27. November 2019

Christian Torkler: Der Platz an der Sonne

Harter Perspektivwechsel

Der 1978 geborene Josua wächst vaterlos in einem Entwicklungsland auf. Seine gottesfürchtige Mutter schafft es mit verschiedenen Gelegenheitsjobs gerade so, ihre drei Kinder zu ernähren, aber eine Wohnung mit fließendem Wasser oder eine höhere Schulbildung kann sie ihnen nicht ermöglichen. Nach seiner Schulzeit arbeitet sich Josua vom Straßenverkäufer zum Parkplatzwächter hoch und fährt irgendwann sogar Taxi. Manchmal erscheint ihm das Glück zum Greifen nah, doch das Schicksal schlägt immer wieder zu und in einer hoch korrupten Diktatur und Mangelwirtschaft ist es nahezu unmöglich, etwas auf die Beine zu stellen. Dabei will Josua doch nur raus aus Elend, Schmutz und Hoffnungslosigkeit. Aber kann ihm das in seiner Heimat überhaupt gelingen – oder ist der einzige Ausweg die Migration ins gelobte Land auf der anderen Seite des Mittelmeers?


Soweit, so bekannt, mag der ein oder andere jetzt denken – aber Stopp! Christian Torkler beschreibt in „Der Platz an der Sonne“ nicht die Geschichte eines afrikanischen Flüchtlings, der von Europa träumt. Im Gegenteil: Jousa Brenner wächst in Berlin auf, der Hauptstadt der Neuen Preußischen Republik, die nach drei Weltkriegen immer noch halb in Schutt und Asche liegt, obwohl die reichen afrikanischen Demokratien Entwicklungshilfe leisten und nairobische Partnergemeinden neue Kirchendächer spendieren. Sehnsuchtsziel von Josua und seinen Kumpels ist dann auch Matema im reichen Tanganyika: „Wenn wieder einer weg war, hieß es, der ist in den Süden …“. Doch in seinem leicht schnodderigen Tonfall, der sich durch das gesamte Buch zieht, schildert er auch gleich den Haken an der Sache: Die reichen schwarzen Bongos wollen keine Armutsflüchtlinge. Aber was hat ein perspektivloses Weißbrot wie er schon zu verlieren?

Torkler betreibt den Perspektivwechsel in „Der Platz an der Sonne“ in einer so detaillierten Konsequenz, dass er mir richtig an die Nieren gegangen ist. Gedanklich nachzuvollziehen, warum ein afrikanischer Flüchtling nach Deutschland kommt, ist das eine – vom Elend im Entwicklungsland Preußen und der Sehnsucht nach Afrika zu lesen, aber etwas völlig anderes. Es braucht kaum noch Fantasie, um sich dieses im Roman sechsgeteilte Deutschland, in dem so einiges schiefgelaufen ist, vorzustellen: den Dreck, die nach drei Kriegen kaum wiederaufgebaute Infrastruktur, Kriegsruinen, schimmelige Wohnungen, scharfe Grenzen und ein komplett korruptes System. Torkler führt seinen Lesern gnadenlos vor Augen, was für ein großer Zufall es ist, in welche Verhältnisse man geboren wird und dass es gar nicht so viele historische Fehlentscheidungen braucht, um ein Land im Chaos versinken zu lassen. Dass die vage Hoffnung auf eine bessere Zukunft reichen kann, um alles hinter sich zu lassen, wird äußerst nachvollziehbar illustriert. Genau wie das Fluchtthema: Hier soll es in umgekehrter Richtung übers Mittelmeer gehen – doch schon der Weg zur Küste ist eine grausame Odyssee, die ihre Opfer fordert.

„Der Platz an der Sonne“ hat mich stellenweise kalt erwischt und ziemlich deprimiert. Torkler schildert schonungslos, wie das Leben in einem gänzlich anderen Deutschland aussehen könnte. Keine Feelgood-Lektüre, sondern ein harter Perspektivwechsel, der sich absolut lohnt. Man kann seine Komfortzone auch lesend verlassen – und weil Torkler einen auf jeder einzelnen Seite dazu zwingt, bereichert dieses Buch mindestens so sehr, wie es verstört.

Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 2. September 2018
ISBN: 978-3608962901
Preis: 25,00 € (E-Book: 19,99 €)

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