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19. November 2017

Etgar Keret: "Die sieben guten Jahre: Mein Leben als Vater und Sohn"

Als ich zu diesem Buch griff, hatte ich noch nie von Etgar Keret gehört - dachte ich zumindest. Nach der Lektüre googelte ich ihn und stellte fest, dass der israelische Schriftsteller erst Anfang November für die letzte Seite des ZEIT Magazins interviewt worden war; in der Rubrik "Das war meine Rettung", die ich sehr gerne lese.
Und so ist Keret mir also bereits vor knapp zwei Wochen einmal begegnet, aber da mir sein Name damals noch nichts sagte, hatte ich das Interview offensichtlich schnell wieder vergessen. Als ich mir das E-Book runterlud, war mir nicht bewusst, dass er ein internationaler Bestsellerautor ist, dessen Bücher bereits in 37 Sprachen übersetzt wurden. Mich hatten einfach der Titel und die Kurzbeschreibung angesprochen - und das Cover, das in schwarzweiß leider längst nicht so ein Eyecatcher ist wie in gelb auf der Homepage des Fischer Verlages.


Keret erzählt in „Die sieben guten Jahre“ Anekdoten, die sich in den Jahren ab der Geburt seines Sohnes bis hin zum Tode seines Vaters zugetragen haben. Er wird dabei sehr persönlich – so persönlich, dass er sich entschieden hat, dieses Buch nicht auf Hebräisch und nicht in seinem Heimatland Israel zu veröffentlichen. Er schrieb es zwar in seiner Muttersprache, ließ es dann jedoch sofort ins Englische übersetzen und nur diese englische Fassung wurde lektoriert und von ihm überarbeitet. Keret sieht seine ausländischen Leser als Fremde, denen er in einem Zugabteil begegnet und denen er für die Dauer dieser Zugfahrt Geschichten erzählt – bevor er wieder aussteigt und die Wege sich trennen.

Ich habe „Die sieben guten Jahre“ innerhalb von zwei Tagen an allen möglichen Orten gelesen (im Zug allerdings nicht), so sehr haben mir Kerets Anekdoten gefallen. Ich hatte eigentlich mit einem Roman gerechnet, aber das Buch enthält in sich abgeschlossene Geschichten, die chronologisch besagten sieben Jahren zugeordnet werden. Ein winziges bisschen fühlte ich mich an die Erzählungen von Horst Evers erinnert, die ich sehr mag. Keret ist kein Kabarettist, aber er hat Humor und Witz und genau wie eine gewisse Melancholie schwingen diese in seinen Geschichten mit. Sein Stil ist dabei unheimlich leichtfüßig.
Inhaltlich sind die Geschichten eine Mischung aus Alltagsbeobachtungen, eigenen Erlebnissen und Erinnerungen an skurrile Situationen. Ein Streitgespräch mit einem Taxifahrer, der den dreijährigen Sohn des Autors angebrüllt hatte, liest sich ebenso unterhaltsam und weise wie die Geschichte um das Warschauer Keret-Haus, das den Familiennamen wieder zurück in die Geburtsstadt der Mutter brachte.

Kerets Herz gehört seiner Heimat Israel. Der jüdische Glaube an sich scheint für ihn keine große Rolle zu spielen; er selbst glaubt nicht an Gott, lebt aber in einem Land, in dem Religion und Politik untrennbar miteinander verbunden sind. Auch in den „Sieben guten Jahren“ gab es Auseinandersetzungen um den Gaza-Streifen, Operationen mit Namen wie „Gegossenes Blei“ und „Wolkensäule“. Bombenalarme und Gespräche über Krieg gehörten teilweise zum Alltag des Autors und fließen so auch in seine Geschichten ein. Im gleichzeitig traurigen, komischen und berührenden Kapitel „Pastrami“ schildert Keret, wie er und seine Frau mit dem kleinen Sohn spielen, dass sie drei ein Sandwich bilden – so können sie das Kind während eines Bombenalarms gleichzeitig beruhigen und es dazu bringen, sich mit ihnen neben dem Auto in einen Graben zu legen. Der Autor sieht Israels Politik durchaus kritisch, auch das blitzt immer wieder in seinen Geschichten durch. Vor allem erzählen sie jedoch davon, wie Alltag in Israel heute aussieht, und das fand ich sehr interessant. „Die sieben guten Jahre“ haben mir Israel mit all seinen Widersprüchen ein ganzes Stück nähergebracht. Wobei Keret vermutlich zu den Autoren gehört, die über alles schreiben könnten – durch seinen Stil, seinen Witz, seine Ehrlichkeit und seine besondere Beobachtungsgabe wäre das Ergebnis auf jeden Fall lesenswert.

