17. Oktober 2020

Amity Gaige: Unter uns das Meer

Psychogramm einer Ehe.

„Niemand hätte jemals den Ozean überquert, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, bei Sturm das Schiff zu verlassen.“ – dieses Zitat des Erfinders Charles F. Kettering würde die Hauptfigur dieses Buches sicher unterschreiben. Juliet und ihre Familie segeln im eigenen Boot auf dem Karibischen Meer und haben dabei nicht nur mit Unwettern zu kämpfen.

Davon berichtet „Unter uns das Meer“, der neue Roman der amerikanischen Autorin Amity Gaige. Er ist größtenteils aus zwei Perspektiven erzählt, die durch ein unterschiedliches Schriftbild geschickt voneinander abgegrenzt sind. Die beiden Protagonisten sind ein Ehepaar, das seinen mehrmonatigen Segeltörn mit zwei kleinen Kindern schildert. Der Mann, Michael, ist die treibende Kraft dahinter, seine Frau Juliet hat irgendwann nachgegeben und so steuern sie ihre Familie schließlich in einem Boot über das Karibische Meer. Doch vor Problemen lässt sich nicht davonsegeln, und Probleme haben Michael und Juliet jede Menge – miteinander, mit anderen und mit sich selbst; beide schleppen unverarbeiteten, zum Teil nie ausgesprochenen Ballast mit sich herum. Immer wieder wird außerdem deutlich, dass es Juliet in der Romangegenwart absolut nicht gut geht. Sie sitzt in einem Schrank, während sie ihren Part der Geschichte erzählt. In Michaels Schrank. Michael dagegen schildert seine Gedanken im Logbuch des Schiffes. Die Diskrepanz zwischen den beiden Perspektiven erzeugt eine unterschwellige Spannung, die Sogwirkung entwickelt. Wie das Segelboot der beiden steuert die Geschichte auf etwas zu, aber Autorin Amity Gaige lässt die Lesenden lange im Unklaren darüber, wohin die Reise geht.

Und so navigiert sie mit sicherer Hand zwischen Drama, Abenteuerroman, Familiengeschichte und Psychogramm einer Ehe hin und her. Es geht um den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch um den Umgang mit Ängsten und Traumata. Verschiedenste zwischenmenschliche Untiefen werden nach und nach gnadenlos ausgeleuchtet. Und immer wieder fordert das Meer volle Aufmerksamkeit und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Protagonisten. Ein ungewöhnlicher Roman, bei dem mir sehr lange nicht klar war, worauf er hinausläuft, der mich aber trotzdem (oder gerade deswegen?) gefesselt hat. Intelligent geschrieben und packend erzählt.

Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 30. September 2020
ISBN: 978-3847900511
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

15. Oktober 2020

Marie-Renée Lavoie: Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau

Nicht mein Humor.

Es ist die Woche der Frankfurter Buchmesse, die dieses Jahr größtenteils digital stattfindet. Und damit der ideale Zeitpunkt, das Buch als solches zu feiern, weswegen es mir auch etwas leid tut, dass ich gerade jetzt eines verreiße - und dann auch noch einen Titel vom Eichborn Verlag, den ich ansonsten sehr mag. Aber der Roman ist von einer kanadischen Autorin und passt dadurch bestens zur Buchmesse, bei der ja Kanada Gastland ist. Außerdem habe ich als letztes auch wieder einen sehr guten Eichborn-Roman gelesen, dessen Rezension ich am Samstag teilen werde. Und mit zwei Rezensionen pro Woche ist das dann ja auch schon wieder eine Feier des Buches!


