Jeder, der „Die Tribute von Panem“ gelesen oder gesehen hat, wird sich an ihn erinnern: Coriolanus Snow, den grausamen Präsidenten des Kapitols. Er ist die Hauptfigur dieses Prequels, das 64 Jahre vor Katniss Everdeens erstem Auftritt in der Arena spielt.
„Die Tribute von Panem“ ohne Katniss und Peeta – geht das? Ich war selbst überrascht, wie sehr mich Suzanne Collins Vorgeschichte „Das Lied von Vogel und Schlange“ gefesselt hat. Dieses Buch handelt von den 10. Hungerspielen und daran, dass der 18-jährige Coriolanus Snow eines Tages Präsident des Kapitols werden könnte, glaubt höchstens seine greise und leicht verwirrte Großmutter. Mit ihr und seiner Cousine Tigris lebt Coriolanus zusammen; seine Eltern, Onkel und Tante sind während des Krieges gestorben. Die drei verbliebenen Snows halten sich so gerade über Wasser, doch Geld fehlt ihnen an allen Ecken und Enden und auch Coriolanus Universitätsstudium werden sie nicht bezahlen können. Seine einzige Hoffnung ist ein Stipendium, auf das er Chancen hat, wenn sich sein Tribut gut schlägt – bei den 10. Hungerspielen von Panem.
Coriolanus ist ein Stratege – sonst bleibt ihm allerdings auch wenig übrig. Er versucht, dem Namen Snow Ehre zu machen, niemanden merken zu lassen, wie schlecht es um die einst erfolgsverwöhnte Familie steht. „Snow landet immer oben“ ist nach wie vor ihr Motto, aber die Sonnenseite des Lebens scheint in weite Ferne gerückt. In der Akademie, wo sein Schulabschluss kurz bevorsteht, ist Coriolanus erfolgreich und beliebt, doch seine Zukunft ist unsicher, und so lastet ein ziemlicher Druck auf dem jungen Mann, der immer drei Schritte vorausdenkt. „Das Lied von Vogel und Schlange“ ist aus seiner Perspektive geschrieben und als Leserin konnte ich gar nicht anders, als Verständnis für ihn aufzubringen – und ihn zu mögen. Das ist spannend, denn Snow ist durchaus eine ambivalente Figur: Auf den eigenen Vorteil bedacht, aber auch mitfühlend. Manipulativ, aber auch verzweifelt.
Sein Gegenpart ist sein eigenes Tribut: Lucy Grey, die zierliche Musikerin aus dem ärmlichen Distrikt 12, der keiner zutraut, auch nur einen Tag in der Arena zu überleben. Doch Lucy Grey ist schlau und zäh – genau wie Coriolanus. Die Begleitung dieses ungleichen, sich aber doch auf Augenhöhe begegnenden Teams macht den Reiz des Romans aus. Überhaupt lebt er von den Gegensätzen: Was ist wichtiger – Macht oder Freiheit? Liebe oder Vertrauen? Freundschaft oder Loyalität? Die Geschichte hat einige verblüffende Wendungen. Und dann sind da noch die Hungerspiele, die man ja aus der Trilogie hinreichend kennt, die aber 64 Jahre vor Katniss und Peeta noch längst nicht so entwickelt waren.
Das Ganze ergibt einen gleich dreifach spannenden Pageturner: Hungerspiele, Lucy Greys ungewisses Schicksal, Coriolanus Kampf gegen den sozialen Abstieg. Dazu das Lied vom „Hanging Tree“, Spott- und Schnattertölpel – und man ist wieder komplett in Panem. Ich kann die Verfilmung fast schon vor mir sehen und freue mich sehr darauf. Collins hat eine Vorgeschichte geschrieben, die ihrem Hauptwerk in jeder Hinsicht ebenbürtig ist. Ich hoffe, das war nicht der letzte Ausflug nach Panem!
Verlag: Oetinger
Seitenzahl: 608
Erscheinungsdatum: 19. Mai 2020
ISBN: 978-3789120022
Preis: 26,00 € (E-Book: 15,99 €)