Verlag: Fischer Taschenbuch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 23. März 2017 (25. Februar 2016 als Hardcover)
ISBN: 978-3100495204
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

2. November 2017

Amor Towles: "Ein Gentleman in Moskau"

Nachdem in meinen ersten beiden Buchvorstellungen nicht unbedingt schöne oder bequeme Romane rezensiert werden, stelle ich diesmal einen Titel vor, der einen weitaus höheren Wohlfühlfaktor mit sich bringt. Was erstaunlich ist, handelt das Buch doch vom Leben eines russischen Adeligen, der jahrzehntelang im Moskauer Hotel Metropol unter Hausarrest steht. Trotzdem ist "Ein Gentleman in Moskau" erstaunlich kurzweilig und außerdem vergnüglich, feinsinnig und weise.
Wie unten zu sehen ist, habe ich das Buch als E-Book gelesen. Ich habe es bei Vorablesen.de gewonnen und mich Anfang September hineinvertieft.


Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass in diesem Roman nicht viel passiert. Gleich zu Anfang, wir befinden uns im Jahr 1922 in Moskau, wird die Hauptfigur Graf Alexander Rostov zu besagtem lebenslangen Hausarrest an seinem aktuellen Wohnort verurteilt. Dieser ist jedoch nicht das heimische Gut, da der Adelsstand schon einige Jahre zuvor abgeschafft wurde und Graf Rostov es längst verlassen musste. Seitdem lebt er im Hotel Metropol, dem ersten Haus am Platze in Moskau. Es verfügt unter anderem über zwei Restaurants, eine Bar, einen geschlossenen Blumenladen und eine Nähstube, so dass dem 33-jährigen Grafen immerhin nicht sofort die Decke auf den Kopf fällt.

Doch der Hausarrest des Grafen geht über Jahrzehnte, und als Leser begleitet man ihn dabei. Werden seine Begegnungen und Erlebnisse anfangs noch ausführlich geschildert, gibt es schließlich vermehrt Zeitsprünge. Diese wirken jeder Monotonie entschieden entgegen. Und auch sonst ist Graf Rostovs Leben im Hotel nur eine kleinere Ausgabe des Lebens in der richtigen Welt: Auch hier wird geliebt, gelacht und einander geholfen. Aber es wird auch bespitzelt und intrigiert – gegen die ehemals herrschende Klasse und eigentlich gegen jeden, der nicht zu den Bolschewiki zählt, kritisch hinterfragt oder auf die Äußerung seiner eigenen Meinung wert legt.

Bei der Lektüre dieses Romans habe ich einiges über das Leben im Russland des 20. Jahrhunderts gelernt; nicht zuletzt durch die gelegentlichen Fußnoten, die eine Brücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit schlagen. Trotz der zerstörerischen Politik dieser Jahre handelt „Ein Gentleman in Moskau“ auch von Idealisten wie Graf Rostovs Freund Michail Fjodorowitsch, von selbstbewussten Frauen wie der Näherin Marina, von gutherzigen Parteimitgliedern wie Ossip Iwanowitsch Glebnikow und nicht zuletzt von Gentlemen wie Graf Rostov. Amor Towles hat als Hauptfigur einen beeindruckenden Philanthropen geschaffen, dessen Gedanken das Buch zu einem Lesevergnügen machen. Stets freundlich, höflich und so heiter wie möglich vermittelt er direkt und indirekt, was es heißt, ein Gentleman zu sein. Das Klischee vom grobschlächtigen Russen wird einem nach der Lektüre dieses Buches kaum mehr in den Sinn kommen.