Auf das „Tagebuch einer furchtbar langweiligen Ehefrau“ hatte ich mich sehr gefreut. Das Cover gefiel mir, den ironischen Titel fand ich vielversprechend und die Leseprobe originell. Aber dann ist der Funke leider nicht übergesprungen.
Die Kanadierin Marie-Renée Lavoie erzählt von Diane, die im Alter von 48 Jahren von ihrem Mann verlassen wird, was für sie völlig überraschend kommt. Das Leben verlief doch in so klaren, bequemen Bahnen: Die Kinder sind aus dem Haus und die Silberhochzeit steht an – die der untreue Gatte (ja, natürlich steckt eine andere, weitaus jüngere Frau hinter der Trennung) auch gerne noch feiern möchte, „denn das erwarten alle und sie haben es verdient“. Wie rücksichtsvoll! Jacques bittet seine Noch-Ehefrau, über diesen Vorschlag nachzudenken. Diane tut das auch, legt sich dann ein Facebook-Profil an, schickt Freundschaftsanfragen an alle Menschen, die sich auch nur entfernt kennt und verkündet dann nicht nur ihre Trennung, sondern auch den Silberhochzeitsfeier-Vorschlag ihres Mannes.

Schon diese kurze Passage zeigt, dass Diane offensichtlich nicht ganz so berechenbar und selbstlos ist, wie von ihrem Umfeld angenommen. Aber wer ist sie eigentlich – ohne Jacques? Dieser Roman erzählt vom Versuch einer Frau, ihr Leben neu in die Hand zu nehmen. In Tagebuchform wird die Verarbeitung einer Trennung geschildert und alle sie begleitenden Emotionen: Verzweiflung, Trauer, Trotz, kleine Rachen und Absurditäten inklusive.

Das hätte anrührend und lustig sein können, war es aber leider nicht im erwarteten Maße. Mein Problem: Diane blieb mir irgendwie fremd. Ihre Aktionen fand ich meist leicht übertrieben, nicht wirklich nachvollziehbar und ein gewisses Fremdschäm-Potential hatten sie auch. Außerdem kokettierte sie mir deutlich zu oft damit, dass sie ja ach so langweilig sei. Der Humor dieses Romans war leider einfach nicht meiner.

Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 28. August 2020
ISBN: 978-3847900641
Preis: 18,00 € (E-Book: 13,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

9. Oktober 2020

David Szalay: Turbulenzen

Temporeicher Episodenroman.

Es heißt, dass man über sechs bis sieben Ecken jeden anderen Menschen auf der Welt kennt. In diesem Episodenroman sind es 13 Ecken, die wieder zu der Person führen, bei der die Geschichte ihren Ausgangspunkt genommen hat. Und aus jeder Ecke wird ein kleiner Einblick in ein Leben.


Die „Turbulenzen“ des britischen Autors David Szalay haben es in sich und führen die Lesenden einmal um den Globus. Auf jeder Strecke, an jeder Station wird ein anderer Protagonist begleitet, der mit der Hauptperson des vorigen und der des folgenden Kapitels in mal mehr, mal weniger loser Verbindung steht. Was alle eint: eine gewisse, mindestens temporäre Einsamkeit, wie man sie z.B. erlebt, wenn man alleine eine Flugreise antritt. Außerdem sind alle Figuren entweder bereits in „Turbulenzen“ geraten oder haben diese unmittelbar vor sich. Und so erzählen die mit Flugrouten überschriebenen Kapitel von Scheidewegen und Wendepunkten.

Obwohl man jeden Protagonisten nur ein paar Seiten lang begleitet, vermitteln diese einen lebhaften Eindruck von Charakteren und Lebenssituationen. Die kurzen Kapitel handeln von den Zufällen, die Menschen zusammenführen. Und von Schicksalsschlägen, die das Leben des einen auf den Kopf stellen und die der andere nur am Rande wahrnimmt. Der Taxifahrer oder die Sitznachbarin im Flugzeug sind schnell vergessen und ebenfalls wieder mit ihren eigenen Leben beschäftigt.

Mir hat dieser rasante Roman voller schneller Wechsel sehr gut gefallen. Die Lektüre ist wie ein temporeicherr Ritt um die Welt, eine flüchtige Begegnung folgt auf die nächste, ein Schicksal streift das andere. Sehr abwechslungsreich und doch mit Tiefgang.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 136
Erscheinungsdatum: 17. August 2020
ISBN: 978-3446267657
Preis: 19,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

1. Oktober 2020

Ronya Othmann: Die Sommer

Starkes Debüt, aufrüttelnd erzählt.

