31. Januar 2018

Homer Hickam: "Albert muss nach Hause"

Zum Monatsende hin habe ich ein weiteres Weihnachtsgeschenk beendet. Meine lesebegeisterte Tante hat es mir geschickt und wie so oft ein gutes Händchen bewiesen. Das Buch hat einen Hauch von Magie in diesen Januar gebracht - ohne dabei in irgendeiner Art und Weise Übersinnliches anzudeuten. Aber schon das Cover zeigt, dass man es hier mit keiner ganz normalen Geschichte zu tun hat ...


„Albert muss nach Hause“ handelt von einem außergewöhnlichen Roadtrip. Elsie und ihr Mann Homer wollen ihren Alligator Albert nach Orlando bringen, wo er vermutlich hergekommen ist – zumindest hat ihn ein von dort stammender Ex-Freund Elsie zur Hochzeit geschenkt. Damals passte Albert noch in eine kleine Pappschachtel, doch inzwischen hat er eine ansehnliche Größe erreicht und es wird Zeit für ihn, das Bergarbeiterstädtchen Coalwood in West-Virginia zu verlassen – findet zumindest Homer. Sorgen bereitet ihm allerdings, dass seine Frau Elsie ihrer Heimat – und eventuell auch ihm – ebenfalls den Rücken kehren will. Homer hofft, dass sich alles regeln lässt, wenn sie Albert erst einmal losgeworden sind. Und so begibt sich das junge Ehepaar auf diese Reise mit ungewissem Ausgang. Ungeplant hat es sogar gleich zwei tierische Begleiter: Neben Alligator Albert kommt auch noch ein so namen- wie herrenloser Hahn mit, dessen Anwesenheit zwar sowohl Romanfiguren als auch Leser vor ein Rätsel stellt, der aber alles in allem eine charmante Figur macht.

Homer Hickam der Jüngere, ein Jahre nach diesem Roadtrip geborener Sohn von Elsie und Homer, ist Autor und Erzähler dieser so skurrilen wie warmherzigen Geschichte. Zwischen den einzelnen Reisestationen schildert er kurz, wie er von seinen Eltern von den jeweiligen Etappen erfuhr; sie wurden ihm im Laufe seines Lebens nach und nach erzählt. Was in diesem Roman tatsächlich der Wahrheit entspricht, wird sein Geheimnis bleiben. Elsie, Homer der Ältere, Albert und die Reise nach Florida scheint es wirklich gegeben zu haben – und die anderen Geschehnisse? „Die haben wir auch alle gemacht,“ sagt Elsie „auch wenn wir sie nicht gemacht haben“. Als Leser kann man kaum anders, als zu hoffen, dass die Erlebnisse von Elsie, Homer und Albert wahr sind – auch wenn sie teilweise ziemlich verrückt erscheinen und mindestens zwei von den drei Hauptfiguren regelmäßig mehr Glück als Verstand haben. Man wünscht sich, dass Elsie in ihrem Leben wirklich die Chance hatte, sich immer wieder neu zu erfinden und dass Homer tatsächlich mit dieser geduldigen Güte gesegnet war, die ihn im Roman auszeichnet. Und Albert? Die eigentliche Hauptfigur des Buches ist der vermutlich sympathischste Alligator, von dem man je gehört hat. Den möchte man am liebsten am Bauch kraulen, bis er grinst, und ihm dabei seine Glückslaute entlocken, die wie „Yeah-yeah-yeah“ klingen.

Die drei mit dem zugelaufenen Hahn auf ihrer Reise zu begleiten, fühlt sich wie ein modernes Märchen an. Ein Märchen in dem Kismet eine große Rolle spielt, in dem „das Alpha und das Omega der amerikanischen Literatur“ in Form von John Steinbeck und Ernest Hemingway Gastauftritte haben und in dem man nicht mal den gefühlt in jedem zweiten Teil vorkommenden Ganoven Slick und Huddie böse sein kann. Ein Märchen, in dem mitunter alles möglich scheint und das wie im Flug vergeht. „Albert muss nach Hause“ ist eine bezaubernde Unterhaltung.

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 528
Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2017
ISBN: 978-3959671262
Preis: 9,99 € (E-Book: 7,99 €)

26. Januar 2018

Horst Evers: "Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex"

Letztes Jahr hatten Horst Evers und ich quasi 10-Jähriges, denn seit 2007 lese ich seine Bücher. Und musste eben feststellen, dass ich inzwischen insgesamt sieben davon im Regal stehen habe – da können nicht viele Autoren mithalten! Von seinen zwei Romanen habe ich allerdings nur einen gelesen, „Der König von Berlin“, der meiner Meinung nach bei Weitem nicht an Evers‘ alltagsbeobachtende Geschichtenbände herankommt. Letztere liebe ich und hatte mir daher sein neuestes Buch „Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex“ zu Weihnachten schenken lassen.


Horst Evers hat einen äußerst witzigen Blick auf alltägliche Begebenheiten – vor allem auf alltägliche Begebenheiten, die ihm passieren. Er ist die Hauptfigur in seinen Geschichten und schont sich dabei nicht im Mindesten. Die Nebenfiguren kehren immer wieder – Lebensgefährtin, Tochter, Nachbar, Onkel, Freunde -, man kennt sich nach einigen Büchern. Doch nicht nur sie tauchen wiederholt auf: Äußerst kunstvoll schafft es Evers immer wieder, einer Randbemerkung fünf Geschichten weiter plötzlich Bedeutung beizumessen. Das ist eins seiner Markenzeichen und über solche Passagen freue ich mich jedes Mal wieder. Genau wie über die unvergleichliche Evers-Perspektive, mit der der Autor über die Welt sinniert: Philosophisch, pragmatisch, mit viel Witz und immer wieder ziemlich überraschenden Erkenntnissen.