Graf Rostovs teils philosophische Gedanken zu Heimat, Freundschaft und dem Leben generell machen diesen Roman so bemerkenswert. Ich habe mir ganze Passagen markiert, während ich das E-Book las. Es ging viel zu schnell, um sich alles zu merken, aber ich wollte die Sätze auch nicht einfach so an mir vorüberziehen lassen. Auch sprachlich überzeugen die Inhalte.
Und so ist es zwar größtenteils ein ruhiges Buch, aber es gibt auch dramatische Szenen. Zwar passieren oft nur Kleinigkeiten, doch durch die Sprache und die geschilderten feinsinnigen Gedankengänge werden auch diese interessant. Ein wohlkomponiertes, weises Buch mit genau dem richtigen Ende. Mir hat es sehr gefallen!

Verlag: List Hardcover
Seitenzahl: 560
Erscheinungsdatum: 8. September 2017
ISBN: 978-3471351468
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

17. Oktober 2017

Karine Tuil: "Die Zeit der Ruhelosen"

Bereits im März habe ich Karine Tuils "Die Zeit der Ruhelosen" gelesen und rezensiert. Das Buch ist ein eindringlicher Gesellschaftsroman über Aufstiege, Niedergänge und die Unmöglichkeit, die eigene Herkunft abzuschütteln; es hat mich ziemlich beeindruckt. Deswegen und weil Karine Tuil eine französische Autorin ist und Frankreich ja gerade Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, will ich den Blog mit diesem bei Ullstein erschienen Roman starten.


„Die Zeit der Ruhelosen“ liest sich sehr intensiv. Schon der Einstieg – die Schilderung eines Afghanistan-Einsatzes aus der Sicht eines französischen Soldaten – ist hart und gleichzeitig die Vorbereitung des Lesers auf das, was noch folgt: Zwar sind Krieg und Terror nicht die Hauptthemen des Buches, tauchen aber immer wieder auf. Die Protagonisten in Karine Tuils Roman kommen, wie der Titel schon sagt, nicht zur Ruhe: Ein Afghanistan-Heimkehrer, ein erfolgreicher Geschäftsmann und ein politischer Aufsteiger. Zwar kreuzen sich ihre Wege im Verlauf des Buches, doch sie haben kaum etwas gemeinsam. Jeder von ihnen ist ein Einzelkämpfer und strebt nach dem, was ihm wichtig ist: Karriere, Anerkennung, Liebe. Immer wieder geht es dabei um Macht. Die Macht, etwas zu bewirken, zu beeinflussen oder zu kontrollieren. In ihrem Streben kommen die Hauptfiguren ins Straucheln und müssen mehr oder weniger schmerzhaft feststellen, dass sie nicht frei agieren können, dass insbesondere ihre Herkunft sie nicht loslässt. Sie können ihre Vergangenheit nicht abschütteln, sie holt sie ein, egal, wie sehr sie sich innerlich und äußerlich von ihr distanzieren. Der Soldat wurde durch seinen letzten Einsatz traumatisiert, der Geschäftsmann muss sich durch die Presse daran erinnern lassen, dass er als Jude geboren wurde und sieht sich bald einer antisemitischen Hetzampagne ausgesetzt. Der politische Aufsteiger entfernt sich gerne und schnell von seinen Banlieue-Wurzeln, doch sowohl seine neuen Kollegen als auch ein alter Freund, der sich religiös radikalisiert hat, lassen nicht zu, dass er diese vergessen kann.

Doch in „Die Zeit der Ruhelosen“ wird auch geliebt und geweint. Es ist ein vielschichtiges Buch, das mich sehr gefesselt hat. Ich konnte mit den Protagonisten mitfühlen, denn auch wenn sich meine Sympathien bisweilen in Grenzen hielten: Karine Tuil zeigt nachvollziehnbar, was jeden einzelnen antreibt. Parallel ist man bei Aufstiegen und Untergängen der einzelnen Figuren dabei. Mich hat beeindruckt, wie gut die Autorin die Erlebniswelt der drei so unterschiedlichen Protagonisten erfasst hat: Man zieht mit ihnen in den Krieg, die PR-Schlacht, den Élysée-Palast. Karine Tuil beschreibt Atmosphären, Orte und Gefühle so eindringlich, dass man als Leser kaum näher dran sein könnte. Und so ist auch das Leseerlebnis ruhelos, und genauso lässt einen das Buch nach seinem dramatischen Finale zurück. Ein großer Roman, den es sich unbedingt zu lesen lohnt.

Verlag: Ullstein Hardcover
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 10. März 2017
ISBN: 978-3550081750
Preis: 24,00 € (E-Book: 19,99 €)