Dieser Roman wurde nicht für den Deutschen Buchpreis 2020 nominiert, aber meinem Empfinden nach hätte er definitiv auf die Longlist gehört. Ich habe lange nichts mehr so eindringlich Geschriebenes gelesen.


Die titelgebenden Sommer in Ronya Othmanns Romandebüt sind die Ferien, die Leyla Jahr für Jahr bei ihren Großeltern verbringt. So weit, so normal; allerdings wohnen die Großeltern nicht an Nord- oder Bodensee, sondern in Kurdistan – einem Land, das es offiziell gar nicht gibt und dessen Namen Leyla auf keinen Fall vor Dritten erwähnen soll. Das jedenfalls schärft ihr kurdischer Vater seiner Tochter von Kindesbeinen an ein. Und so lebt Leyla von klein auf mit einer Schere im Kopf: Hier ihr deutsches Leben in der Nähe von München, da ihre kurdischen Sommer bei den Großeltern in Nordsyrien. Hier Wohlstand, da einfachste Verhältnisse. Hier nur die Eltern, da eine Großfamilie. Hier das Leben eines Durchschnittsteenagers, da Angehörige einer stets bedrohten Minderheit als Jesidin.

Leyla liebt ihre Sommer und Ronya Othmann gelingt es, sie für die Lesenden erfahrbar zu machen – immer wieder geht es um Licht, Gerüche, Haptik. Im Buch scheitert die Protagonistin dagegen daran, ihren deutschen Klassenkameraden und Freundinnen dieses andere Leben nahezubringen. Es rührt an, wie Leyla, die Außenseiterin mit der deutschen Mutter, im Laufe eines Sommers mehr und mehr im nordsyrischen Dorf ankommt, um dann durch ihre Abreise wieder in eine andere Welt katapultiert zu werden und im Jahr darauf erneut von vorne anzufangen.

„Die Sommer“ ist ein wichtiges Buch – über Verfolgung, Flucht und Heimatlosigkeit, ein Leben als Außenseiterin und Fremdheit im eigenen Land. Gleichzeitig ist die Grundstimmung von einer unbestimmten Sehnsucht nach Menschlichkeit, Zugehörigkeit und Frieden geprägt. Wie nebenbei erzählt Ronya Othmann die Geschichte der Jesiden; von Vertreibung, Flucht, Schikane, staatlicher Willkür und ständiger Benachteiligung. Sie erzählt sie durch Leylas Vater, der seine gesamte Freizeit vor dem Fernseher verbringt und sämtliche arabische Nachrichtensendungen verfolgt, die er finden kann. Der davon träumt, dass verschiedene Ethnien und Religionen gleichberechtigt in einer Demokratie zusammenleben – und dessen Hoffnungen mit Ausbruch des Krieges in Syrien wieder einmal zerstört werden. Ab da verbringt Leyla, inzwischen fast erwachsen, ihre Sommer in Deutschland und entfremdet sich trotzdem mehr und mehr von ihrer Umgebung. Ihre Zerrissen- und Verlorenheit sowie ihre Ohnmacht werden dabei immer erdrückender. Blass bleibt dagegen Leylas Mutter, die allerdings auch nur eine Nebenfigur ist: eine pragmatische Krankenschwester, die ihren Ehemann und dessen kurdische Verwandtschaft bedingungslos unterstützt und offensichtlich keinerlei Verwandte oder Freunde hat, mit denen sie ihre Tochter auch in Deutschland etwas verwurzeln könnte. Das fand ich etwas unstimmig, aber es war auch das einzige.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 17. August 2020
ISBN: 978-3446267602
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

26. September 2020

Charles Lewinsky: Der Halbbart

Kluger Roman über eine erbarmungslose Zeit.