Und so steht „Der kategorische Imperativ ist keine Stellung beim Sex“ eigentlich in guter Tradition zu den bisherigen Geschichtenbänden: „Die Welt ist nicht immer Freitag“, „Gefühltes Wissen“, „Mein Leben als Suchmaschine“, „Für Eile fehlt mir die Zeit“ und „Wäre ich Du, würde ich mich lieben“.  Und trotzdem … irgendwas war diesmal anders. Aber was? Voller Vorfreude hatte ich das Buch angefangen zu lesen und erst einmal war alles so, wie es sein sollte. Schon die erste Geschichte ist typisch Horst Evers: Er beschreibt, wie er einkaufen geht und für die Teenager-Tochter ein paar Unterhosen besorgen soll. Von der großen Auswahl überfordert ruft er sie aus dem Laden an und sie bittet ihn um WhatsApp-Fotos, um aus der Ferne eine Entscheidung fällen zu können. Dass ein mittelalter Mann Mädchenunterwäsche fotografiert, ruft allerdings eine Verkäuferin auf den Plan und die Geschehnisse nehmen ihren Lauf, werden mit Erinnerungen an andere schräge Einkaufserlebnisse angereichert, es gibt zwei, drei unerwartete Wendungen und raus kommt eine ziemlich lustige, ziemlich typische Evers-Geschichte.
Aber irgendwie kamen nicht viele Geschichten an sie ran. Einige waren überdreht, dafür mit weniger Witz – man kann sie alle gut lesen, das Buch ist unterhaltsam … aber ich habe in Erinnerung, mich über die Vorgänger deutlich mehr amüsiert zu haben. Sie waren subtiler, mit mehr überraschenden Wendungen, mehr Komik. Nun grüble ich, ob es an Horst Evers oder an mir liegt. Fällt ihm nicht mehr so viel ein – oder finde ich es einfach nicht mehr so komisch wie früher? Ich hoffe fast auf Ersteres und werde demnächst mal wieder in „Für Eile fehlt mir die Zeit“ reinlesen.

Verlag: Rowohlt Berlin
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 20. Januar 2017
ISBN: 978-3871341724
Preis: 16,95 € (E-Book: 14,99 €); die Taschenbuchausgabe soll am 24. April 2018 für 9,99 € erscheinen.

21. Januar 2018

Mareike Krügel: "Sieh mich an"

Bereits im Herbst habe ich "Sieh mich an" gelesen. Das auffällige Romancover mit der im Titel enthaltenen Aufforderung schien mir damals überall zu begegnen. In der E-Book-Version kommt es zugegebenermaßen nicht ganz so gut raus. Ich war sehr neugierig auf das Buch und hatte mich auf die Lektüre gefreut, die sich auch lohnt - aber dennoch anders ist, als ich erwartet hatte.


Der Roman liest sich intensiv. Wie in einen Strudel wird man in das Leben der Ich-Erzählerin Katharina hinein gezogen. Die ca. Vierzigjährige ist eine aufopferungsvolle Mutter, vernachlässigte Ehefrau, schwer erreichbare Freundin, begeisterte Musiklehrerin und hilfsbereite Nachbarin. Tagtäglich schlüpft sie in diese verschiedenen Rollen, die alle besondere Anforderungen an sie stellen. In „Sieh mich an“ erlebt der Leser einen erstmal gar nicht so untypischen Freitag in Katharinas Leben mit. Und weiß durch ihre Innenansichten als Einziger, welche emotionale Zusatzbelastung sie nebenbei noch mit sich herumträgt: Katharina hat in ihrer Brust ein „Etwas“ ertastet, das sie nicht beim Namen nennen mag. Sie ist erblich vorbelastet und von ihrem nahenden Tod überzeugt, ohne bislang mit einem Arzt oder sonst jemandem über das „Etwas“ gesprochen zu haben. Doch das will sie ändern – am nächsten Montag. Der Chaos-Freitag, den „Sieh mich an“ beschreibt, soll das letzte nach außen hin unbeschwerte Wochenende einläuten.

Durch Rückblenden ist zu erahnen, wie Katharina zu der Frau geworden ist, die sie ist. Sachlich denkt sie über ihr Leben nach und lässt dabei nur wenig Emotionen zu. Der lakonische Schreibstil passt zum Inhalt, hat in mir jedoch auch eine gewisse Traurigkeit erzeugt. Die Figur der Katharina blieb mir stellenweise sehr fremd; ich konnte mich nur wundern, wie viel sie unausgesprochen lässt, wie viel sie hinnimmt. Gleichzeitig habe ich mir einige Passagen markiert; kluge Gedanken, ungewöhnliche Sichtweisen, über die sich ein nochmaliges Nachdenken lohnt. Krügels Katharina hat einen besonderen Blick auf das Leben und ihre Gedanken brechen ungefiltert auf den Leser ein. Wenn ich mich immer auf sie eingelassen hätte, wäre mein Lesefluss ganz schön ins Stocken geraten; so habe ich schon während des Lesens beschlossen, dass ich dieses Buch nicht zum letzten Mal in die Hand genommen habe. Und doch hat es mich etwas bedrückt. Katharina ist eine Kennerin und Liebhaberin der klassischen Musik und hält ihre eigene Lebensmelodie durchgehend in Moll, was mir zum Teil selbstgewählt erscheint. Wegen der melancholischen Grundstimmung bin ich unsicher geworden, ob ich das Buch einer Freundin weiterempfehlen soll. In jedem Fall ist es jedoch ein tragisch-schöner, weiser Roman über den Alltagswahnsinn und vieles, was das Leben ausmacht.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 1. August 2017
ISBN: 978-3492058551
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

12. Januar 2018

Bernhard Schlink: "Olga"

Heute erscheint ein Buch, das ich gestern beendet habe  - was nur möglich ist, weil ich es im Dezember auf der Plattform "Vorablesen" als Leseexemplar gewonnen habe. Es war nicht das erste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe, aber das erste, das ich hier empfehlen will, damit das Jahr 2018 im Romanregal mit einem richtigen Highlight beginnt. Denn genau das ist "Olga" für mich.


