, und so habe ich mich wie eine ferne Betrachterin gefühlt, die mal hier und da einen kleinen Einblick in ein Leben erhält, mit den bedeutungsschwangeren Eindrücken aber nichts anzufangen weiß. Die Fremde“ ist mir tatsächlich fremd geblieben.

Verlag: Zsolnay
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 15. Februar 2021
ISBN: 978-3552072008
Preis: 24,00 € (E-Book: 17,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

11. Mai 2021

Matt Haig: Die Mitternachtsbibliothek

What if ...

Vermutlich fragt sich jede und jeder mal, was gewesen wäre, wenn man irgendeine Abzweigung im Leben anders genommen hätte. Wäre man glücklicher und erfolgreicher geworden – oder wäre alles furchtbar schiefgelaufen? Der britische Autor Matt Haig spielt diesen Gedanken in seinem neuesten Buch durch, was mich so gefesselt hat, dass ich es innerhalb eines Wochenendes ausgelesen habe. Ein faszinierender Roman!


„Die Mitternachtsbibliothek“ beginnt damit, dass Nora Seeds Leben in Trümmern zu liegen scheint. Sie hat’s vermasselt – und nicht erst seit gestern. Schon als Teenager hat sie trotz vielversprechender Erfolge den Profisport aufgegeben. Die Band ihres Bruders hatte bereits einen Plattenvertrag in Aussicht, doch dann ist sie als Sängerin abgesprungen. Ihrem Ex-Verlobten hat sie das Herz gebrochen, zudem wird sie arbeitslos und dann stirbt auch noch ihre Katze. Nora Seed will nicht mehr leben – und lässt diesem Wunsch Taten folgen.

Allerdings landet sie nicht im ersehnten, sanften Vergessen, sondern in einer Art Pausenraum zwischen Leben und Tod – der titelgebenden Mitternachtsbibliothek. Dort bekommt Nora die Chance, die Dinge rückwirkend zu ändern. Sie kann längst getroffene Entscheidungen umkehren und in das daraus resultierende Leben schlüpfen. Was nicht bedeutet, dass sie in die Vergangenheit reist – Nora bleibt ihr 35-jähriges Ich und muss sich in jeweils dem Leben zurechtfinden, das sich aus einer anders getroffenen Entscheidung ergeben hat. Gelingt ihr das nicht bzw. entspricht es nicht ihren Vorstellungen, gelangt sie zurück in die Mitternachtsbibliothek und das Spiel beginnt von Neuem.

„Die Mitternachtsbibliothek“ liest sich kurzweilig, ist aber weit mehr als gute Unterhaltung. Ganz nebenbei beschäftigt sich der Roman mit existentiellen Fragen: Was definiert eigentlich ein „gelungenes“ Leben? Wie viel Einfluss darauf haben wir? Und was ist Glück?
Mit Nora hat Matt Haig außerdem eine Protagonistin geschaffen, in die man sich bestens einfühlen kann. Dem Autor gelingt es, Emotionen in ihrer ganzen Tiefe auszuloten. Haig hat eigene Erfahrungen mit Depressionen und Angstzuständen gemacht und auch darüber bereits geschrieben. Er schafft es, auch Außenstehenden den Hauch einer Ahnung von den Abgründen zu vermitteln, in die ein depressiver Mensch blickt. Seine Schilderungen wirken stimmig und einfühlsam; der Roman pendelt spielend zwischen Schwere und Leichtigkeit und feiert gleichzeitig das Leben in all seinen Facetten. Mir hat er unheimlich gut gefallen.

Verlag: Droemer
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 1. Februar 2021
ISBN: 978-3426282564
Preis: 20,00 € (E-Book: 17,99 €)

5. Mai 2021

Angelika Jodl: Laudatio auf eine kaukasische Kuh

Zwischen Männern und Kulturen.

„Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ – das klingt nach einem Hohelied auf die Viehhaltung. Die Kuh spielt allerdings nur eine kleine Nebenrolle in diesem Roman. Hauptfigur ist die angehende Ärztin Olga Evgenidou, die in Bonn kurz vor dem letzten Staatsexamen steht und mit ihrem Medizinerfreund Felix van Saan glücklich zu sein scheint. Einziger Wermutstropfen: Irgendwann muss sie ihm ihre in München lebende Familie vorstellen und blickt diesem Culture Clash mit Grauen entgegen. Denn auch wenn sie schon viele Jahre in Deutschland leben, sind Olgas Eltern und Großmutter noch sehr in der griechisch-georgischen Kultur verwurzelt. Außerdem versucht ihre Mutter, Olga zu verheiraten, seit diese 15 Jahre alt ist. Natürlich weiß die Familie nichts von Felix – und natürlich hat sie sehr konkrete, eigene Vorstellungen vom zukünftigen Schwiegersohn …


Der Spagat zwischen ihrem unabhängigen Leben und ihrer Familie verlangt Olga einiges ab und liest sich dabei oft amüsant. Doch plötzlich steht sie nicht nur zwischen zwei Kulturen, sondern auch zwei Männern. Und ab da konnte ich ihre Gefühlslagen nicht mehr so recht nachvollziehen; Felix‘ Rivale Jack Jennerwein ist nämlich zunächst vor allem eins: aufdringlich. Die Annäherungsversuche des rastlosen Lebenskünstlers gehen schon in Richtung Stalking.

Auch mit einigen familiären Beziehungen tat ich mich schwer; Olgas Mutter ist zum Beispiel eine manipulative Drama-Queen, der die Gefühle der eigenen Tochter herzlich egal sind. Die nahbareren Charaktere bleiben eher blass. Und so konnte ich auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht so richtig mitfühlen und mitfiebern; vermutlich fand ich die Entwicklungen deswegen auch etwas langatmig erzählt. Am Ende überschlagen sich die Ereignisse dann; die schnelle Abhandlung der letzten Kapitel wurde der Geschichte und den Protagonisten in meinen Augen allerdings auch nicht gerecht.
Etwas aufgefangen hat das der Georgien-Teil, denn im Laufe der Geschichte verschlägt es den Großteil der Protagonisten in das Herkunftsland von Olgas Eltern. Im Gegensatz zur Autorin war ich noch nie dort, aber die „Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ macht große Lust, das zu ändern: Georgien wird als facettenreiches und gastfreundliches Land bunt und liebevoll geschildert. Der Roman vermittelt einen lebhaften ersten Eindruck von Sitten und Gebräuchen, Essen und Wein – letzterer wird mehrmals so anschaulich beschrieben, dass ich mir zur Lektüre gerne selbst ein Gläschen eingeschenkt hätte. Und so ist mein Interesse an der kaukasischen Kuh bzw. Georgien an sich doch etwas größer geblieben als das an Olgas Beziehungsleben.

Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 30. April 2021
ISBN: 978-3847900689
Preis: 18,00 € (E-Book: 9,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.