Das ist der zweite Longlist-Roman, den ich bislang gelesen habe. Auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises ist er leider nicht gelandet, dafür jedoch auf der des Schweizer Buchpreises, der am 8. November verliehen wird. Ich drücke ihm die Daumen!

 
 
„Der Halbbart“ von Charles Lewinsky beginnt im Jahr 1313, also im tiefsten Mittelalter. Hauptfigur ist der ca. 12- oder 13-jährige Eusebius, der von allen Sebi genannt wird (oder Stündelerzwerg – einer von vielen schwyzerdütschen Begriffen im Buch, zum Glück gibt es auf der Website von Diogenes ein Glossar der Helvetismen). Der junge Ich-Erzähler lebt mit seiner Mutter und den beiden älteren Brüdern in einem kleinen Dorf. Es gibt ein Stückchen Land, das die Brüder bestellen; Sebi verdient außerdem Geld, indem er dem betagten Totengräber des Ortes hilft, Gräber auszuheben. Außerdem schaut er gerne bei dem Fremden vorbei, der sich in Nähe des Dorfes angesiedelt hat. Dieser wird von allen „Halbbart“ genannt, da sein Bart nur noch auf einer Gesichtshälfte sprießt – die andere ist durch Brandnarben komplett entstellt. Der Halbbart ist ein intelligenter Mann und kennt sich außerdem mit Medizin aus. Als Sebis ältester Bruder Geni einen schrecklichen Unfall hat und die Rosskur der örtlichen Heiler den Sterbeprozess nur zu beschleunigen scheint, wird er schließlich gerufen.

Das könnte jetzt schon die Zusammenfassung eines Romans gewesen sein, in diesem Fall ist es allerdings nur ein kurzer Ausblick auf die ersten 50 Seiten – von 677. Die Handlung des „Halbbarts“ erstreckt sich über vielleicht zwei, drei Jahre. Sie ist Sebis Coming-of-Age-Geschichte und beschreibt seine Suche nach dem eigenen Weg. Sie handelt aber auch vom historisch verbürgten Marchenstreit zwischen dem Kloster Einsiedeln und Schwyz, von der Macht der Kirche, der Macht des Aberglaubens und der Verführung der Massen. Dabei gibt es immer wieder Passagen, die verdeutlichen, dass das Mittelalter in mancher Beziehung nur einen Wimpernschlag von uns entfernt ist: Wenn z.B. jemand im Dorf erscheint, der von einem schrecklichen Überfall erzählt mit vielen, vielen Toten und die Geschichte zwar seltsame Lücken aufweist, sich aber trotzdem wie selbstständig verbreitet. Fake News im 14. Jahrhundert – und ihre Auswirkungen waren genauso bedrohlich wie heute.
Um den titelgebenden Halbbart geht es dagegen nur in Teilen des Buches; in der zweiten Romanhälfte verkommt er zur Randfigur, deren Denken, Handeln, Streben mehr und mehr im Dunkeln bleiben. Und so hätte Lewinsky sein Buch vielleicht doch besser „Eusebius“ genannt.

Sebi bewahrt sich bei aller Gräuel ein reines Herz und war so immer wieder mein Rettungsanker während der Lektüre – aus seiner Perspektive ließen sich auch die düstersten Kapitel irgendwie bewältigen, ob es nun um Amputationen, Bestrafungen oder Schlachten ging. Mit seinem etwas naiven, aber freundlichen Blick beobachtet Sebi Menschen, durchdenkt Ereignisse und teilt seine Gedanken dann mit dem Leser. Dabei ist er ein begnadeter Geschichtenerzähler. Und so hat Lewinsky einen einerseits anrührenden und weisen Roman geschaffen, der andererseits brutal ist und mit den Menschen an sich hart ins Gericht geht. Etwas desillusioniert hat er mich schon zurückgelassen, war die lange Lektüre aber allemal wert.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 688
Erscheinungsdatum: 26. August 2020
ISBN: 978-3257071368
Preis: 26,00 € (E-Book: 22,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

20. September 2020

Manfred Lütz: Neue Irre! Wir behandeln die Falschen

Kurzweilig, pointiert und verständlich.