Schon länger war ich von keinem Roman mehr dermaßen angetan wie von „Olga“. Bereits auf den ersten Seiten hat mich Bernhard Schlinks klare, präzise, schöne Sprache begeistert. Aber auch inhaltlich zog mich die Geschichte der Anfang der 1880er Jahre geborenen Olga in ihren Bann. Früh Vollwaise ist sie zwar nicht ganz auf sich alleine gestellt, erfährt aber trotz Wissensdurst und Ehrgeiz kaum Förderung und Unterstützung. Dennoch geht Olga ihren – in Anbetracht ihrer Herkunft und der damaligen Zeit – ungewöhnlichen Weg. Und findet schon früh mit einem anderen einsamen Kind zusammen: Dem Gutsbesitzersohn Herbert. Olga und Herbert sind sich nicht ähnlich, aber sie begegnen einander auf Augenhöhe, verbringen gerne Zeit miteinander, werden langsam erwachsen und ein Liebespaar. Während sich Olga jedoch ein selbstständiges und unabhängiges Leben aufbaut, zieht es Herbert in die Ferne. Rastlos sucht er nach Weite und der Erfüllung, die ihm diese bringt. Seine erste Reise führt in als Soldat nach „Südwest“, also Namibia; weitere folgen.

Doch der Leser begleitet Herbert nur kurze Passagen lang, der Fokus des Buches richtet sich auf die titelgebende Hauptfigur. Olga, eine intelligente, belesene Frau, die schließlich den ersten Weltkrieg erlebt und irgendwann auch den zweiten. Ihre Geschichte wird bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts erzählt; erst aus der Außenperspektive, irgendwann von einem späten Schützling, schließlich indirekt auch von ihr selbst. Alle drei Sichtweisen fügen das Bild einer starken Frau zusammen, die dem Wunsch der ihr am Herzen liegenden Männer, immer höher und immer weiter hinaus zu wollen, stets skeptisch gegenübersteht – wie auch dem sich immer wieder Bahn brechenden zeitgenössischen Größenwahn ihrer Landsleute. Olga bleibt sich treu – und dennoch gibt es im Laufe des Romans einige unvorhersehbare Wendungen, die mich tatsächlich in Atem gehalten haben, obwohl sich „Olga“ sonst eher ruhig liest.

Sprache, Erzählweise und Struktur der Geschichte machen sie zu einer ungewöhnlich intensiven Leseerfahrung. Für einige Handlungsstränge nimmt sich Bernhard Schlink Zeit, aber manches Mal zieht er sein Erzähltempo stark an. Dass „Olga“ trotzdem stimmig bleibt, zeigt, wie virtuos Schlink schreiben kann. Die Begleitung seiner Romanfigur durch ihr Leben ist ein bereicherndes Erlebnis, das mich nach Buchende wehmütig zurückgelassen hat.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 12. Januar 2018
ISBN: 978-3257070156
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

31. Dezember 2017

Stephen und Owen King: "Sleeping Beauties"

Im Dezember lebe ich traditionell meine Schwäche für Online-Adventskalender aus und habe mich kurz vor Weihnachten sehr gefreut, bei einem der Türchen des Heyne Verlags gewonnen zu haben: Ein Buch, das irgendwie faszinierend klang, das ich mir aber niemals selbst gekauft hätte, weil es - spannende Ausgangsidee hin oder her - einfach nicht mein Genre ist. Der Gewinn war also eine Chance, sich mal in was ganz anderes zu vertiefen - und das habe ich dann während der vergangenen zehn Tage auch immer wieder getan ...


Mein erster King! Dabei ist es vermutlich kein ganz typischer, denn „Sleeping Beauties“ hat Stephen King nicht alleine verfasst, sondern zusammen mit seinem Sohn Owen. Zu zweit haben sie sich des Dornröschen-Motivs angenommen, das hier grauenhafte Züge bekommt: Nicht nur eine, sondern alle Frauen schlafen ein – weltweit, wobei sich die Handlung auf die Geschehnisse in der amerikanischen Kleinstadt Dooling konzentriert. Die Damen märchenhaft wachzuküssen, ist keine Lösung. Sobald eine Frau einschläft, webt sich ein feiner, weißer Kokon um sie. Das Gewebe, aus dem der Kokon besteht, wächst den Schlafenden dabei unter anderem aus Mund und Nase und wird schnell immer dichter. In einem Fernsehfilm wäre das vermutlich die Stelle, bei der ich umschalten würde, lesend machte mir die Vorstellung dagegen nicht so viel aus. Und richtig eklig wurde es ohnehin erst, wenn jemand den Kokon einer Schlafenden beschädigte, um an sie ranzukommen. Egal, ob derjenige mit prinzgemäßen Kussabsichten oder aus anderen Gründen handelte: Man konnte ihm nur wünschen, dass er sich schleunigst in Sicherheit brachte …
Doch in „Sleeping Beauties“ geht es nicht nur um die namensgebenden weiblichen Schönheiten. Die Kings widmen sich auch den Männern, die übrig bleiben, nachdem ihre Freundinnen, weiblichen Familienmitglieder, Chefinnen und Kolleginnen eingeschlafen sind. Wie sähe eine Welt ohne Frauen aus? Und wie eine Welt ohne Männer? Dieser Frage wird sich ausgiebig gewidmet – der Roman hat 956 Seiten. Mir waren das ein paar zu viele, wobei Stephen und Owen King dem Leser einen ganzen Kleinstadt-Kosmos inklusive Frauengefängnis nahebringen – im vorangestellten Personenregister werden 71 Romanfiguren mit Alter und Beruf aufgelistet. Diese brauchen verständlicherweise Platz, wobei der Wälzer mit ein paar weniger Charakteren und einigen ordentlichen Kürzungen vermutlich gewonnen hätte. Die Ausarbeitung der detaillierten Romanwelt ist dennoch stellenweise faszinierend – oft aber auch einfach langatmig. Der Showdown von „Sleeping Beauties“ hat sich für meinen Geschmack auch ziemlich gezogen, Auflösung und Ende fand ich wiederum ganz interessant. Der Plot an sich war fesselnd, die Spannung konnte aber nicht dauerhaft aufrechterhalten werden. Die Anzahl lebender sowie toter Protagonisten war mir deutlich zu groß und Horrorelemente sind generell einfach nicht mein Fall. Riesige Mottenschwärme werden bei einer (laut Wikipedia bereits geplanten) Verfilmung sicherlich ein eindrucksvolles Bild abgeben, lesend haben sie mich eher kalt gelassen. Was bleibt, ist ein gewisser Stolz, durchgehalten zu haben – und die Erkenntnis, dass auf meinen ersten King erstmal kein zweiter folgen wird. Fans des Autors dürf(t)en das aber natürlich ganz anders sehen.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 960
Erscheinungsdatum: 13. November 2017
ISBN: 978-3453271449
Preis: 28,00 € (E-Book: 19,99 €)