Sachbücher lese ich sehr selten – mein Blog heißt nicht umsonst „Romanregal“. Dieses hier hat mich aber gleich angesprochen, vermutlich durch den Teaser auf der Rückseite: „Donald Trump in den USA, Kim Jong-un in Nordkorea, Jair Bolsonaro in Brasilien, weltweit scheint der Irrsinn zuzunehmen.“ Wie könnte man dieser Zusammenfassung nicht zustimmen? Eine Expertenmeinung dazu kennenzulernen, erschien mir auf jeden Fall verlockend.

Manfred Lütz‘ „Neue Irre! Wir behandeln die Falschen“ ist die Neuauflage eines 10 Jahre alten Bestsellers, den der Autor aktualisiert hat – vor allem in „Vorwort“, „Vorspiel“ und „Einführung“, die sich sehr launig-flapsig lesen, bevor es richtig losgeht. Für meinen Geschmack ist der Einstieg fast zu klamaukig, aber das gibt sich, sobald Psychiater und Psychotherapeut Lütz in seinem Fachgebiet angekommen ist. Die Psyche der auf dem Umschlagrücken genannten Personen (Donald Trump, Kim Jong-un und Jair Bolsonaro) wird übrigens nur auf wenigen Seiten sehr kurz und knapp beleuchtet, aber Lütz schreibt im Folgenden so kurzweilig, pointiert und verständlich, dass ich die genannten Herren kein bisschen vermisst habe.
Bevor man zur auf dem Cover angekündigten „heiteren Seelenkunde“ kommt, geht es u.a. um verschiedene Therapieformen. Das hätte sehr theoretisch werden können, aber Lütz schafft es, sie dem Laien unterhaltsam nahezubringen. Seine Ausführungen reichert er oft mit Anekdoten an und so ist auch die spätere Darstellung sehr belastender Krankheitsbilder – wie Demenz, Sucht, Schizophrenie und Depression – flüssig und nachvollziehbar geschrieben. Ich habe vorher noch nie ein populärwissenschaftliches Sachbuch über die menschliche Psyche gelesen und fühlte mich hier bestens erstinformiert. Die zwei größten Stärken dieses intelligenten Buches sind, dass Lütz zum einen einfach gut schreiben kann – und seine Patienten zum anderen mit viel Herz und Sympathie betrachtet. Und so führt er den Lesenden immer wieder vor Augen, dass man vor „Irren“ keine Scheu haben muss; dass auch die eigene Psyche eines Tages mal Hilfe brauchen kann und dass das nicht das Ende der Welt bedeutet. Lütz nimmt psychischen Krankheiten damit Stigmatisierung und Schrecken – und macht außerdem deutlich, dass man sich vor den sogenannten Normalen mindestens genauso in Acht nehmen muss. Da fühlt man sich fast geschmeichelt, wenn der Autor am Ende des Buches tröstend schreibt, dass Leser von „Neue Irre!“ vermutlich auch nicht ganz normal sind.

Verlag: Kösel-Verlag
Seitenzahl: 208
Erscheinungsdatum: 24. August 2020
ISBN: 978-3466372683
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

13. September 2020

Lauren Wilkinson: American Spy

Wenn die Vergangenheit Dich einholt. 

Als “a whole lot more than just a spy thriller” hat Barack Obama dieses Buch beschrieben, das er außerdem auf seiner „Summer Reading List“ 2019 genannt hat. Diese prominente Empfehlung, das toll gestaltete Cover und nicht zuletzt natürlich der Klappentext haben mich neugierig gemacht.