22. Dezember 2017

Mavis Doriel Hay: "Geheimnis in Rot"

Weihnachten naht! Zeit für einen Buchtipp zum Fest. Wobei ich kein Fan der kitschig-romantischen Weihnachtsromane bin, die zur Zeit in rauhen Mengen in den Buchhandlungen zu finden sind und Titel wie "Weihnachtsküsse in White Cliff Bay", "Trau dich unterm Mistelzweig" oder auch "Verliebt und zugeschneit" tragen. Bei einem weihnachtlichen Krimi konnte ich jedoch bereits im Oktober nicht wiederstehen. Er wurde ebendann im Klett-Cotta-Verlag veröffentlicht, ist im englischen Original jedoch bereits 1936 erschienen. Geschrieben wurde er von einer eher unbekannten Autorin namens Mavis Doriel Hay, deren Stil mich an die Werke einer berühmteren Zeitgenössin erinnert hat - die der Queen of Crime Agatha Christie, von der ich in diesem Jahr auch einiges gelesen habe.


"Geheimnis in Rot" ist ein Krimi mit besonderer Haptik (der Einband ist mit Stoff überzogen), einem weihnachtlichen Eyecatcher-Cover und leider etwas nichtssagendem Titel („The Santa Claus Murder“, wie das Buch auf Englisch heißt, finde ich sowohl passender als auch interessanter). Obwohl ich während der Lektüre noch weit davon entfernt war, mich irgendwie in Weihnachtsstimmung zu fühlen, hat mich dieses Buch schnell in seinen Bann gezogen. Und wirklich weihnachtlich ums Herz ist den Protagonisten von „Geheimnis in Rot“ auch nicht zumute: Am ersten Weihnachtsfeiertag wird Sir Osmond Melbury, der seine Kinder, Schwiegerkinder und Enkel Jahr für Jahr während der Feiertage nach Hause auf Gut Flaxmere nötigt, erschossen in seinem Arbeitszimmer aufgefunden. Der Kreis der Verdächtigen ist groß, denn eigentlich jeder der Anwesenden hat einen Teil des Erbes zu erwarten und für die Mehrzahl von ihnen kommt dieses auch recht willkommen. Aber war das für eines der Familienmitglieder tatsächlich Grund genug, einen Mord zu verüben? Ein Freund des Hauses, Colonel Halstock, beginnt zu ermitteln. Systematisch trägt er Informationen zusammen, sammelt Indizien und führt Gespräche. Und als Leser sitzt man grübelnd vor dem Grundriss von Gut Flaxmere, der dem Buch vorangestellt ist, und fragt sich mit dem Colonel, wie denn nun alles zusammenpasst. „Geheimnis in Rot“ ist ein Krimivergnügen in guter alter Whodunit-Manier. Mavis Doriel Hay beschreibt die einzelnen Familienmitglieder sehr anschaulich und lässt den Großteil auch selbst zu Wort kommen, doch obwohl sich das Gesamtbild so immer mehr zusammenfügt, tappt man als Leser lange im Dunkeln. Wer gerne mit Miss Marple oder Hercule Poirot rätselt, ist hier gut aufgehoben. „Geheimnis in Rot“ ist ein Cosy Crime, dem man sein Alter (Erstveröffentlichung 1936!) nicht anmerkt. Ein Krimigenuss alter Schule, der sich nicht nur unterm Weihnachtsbaum gut macht, aber als gemütliche Feiertagslektüre auf jeden Fall bestens geeignet ist!

Verlag: Klett-Cotta
Seitenzahl: 298
Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2017
ISBN: 978-3608961898
Preis: 15,00 € (E-Book: 11,99 €)

13. Dezember 2017

Zoë Beck: "Die Lieferantin"

Nachdem ich gerade im Dystopie-Fieber bin, kommt hier gleich noch eine Rezension zu diesem Genre; diesmal zu einem Thriller. Zoë Becks "Die Lieferantin" war das erste Zukunfts-Schreckensszenario, in das ich in diesem Jahr eingetaucht bin: Zeitlich nicht zu sehr entfernt, auf unsere Gegenwart eingehend, irgendwie sogar realistisch erscheinend und alles in allem ... verstörend. Vermutlich hat mich das Buch deswegen besonders begeistert. "Die Lieferantin" und Juli Zehs "Leere Herzen" sind in meinen Augen quasi ebenbürtig und thematisch nicht unähnlich; in beiden nimmt das Darknet eine wichtige Rolle ein. Während "Leere Herzen" in Deutschland spielt und dadurch auch einen gewissen Bezug zur jetzigen Bundespolitik hat, ist "Die Lieferantin" allerdings in England angesiedelt.


„London, vielleicht bald“ ist diesem Thriller vorangestellt, und tatsächlich scheint er in nicht allzu ferner Zukunft zu spielen. Wir befinden uns offensichtlich einige Jahre nach dem Brexit, der ebenso wie die Unabhängigkeit Schottlands für die Briten bereits zur Normalität geworden ist. Die technischen Möglichkeiten haben sich weiterentwickelt: Innenstädte werden mit Gesichtserkennungssoftware überwacht, Paketlieferungen mit Drohnen sind Alltag. Allerdings nutzen nicht nur gewöhnliche Online-Versandhändler die Technologie. Ein sehr erfolgreicher Anbieter kommt aus dem Darknet: „Die Lieferantin“, die dort einen Webshop für Drogen betreibt und diese mithilfe von Drohnen in Rekordzeit ausliefern lässt. Den Londoner Unterweltbossen, die bislang den traditionellen Straßenverkauf bevorzugen, tritt sie damit gehörig auf den Schlips. Und dann steht in England noch ein neues Referendum an: Es soll über den Druxit entschieden werden – den Ausstieg aus der Drogenhilfe, der zur Folge hätte, dass der Staat keinen Penny mehr für Behandlung/Entzug/Krankenversicherung etc. von Suchtkranken zahlen würde. Die Ereignisse spitzen sich zu und überschlagen sich schließlich beim Showdown  …

„Die Lieferantin“ hat mir wahnsinnig gut gefallen. Der Thriller ist komplett durchdacht und wirkt daher erschreckend realitätsnah – so könnte es kommen. Es gibt Nebenschauplätze, die die Legalisierung von Drogen, Big Data, wachsendem Nationalismus und Ausländerfeindlichkeit thematisieren. Alles spielt zusammen und so entsteht ein komplexes Zukunftsportrait, das zugleich fesselt und erschüttert.
Zoë Beck hat ein ganz besonderes Händchen für ihre Protagonisten. Man lernt sie schnell gut mit all ihren Eigenheiten kennen und kann trotz Mord- und Totschlag für die meisten Sympathien aufbringen. Richtiggehend kunstvoll führt die Autorin ihre Figuren zum Teil nur flüchtig zusammen. Statt unwahrscheinlicher Zufälle webt sie ein Netz von Ereignissen und Beziehungen, die, obwohl in der Zukunft spielend, einfach glaubwürdig wirken. Wow! Und dann ist das Ganze noch federleicht lesbar und außerdem sehr, sehr spannend. Diese Autorin muss ich mir merken.

Verlag: Suhrkamp
Seitenzahl: 324
Erscheinungsdatum: 10. Juli 2017
ISBN: 978-3518467756
Preis: 14,95 € (E-Book: 12,99 €)

1. Dezember 2017

Juli Zeh: "Leere Herzen"

Nach meinem Eindruck erscheinen dieses Jahr ziemlich viele dystopische Romane - oder kommt mir das nur so vor, weil sie mir vermehrt in die Hände fallen? Es begann mit "Die Lieferantin" von ‎Zoë Beck, einem Roman, der irgendwann nach dem öfters erwähnten Brexit spielt, zu einer Zeit, in der die Drohnentechnologie quasi perfektioniert ist. Drohnen spielten auch im witzigeren "Qualityland" von Marc-Uwe Kling eine Rolle, wobei diese Satire nicht ganz so unmittelbar an unsere Gegenwart anknüpft. Im Dezember werde ich "Die Optimierer" von Theresa Hannig lesen, nachdem die Leseprobe sehr vielversprechend klang: Der Roman handelt von der "Bundesrepublik Europa" im Jahr 2052. Letzte Woche habe ich mich dagegen mit einer Dystopie beschäftigt, die uns zeitlich noch viel näher ist und Juli Zehs neuesten Roman gelesen: "Leere Herzen".


„Leere Herzen“ wird im Klappentext als „verstörender Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist“ beschrieben. In der Widmung schleudert die Autorin ihren Lesern dann auch noch ein unmissverständliches „Da. So seid ihr.“ entgegen – womit klar ist, welche Generation gemeint ist: die eigene. Ein harter Einstieg in eine dystopische Geschichte, die bereits in naher Zukunft spielt. Irgendwann in den späteren 2020er Jahren angesiedelt, berichtet sie von der Post-Merkel-Ära, in der die BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung) regiert, nachdem die anderen Parteien es nicht mehr schaffen, ihre Wähler zu mobilisieren. Und während die BBB die demokratischen Grundrechte immer weiter abschafft, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, haben sich Gutausgebildete und -verdienende wie Protagonistin Britta längst ins Private zurückgezogen, pflegen ihr kleinstädtisches Leben, konzentrieren sich auf die eigene Karriere und schalten die Nachrichten höchstens mal aus Versehen ein. Verantwortungsgefühl, Moral und Ethik sind ihrem „leeren Herzen“ schon sehr lange abhandengekommen. Kopf und Herz sind zufrieden mit dem Ist-Zustand, nur der Bauch rebelliert ab und zu in Form von Schmerzen und Übelkeit, wird aber ebenso wie die Krankhaftigkeit ihres Sauberkeitsfimmels erfolgreich ignoriert.