Lauren Wilkinsons Debüt „American Spy“ beginnt mit einer Actionszene: Wir schreiben das Jahr 1992 und die alleinerziehende Marie Mitchell wird in ihrer Wohnung in Conneticut von einem Mann überfallen, den sie überwältigen und töten kann. Denn Mitchell ist kein leichtes Opfer, sondern eine frühere FBI-Agentin. Mit ihren beiden Söhnen und gefälschten Pässen flieht sie zu ihrer Mutter nach Martinique. Dort schreibt sie nach und nach ihre Lebensgeschichte auf und versucht gleichzeitig, Vorkehrungen für ihre Zukunft zu treffen, denn sie muss fürchten, dass dies nicht der letzte Anschlag auf ihr Leben war.

Wilkinsons Protagonistin ist keine strahlende Heldin, kein Bond-Girl mit der Lizenz zum Töten in einer „Mission Impossible“. 1955 geboren, hat sie eine durchwachsene Kindheit, die mit einem furchtbaren Verlust endet. Als Beste ihres Abschlussjahrgangs ergattert sie einen Job beim FBI, muss aber bald feststellen, dass Erfolg und Anerkennung weißen Männern vorbehalten sind. 1987 scheint ein Spezialauftrag ihre Chance zu sein, sich zu beweisen. Doch selbst in den davon handelnden Kapiteln ist Wilkinson weit davon entfernt, das Leben einer Spionin zu glorifizieren oder auch nur als besonders aufregend dazustellen: Wilde Verfolgungsjagden sind selten, Wartezeiten und Botengänge deutlich häufiger.

„American Spy“ handelt dann auch gar nicht hauptsächlich von Auftragskillern und Attentaten, sondern davon, in den 60er und 70er Jahren in Queens aufzuwachsen. Von der Bedrohung des Kalten Krieges, die Kindern schon in der Schule eingeimpft wurde. Davon, was es hieß, in den 1980er Jahren gleich doppelte Außenseiterin beim FBI zu sein: als Frau und als Schwarze. Und davon, wie ein westafrikanisches Land zum Spielball der Weltmächte wird – und eine Agentin zum Spielball ihrer Auftraggeber.

Im besten Fall eröffnen Bücher einem neue Welten und dieses ist so eines. Wer einen hochspannenden Spionagethriller erwartet, wird von „American Spy“ vielleicht sogar enttäuscht sein. Mich hat dieses Buch allerdings nachhaltig beeindruckt.

Verlag: Tropen
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 25. Juli 2020
ISBN: 978-3608504644
Preis: 16,00 € (E-Book: 12,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

5. September 2020

Robert Seethaler: Der letzte Satz

Im Gedankenkarussell gefangen.

Dieser Roman steht auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020. Über den Autor hatte ich bereits viel Gutes gehört und wollte schon längst mal eines seiner Bücher lesen. Und so habe ich mich riesig gefreut, dass ich über Lovelybooks sogar ein Rezensionsexemplar bekommen habe.
 


Robert Seethaler nimmt die Lesenden in „Der letzte Satz“ mit an Bord eines Passagierschiffes. Der berühmte Komponist Gustav Mahler und seine Familie reisen mit der „Amerika“ von New York nach Europa, doch weder seine Frau Alma noch die gemeinsame Tochter Anna treten in Erscheinung, während Mahler an Deck sitzt und dort seinen Gedanken nachhängt. Sein einziger Besucher ist ein Schiffsjunge, der dafür sorgen soll, dass es dem Herrn Direktor an nichts fehlt. Doch Mahler fehlt es an vielem: Sein Körper lässt ihn mehr und mehr im Stich, er ahnt den nahenden Tod und quält sich mit dem Gedanken an all die unvollendete Musik, die er noch erschaffen wollte. Auch seine Frau fehlt ihm – die Mahlers stecken in einer tiefen Ehekrise. Er vermisst seine ältere, verstorbene Tochter. Der Kranke lässt einschneidende Erlebnisse seines Lebens Revue passieren, während er Himmel und Wellen beobachtet und wartet – auf die Ankunft des Schiffes oder das Ende seines Lebens? Vermutlich auf beides.