Juli Zehs Buch wirkt stellenweise wie eine Abrechnung der Autorin. Eine Abrechnung mit Nichtwählern und mit denjenigen, die die Demokratie für selbstverständlich halten und glauben, das Weltgeschehen gehe sie nichts an. Auch mit Hasskommentatoren im Internet wird abgerechnet und der entsprechende Abschnitt liest sich, als hätte sich Zeh ihre Verachtung schon lange von der Seele schreiben wollen. Ganz eventuell ist „Leere Herzen“ auch noch eine kleine Abrechnung mit Sarah Wagenknecht. Die Gründe dafür sind mir verborgen geblieben, aber Wagenknecht wird, neben Merkel, als einzige real existierende Politikern namentlich erwähnt. Überraschenderweise ist sie Innenministerin der BBB. Positiv ist das keinesfalls, denn die in „Leere Herzen“ beschriebene politische Situation ist desaströs – nicht nur in Deutschland, sondern überall. Frexit, Schwexit und andere Bewegungen werden am Rande erwähnt – in Juli Zehs Welt der 2020er Jahre ist sich jeder selbst der Nächste. Besonders bemerkenswert war für mich, dass die Autorin sich nicht an den Wählern ihrer BBB abarbeitet, sondern an den Gleichgültigen, die es besser wissen, aber tatenlos bleiben. „Leute wie ich tragen Schuld an den Zuständen, nicht die Spinner von der BBB“ erkennt auch Hauptfigur Britta irgendwann. Und genau Leute wie die von ihr erschaffene Britta will Juli Zeh erreichen; das wird deutlich.

Und wie liest sich das Ganze? Zeh entwickelt ihre Romangegenwart so, dass sie – im worst case – tatsächlich an die Gegenwart anknüpfen könnte – ein erschreckender Gedanke, der der Faszination, die die Geschichte ausübt, natürlich zuträglich ist. Gleichzeitig fühlte ich mich manchmal doch zu offensichtlich belehrt; „Leere Herzen“ erscheint insgesamt wie eine Warnung der Autorin an die Leser. Die Geschichte um Hauptfigur Britta und das morbide Geschäft, das sie mit ihrem besten Freund Babak betreibt, ist jedoch so fesselnd, dass mich die fehlende Subtilität der Gesellschaftskritik nur selten störte. Und der im Roman gleich mehrmals vorkommende Appell der Autorin, das Hier und Jetzt zu schätzen und aktiv für seine Bewahrung bzw. Verbesserung einzutreten, hat ja durchaus Berechtigung. Juli Zehs Mahnungen haben mich auf jeden Fall beschäftigt und tun es immer noch – der Roman wirkt nach.
Für bequeme Bücher ist die Autorin nicht bekannt, auch „Leere Herzen“ ist keines. Die Geschichte liest sich gut und schnell, erschüttert und verstört immer mal wieder und regt zum Nachdenken an – und zum Wählen gehen, zum Partei ergreifen. So gesehen hätte das Buch ruhig schon ein paar Monate früher erscheinen können.

Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 13. November 2017
ISBN: 978-3630875231
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

25. November 2017

Kirsten Boie: "Thabo – Detektiv und Gentleman. Der Rinderdieb"

Ende August und Anfang September dominierten zwei Gentlemen meinen E-Book-Reader. Von dem einen habe ich kürzlich bereits berichtet: Alexander Graf von Rostov, "Ein Gentleman in Moskau". Er hat dem zweiten Gentleman, von dem ich las, in puncto Höflichkeit und formvollendete Manieren zugegebenermaßen einiges voraus, aber das ist verzeihbar - Thabo ist schließlich noch viel jünger als er und geht das Gentleman-Leben auch eher "learning by doing" an.

Ich hatte von "Thabo - Detektiv und Gentleman" noch nie gehört, was sicher daran liegt, dass ich mich nur selten mit Kinder- und Jugendbüchern beschäftige. Allerdings lese ich gerne Bücher, die im südlichen Afrika spielen, und dass eine deutsche Autorin, die ich schon aus meiner eigenen Kindheit kenne, Kinderkrimis schreibt, die in Swasiland angesiedelt sind, fand ich doch sehr spannend. Als es bei Lovelybooks die Gelegenheit gab, dieses Buch in einer Leserunde zu gewinnen und gemeinsam zu lesen, war ich daher sofort dabei.


„Der Rinderdieb“ ist der dritte Band um den swasiländischen Jungen Thabo, der bei seinem Onkel, einem Safari-Ranger aufwächst und einen, bzw. sogar zwei klare Berufswünsche hat: Er will Detektiv und Gentleman werden! In beidem übt er sich schonmal: In diesem Band wird er bereits das dritte Mal in einen Kriminalfall verwickelt, denn erst verschwinden Rinderherden und dann auch noch seine ältere Freundin Miss Agatha, mit der er ab und zu Miss Marple-Filme schauen darf. Außerdem wurden mehrere Hütten abgebrannt. Was geht in und um das Dorf Hlatikulu nur vor sich? Thabo und seine Freunde Emma und Sifiso versuchen, den Fall zu lösen. Dabei zeigt sich, dass Ich-Erzähler Thabo bereits ein Gentleman ist: Höflich hält er seine ausländischen Leser auf dem Laufenden, spricht sie immer wieder direkt an und erläutert ihnen seine Sichtweise der Dinge. Die Urlauber, die in der Lodge von Emmas Mutter leben, geben ihm zum Beispiel oft Rätsel auf: „Touristen sind merkwürdig. Wenn sie sich bei ihrer Safari nicht wenigstens ein bisschen fürchten, sind sie unzufrieden. Andererseits möchten sie aber auch gerne lebend nach Hause zurückkommen.“ Als Leser kann man gar nicht anders, als Thabo, der sein Alter nicht verrät (als Gentleman spricht er nicht darüber) in sein Herz zu schließen.