„Der letzte Satz“ liest sich fast wie ein einziger „stream of consciousness“; er besteht aus Mahlers unzusammenhängend treibenden Gedanken. Und so ist man dem Genie zwar sehr nahe, muss das Sortieren und Zuordnen der Eindrücke und Anekdoten aber komplett selbst übernehmen. Wenn man sich schon mal mit Mahlers Biografie beschäftigt hat, hilft das sicher.

Sprachlich ist der Roman elegant: Mahlers Empfinden und seine Detailbeobachtungen werden in poetische Sätze gepackt. Wehmut und Fatalismus durchziehen die Kapitel, ab und zu kommt eine gewisse Bittersüße dazu. Das Buch bietet einen Einblick in das Seelenleben des Komponisten, wie es gewesen sein könnte. Gepackt hat mich das Ganze jedoch nicht. Während der Lektüre ist man nicht im Geschehen, sondern hängt im Gedankenkarussell der Hauptfigur fest. Dieses streift viele Themen, geht aber selten in die Tiefe – eine logische Konsequenz des gewählten Erzählstils. Es führte jedoch dazu, dass ich beim Lesen seltsam unbeteiligt blieb. Das Buch hat mich einfach kaltgelassen.

Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 128
Erscheinungsdatum: 3. August 2020
ISBN: 978-3446267886
Preis: 19,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

30. August 2020

Linda Holmes: Weil alles jetzt beginnt

Aufstehen, Krönchen richten, weitergehen.

Blumiges Cover, nichtssagender Titel – und doch steckt in diesem Buch weitaus mehr als ein durchschnittlicher Frauen-/Unterhaltungsroman. Dabei scheinen die Rollen klassisch-klar verteilt: Bei Evvie, Anfang 30 und seit einigen Monaten verwitwet, zieht Baseballprofi Dean als Untermieter ein. Schon ahnt man, was kommen wird – aber so einfach ist es ganz und gar nicht. Dean ist regelrecht aus New York geflohen, da er aufgrund von plötzlich aufgetretenen, unkontrollierten Muskelzuckungen keinen Korb mehr trifft. Und Evvie, die ihre Jugendliebe geheiratet und ihr ganzes Leben in Maine verbracht hat, hütet ein Geheimnis, an dem sie fast zugrunde geht.



Und so ist Linda Holmes Roman „Weil alles jetzt beginnt“ längst nicht nur eine Liebesgeschichte. Hier gibt's die unterschiedlichsten Emotionen; Humor und Tiefgang blitzen immer wieder an unerwarteter Stelle hervor. Die Handlung umfasst ein Jahr, aufgeteilt auf die vier Jahreszeiten, die auch die Blätter und Blumen auf dem Cover aufgreifen. Auf den ersten Blick wirkt die Gliederung dadurch sehr klar, doch Holmes hat ein ganz eigenes Erzähltempo. Stellenweise plätschert die Geschichte irritierend langsam dahin, erzählte Anekdoten kommen ohne größeren Zusammenhang aus und grundlegende Themen werden lange, sehr lange außer Acht gelassen. Aber auch im wahren Leben baut ja nicht alles gleichmäßig aufeinander auf und gerade die gelegentliche Lethargie von Hauptfigur Evvie macht sie sehr menschlich. Mich hat positiv überrascht, wie rund die Geschichte am Ende doch noch wurde; das tröstete mich im Nachhinein über gelegentliche Längen und Auslassungen hinweg. Und endlich wurde auch klar, worum es ging: nicht um „happily ever after“, sondern um Neustarts – gleich mehrere. Darum, dass das Leben weitergeht, aber auch immer mal wieder einen kleinen Schubs vertragen kann. „Weil alles jetzt beginnt“ – auch, wenn der Weg dorthin steinig ist.

Verlag: Lübbe
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 28. August 2020
ISBN: 978-3785727102
Preis: 14,90 € (E-Book: 11,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

25. August 2020

Sebastian Lehmann: „Mit deinem Bruder hatten wir ja Glück“

Woanders ist es auch nicht anders.