Dieses Buch war der erste Thabo-Band, den ich gelesen habe – aber nicht der letzte! Auch ohne Vorkenntnisse habe ich mich von Anfang an bestens zurechtgefunden. Die Hauptfigur Thabo hat es mir sofort angetan; Autorin Kirsten Boie schildert seine Perspektive so charmant wie nachvollziehbar. Boie hat durch viele Reisen selbst einen liebevollen Blick auf Land und Leute entwickelt und den gekonnt auf ihre Hauptfigur übertragen. Dadurch, dass sie sich im südlichen Afrika offensichtlich sehr gut auskennt, vermittelt das Buch außerdem einiges an Wissen über die Lebensumstände dort. Das geschieht ganz nebenbei, ohne die eigentliche Geschichte zu stören, da Thabo einfach immer wieder von sich, seinem Kumpel Sifiso und seiner Freundin Emma erzählt. Diese lebt als Tochter der (weißen) Lodge-Inhaberin ein völlig anderes Leben als die Waisen Thabo und Sifiso; letzterer ist mit drei Geschwistern auf sich alleine gestellt, während Thabo bei seinem Onkel aufwächst. Aber als Freunde sind sie alle gleichberechtigt, wenn sie auch ab und an unterschiedliche Sichtweisen auf die Dinge haben. Für die Lösung des Falls sind dann auch alle drei unentbehrlich.

Kirsten Boie vermittelt, dass weder unterschiedliche Besitzverhältnisse noch Lebensumstände noch Hautfarbe etwas über den Charakter eines Menschen aussagen. Was zählt, sind Aufrichtigkeit und Freundschaft.  Ich war einfach nur beeindruckt, wie sie nebenbei auch schwierige Themen anspricht, nichts verschweigt oder beschönigt, dabei aber kindgerecht bleibt und eben auch zeigt, dass die äußeren Umstände nicht das Herz eines Menschen definieren. Ich werde „Thabo“ sicher an einige Kinder verschenken, denn dieses Reinschnuppern in ein weit entferntes Land und das Kennenlernen von Thabo, Emma und Sifiso, die bei aller Pfiffigkeit doch ganz normale Kinder sind – das kann nur bereichernd sein und den Blick auf diese Welt wieder etwas mehr öffnen. Ich kann dieses Buch nur empfehlen.

Verlag: Oetinger
Seitenzahl: 320
Vom Verlag empfohlenes Alter: 10-12 Jahre
Erscheinungsdatum: 21. August 2017
ISBN: 978-3789120343
Preis: 12,99 € (E-Book: 9,99 €)

19. November 2017

Etgar Keret: "Die sieben guten Jahre: Mein Leben als Vater und Sohn"

Als ich zu diesem Buch griff, hatte ich noch nie von Etgar Keret gehört - dachte ich zumindest. Nach der Lektüre googelte ich ihn und stellte fest, dass der israelische Schriftsteller erst Anfang November für die letzte Seite des ZEIT Magazins interviewt worden war; in der Rubrik "Das war meine Rettung", die ich sehr gerne lese.
Und so ist Keret mir also bereits vor knapp zwei Wochen einmal begegnet, aber da mir sein Name damals noch nichts sagte, hatte ich das Interview offensichtlich schnell wieder vergessen. Als ich mir das E-Book runterlud, war mir nicht bewusst, dass er ein internationaler Bestsellerautor ist, dessen Bücher bereits in 37 Sprachen übersetzt wurden. Mich hatten einfach der Titel und die Kurzbeschreibung angesprochen - und das Cover, das in schwarzweiß leider längst nicht so ein Eyecatcher ist wie in gelb auf der Homepage des Fischer Verlages.


Keret erzählt in „Die sieben guten Jahre“ Anekdoten, die sich in den Jahren ab der Geburt seines Sohnes bis hin zum Tode seines Vaters zugetragen haben. Er wird dabei sehr persönlich – so persönlich, dass er sich entschieden hat, dieses Buch nicht auf Hebräisch und nicht in seinem Heimatland Israel zu veröffentlichen. Er schrieb es zwar in seiner Muttersprache, ließ es dann jedoch sofort ins Englische übersetzen und nur diese englische Fassung wurde lektoriert und von ihm überarbeitet. Keret sieht seine ausländischen Leser als Fremde, denen er in einem Zugabteil begegnet und denen er für die Dauer dieser Zugfahrt Geschichten erzählt – bevor er wieder aussteigt und die Wege sich trennen.

Ich habe „Die sieben guten Jahre“ innerhalb von zwei Tagen an allen möglichen Orten gelesen (im Zug allerdings nicht), so sehr haben mir Kerets Anekdoten gefallen. Ich hatte eigentlich mit einem Roman gerechnet, aber das Buch enthält in sich abgeschlossene Geschichten, die chronologisch besagten sieben Jahren zugeordnet werden. Ein winziges bisschen fühlte ich mich an die Erzählungen von Horst Evers erinnert, die ich sehr mag. Keret ist kein Kabarettist, aber er hat Humor und Witz und genau wie eine gewisse Melancholie schwingen diese in seinen Geschichten mit. Sein Stil ist dabei unheimlich leichtfüßig.
Inhaltlich sind die Geschichten eine Mischung aus Alltagsbeobachtungen, eigenen Erlebnissen und Erinnerungen an skurrile Situationen. Ein Streitgespräch mit einem Taxifahrer, der den dreijährigen Sohn des Autors angebrüllt hatte, liest sich ebenso unterhaltsam und weise wie die Geschichte um das Warschauer Keret-Haus, das den Familiennamen wieder zurück in die Geburtsstadt der Mutter brachte.

Kerets Herz gehört seiner Heimat Israel. Der jüdische Glaube an sich scheint für ihn keine große Rolle zu spielen; er selbst glaubt nicht an Gott, lebt aber in einem Land, in dem Religion und Politik untrennbar miteinander verbunden sind. Auch in den „Sieben guten Jahren“ gab es Auseinandersetzungen um den Gaza-Streifen, Operationen mit Namen wie „Gegossenes Blei“ und „Wolkensäule“. Bombenalarme und Gespräche über Krieg gehörten teilweise zum Alltag des Autors und fließen so auch in seine Geschichten ein. Im gleichzeitig traurigen, komischen und berührenden Kapitel „Pastrami“ schildert Keret, wie er und seine Frau mit dem kleinen Sohn spielen, dass sie drei ein Sandwich bilden – so können sie das Kind während eines Bombenalarms gleichzeitig beruhigen und es dazu bringen, sich mit ihnen neben dem Auto in einen Graben zu legen. Der Autor sieht Israels Politik durchaus kritisch, auch das blitzt immer wieder in seinen Geschichten durch. Vor allem erzählen sie jedoch davon, wie Alltag in Israel heute aussieht, und das fand ich sehr interessant. „Die sieben guten Jahre“ haben mir Israel mit all seinen Widersprüchen ein ganzes Stück nähergebracht. Wobei Keret vermutlich zu den Autoren gehört, die über alles schreiben könnten – durch seinen Stil, seinen Witz, seine Ehrlichkeit und seine besondere Beobachtungsgabe wäre das Ergebnis auf jeden Fall lesenswert.

Verlag: Fischer Taschenbuch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 23. März 2017 (25. Februar 2016 als Hardcover)
ISBN: 978-3100495204
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

2. November 2017

Amor Towles: "Ein Gentleman in Moskau"

Nachdem in meinen ersten beiden Buchvorstellungen nicht unbedingt schöne oder bequeme Romane rezensiert werden, stelle ich diesmal einen Titel vor, der einen weitaus höheren Wohlfühlfaktor mit sich bringt. Was erstaunlich ist, handelt das Buch doch vom Leben eines russischen Adeligen, der jahrzehntelang im Moskauer Hotel Metropol unter Hausarrest steht. Trotzdem ist "Ein Gentleman in Moskau" erstaunlich kurzweilig und außerdem vergnüglich, feinsinnig und weise.
Wie unten zu sehen ist, habe ich das Buch als E-Book gelesen. Ich habe es bei Vorablesen.de gewonnen und mich Anfang September hineinvertieft.


Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass in diesem Roman nicht viel passiert. Gleich zu Anfang, wir befinden uns im Jahr 1922 in Moskau, wird die Hauptfigur Graf Alexander Rostov zu besagtem lebenslangen Hausarrest an seinem aktuellen Wohnort verurteilt. Dieser ist jedoch nicht das heimische Gut, da der Adelsstand schon einige Jahre zuvor abgeschafft wurde und Graf Rostov es längst verlassen musste. Seitdem lebt er im Hotel Metropol, dem ersten Haus am Platze in Moskau. Es verfügt unter anderem über zwei Restaurants, eine Bar, einen geschlossenen Blumenladen und eine Nähstube, so dass dem 33-jährigen Grafen immerhin nicht sofort die Decke auf den Kopf fällt.

Doch der Hausarrest des Grafen geht über Jahrzehnte, und als Leser begleitet man ihn dabei. Werden seine Begegnungen und Erlebnisse anfangs noch ausführlich geschildert, gibt es schließlich vermehrt Zeitsprünge. Diese wirken jeder Monotonie entschieden entgegen. Und auch sonst ist Graf Rostovs Leben im Hotel nur eine kleinere Ausgabe des Lebens in der richtigen Welt: Auch hier wird geliebt, gelacht und einander geholfen. Aber es wird auch bespitzelt und intrigiert – gegen die ehemals herrschende Klasse und eigentlich gegen jeden, der nicht zu den Bolschewiki zählt, kritisch hinterfragt oder auf die Äußerung seiner eigenen Meinung wert legt.

Bei der Lektüre dieses Romans habe ich einiges über das Leben im Russland des 20. Jahrhunderts gelernt; nicht zuletzt durch die gelegentlichen Fußnoten, die eine Brücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit schlagen. Trotz der zerstörerischen Politik dieser Jahre handelt „Ein Gentleman in Moskau“ auch von Idealisten wie Graf Rostovs Freund Michail Fjodorowitsch, von selbstbewussten Frauen wie der Näherin Marina, von gutherzigen Parteimitgliedern wie Ossip Iwanowitsch Glebnikow und nicht zuletzt von Gentlemen wie Graf Rostov. Amor Towles hat als Hauptfigur einen beeindruckenden Philanthropen geschaffen, dessen Gedanken das Buch zu einem Lesevergnügen machen. Stets freundlich, höflich und so heiter wie möglich vermittelt er direkt und indirekt, was es heißt, ein Gentleman zu sein. Das Klischee vom grobschlächtigen Russen wird einem nach der Lektüre dieses Buches kaum mehr in den Sinn kommen.

Graf Rostovs teils philosophische Gedanken zu Heimat, Freundschaft und dem Leben generell machen diesen Roman so bemerkenswert. Ich habe mir ganze Passagen markiert, während ich das E-Book las. Es ging viel zu schnell, um sich alles zu merken, aber ich wollte die Sätze auch nicht einfach so an mir vorüberziehen lassen. Auch sprachlich überzeugen die Inhalte.
Und so ist es zwar größtenteils ein ruhiges Buch, aber es gibt auch dramatische Szenen. Zwar passieren oft nur Kleinigkeiten, doch durch die Sprache und die geschilderten feinsinnigen Gedankengänge werden auch diese interessant. Ein wohlkomponiertes, weises Buch mit genau dem richtigen Ende. Mir hat es sehr gefallen!

Verlag: List Hardcover
Seitenzahl: 560
Erscheinungsdatum: 8. September 2017
ISBN: 978-3471351468
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)