Ich bin ein großer Fan öffentlicher Bücherschränke, wobei mein heimischer SUB (= Stapel ungelesener Bücher) meist so hoch ist, dass ich mir die Mitnahme neuen Lesestoffes zu verkneifen versuche. Manchmal kann ich aber nicht widerstehen – und entdecke Bücher, auf die ich von alleine vielleicht nie gekommen wäre. Von diesem Autor hatte ich zum Beispiel noch gar nichts gehört.

 
Sebastian Lehmanns Kolumnensammlung „Mit deinem Bruder hatten wir ja Glück“ handelt von vielen kurzen Elterntelefonaten, wie sie sich überall in Deutschland abspielen könnten: Das erwachsene Kind in der fernen Großstadt wird von seinen Eltern angerufen und schon prallen die unterschiedlichen Lebenswelten aufeinander, brechen Generationenkonflikte auf oder es wird einfach mal wieder über Lieblingsthemen debattiert. In Sebastians Fall z.B. über seine Erfolglosigkeit als Comedian, seinen Vegetarismus, die fehlenden Enkelkinder und besagten Bruder. Doch auch, wenn Eltern und Sohn nicht müde werden, sich über mangelnde Ähnlichkeiten zu wundern: In Sachen Schlagfertigkeit schenken sie sich nichts. Ist doch schön, wenn man sich nach all den Jahren noch gegenseitig überraschen kann!

Ich habe mich beim Lesen sehr amüsiert. Die kurzen, pointierten Telefon-Häppchen eignen sich prima als Zwischendurch-Lektüre, und je mehr Geschichten man liest, desto mehr Evergreens lassen sich in der Eltern-Sohn-Beziehung ausmachen. Und mal ehrlich: So überspitzt das Ganze auch ist, wird doch vielen Thirtysomethings die ein oder andere Elterntelefonate-Passage leicht bekannt vorkommen – ob es nun um IT-Probleme, das Wetter oder die Weihnachtsplanung geht. Oder um den siebten Sinn, mit den einen die eigenen Eltern doch manchmal ganz unverhofft in Erstaunen versetzen. Mir hat das Buch gute Laune gemacht – genau wie die Entdeckung, dass sich viele der Telefonate auch als Podcast nachhören lassen: https://www.sebastianlehmann.net/podcast

Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 15. Oktober 2018
ISBN: 978-3442159628
Preis: 9,00 € (E-Book: 8,99 €)

16. August 2020

Kristof Magnusson: Ein Mann der Kunst

Künstlerisch wertvoll.

Vor Jahren habe ich schon einmal einen Roman von Kristof Magnusson gelesen. "Das war ich nicht" hatte mich damals komplett begeistert und so war ich sehr neugierig auf dieses neue Buch. Magnusson verschreibt sich darin voll und ganz der Kunst, mit dem ihm eigenen leisen Humor und einigen ironischen Untertönen
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In "Ein Mann der Kunst" macht der Förderverein eines Frankfurter Museums eine Kulturreise zu einem zurückgezogen lebenden Maler. Dem Werk des verehrten KD Pratz könnte ein Neubau gewidmet werden – wenn er sich des Vorhabens würdig erweist. Blöd, wenn die Gastgeberqualitäten des Genies sich als überaus eingerostet erweisen. Schon bald ist nicht mehr klar, was Kunst ist, was wegkann und wie das alles weitergehen soll.

Kristof Magnusson erzählt plaudernd-amüsant mit einem ganz besonderen Händchen für die von ihm erschaffenen Figuren. Sie sind nicht nur sehr nahbar, sondern voller liebevoll ausgestalteter Marotten. Bildungsbürger, Neureiche, Pensionäre und Fans – alle sorgen für kurzweilige Dialoge und werden augenzwinkernd karikiert. Wer Kunstliebhaber ist oder kennt, schmunzelt sicher noch etwas mehr als andere. Im überraschenden Finale nimmt der Roman dann richtig Fahrt auf. Eine originelle Lektüre!

Verlag: Verlag Antje Kunstmann
Seitenzahl: 220
Erscheinungsdatum: 12. August 2020
ISBN: 978-3956143823
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.