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1. Dezember 2017

Juli Zeh: "Leere Herzen"

Nach meinem Eindruck erscheinen dieses Jahr ziemlich viele dystopische Romane - oder kommt mir das nur so vor, weil sie mir vermehrt in die Hände fallen? Es begann mit "Die Lieferantin" von ‎Zoë Beck, einem Roman, der irgendwann nach dem öfters erwähnten Brexit spielt, zu einer Zeit, in der die Drohnentechnologie quasi perfektioniert ist. Drohnen spielten auch im witzigeren "Qualityland" von Marc-Uwe Kling eine Rolle, wobei diese Satire nicht ganz so unmittelbar an unsere Gegenwart anknüpft. Im Dezember werde ich "Die Optimierer" von Theresa Hannig lesen, nachdem die Leseprobe sehr vielversprechend klang: Der Roman handelt von der "Bundesrepublik Europa" im Jahr 2052. Letzte Woche habe ich mich dagegen mit einer Dystopie beschäftigt, die uns zeitlich noch viel näher ist und Juli Zehs neuesten Roman gelesen: "Leere Herzen".


„Leere Herzen“ wird im Klappentext als „verstörender Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist“ beschrieben. In der Widmung schleudert die Autorin ihren Lesern dann auch noch ein unmissverständliches „Da. So seid ihr.“ entgegen – womit klar ist, welche Generation gemeint ist: die eigene. Ein harter Einstieg in eine dystopische Geschichte, die bereits in naher Zukunft spielt. Irgendwann in den späteren 2020er Jahren angesiedelt, berichtet sie von der Post-Merkel-Ära, in der die BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung) regiert, nachdem die anderen Parteien es nicht mehr schaffen, ihre Wähler zu mobilisieren. Und während die BBB die demokratischen Grundrechte immer weiter abschafft, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, haben sich Gutausgebildete und -verdienende wie Protagonistin Britta längst ins Private zurückgezogen, pflegen ihr kleinstädtisches Leben, konzentrieren sich auf die eigene Karriere und schalten die Nachrichten höchstens mal aus Versehen ein. Verantwortungsgefühl, Moral und Ethik sind ihrem „leeren Herzen“ schon sehr lange abhandengekommen. Kopf und Herz sind zufrieden mit dem Ist-Zustand, nur der Bauch rebelliert ab und zu in Form von Schmerzen und Übelkeit, wird aber ebenso wie die Krankhaftigkeit ihres Sauberkeitsfimmels erfolgreich ignoriert.

Juli Zehs Buch wirkt stellenweise wie eine Abrechnung der Autorin. Eine Abrechnung mit Nichtwählern und mit denjenigen, die die Demokratie für selbstverständlich halten und glauben, das Weltgeschehen gehe sie nichts an. Auch mit Hasskommentatoren im Internet wird abgerechnet und der entsprechende Abschnitt liest sich, als hätte sich Zeh ihre Verachtung schon lange von der Seele schreiben wollen. Ganz eventuell ist „Leere Herzen“ auch noch eine kleine Abrechnung mit Sarah Wagenknecht. Die Gründe dafür sind mir verborgen geblieben, aber Wagenknecht wird, neben Merkel, als einzige real existierende Politikern namentlich erwähnt. Überraschenderweise ist sie Innenministerin der BBB. Positiv ist das keinesfalls, denn die in „Leere Herzen“ beschriebene politische Situation ist desaströs – nicht nur in Deutschland, sondern überall. Frexit, Schwexit und andere Bewegungen werden am Rande erwähnt – in Juli Zehs Welt der 2020er Jahre ist sich jeder selbst der Nächste. Besonders bemerkenswert war für mich, dass die Autorin sich nicht an den Wählern ihrer BBB abarbeitet, sondern an den Gleichgültigen, die es besser wissen, aber tatenlos bleiben. „Leute wie ich tragen Schuld an den Zuständen, nicht die Spinner von der BBB“ erkennt auch Hauptfigur Britta irgendwann. Und genau Leute wie die von ihr erschaffene Britta will Juli Zeh erreichen; das wird deutlich.

Und wie liest sich das Ganze? Zeh entwickelt ihre Romangegenwart so, dass sie – im worst case – tatsächlich an die Gegenwart anknüpfen könnte – ein erschreckender Gedanke, der der Faszination, die die Geschichte ausübt, natürlich zuträglich ist. Gleichzeitig fühlte ich mich manchmal doch zu offensichtlich belehrt; „Leere Herzen“ erscheint insgesamt wie eine Warnung der Autorin an die Leser. Die Geschichte um Hauptfigur Britta und das morbide Geschäft, das sie mit ihrem besten Freund Babak betreibt, ist jedoch so fesselnd, dass mich die fehlende Subtilität der Gesellschaftskritik nur selten störte. Und der im Roman gleich mehrmals vorkommende Appell der Autorin, das Hier und Jetzt zu schätzen und aktiv für seine Bewahrung bzw. Verbesserung einzutreten, hat ja durchaus Berechtigung. Juli Zehs Mahnungen haben mich auf jeden Fall beschäftigt und tun es immer noch – der Roman wirkt nach.
Für bequeme Bücher ist die Autorin nicht bekannt, auch „Leere Herzen“ ist keines. Die Geschichte liest sich gut und schnell, erschüttert und verstört immer mal wieder und regt zum Nachdenken an – und zum Wählen gehen, zum Partei ergreifen. So gesehen hätte das Buch ruhig schon ein paar Monate früher erscheinen können.

Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 13. November 2017
ISBN: 978-3630875231
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

19. November 2017

Etgar Keret: "Die sieben guten Jahre: Mein Leben als Vater und Sohn"

Als ich zu diesem Buch griff, hatte ich noch nie von Etgar Keret gehört - dachte ich zumindest. Nach der Lektüre googelte ich ihn und stellte fest, dass der israelische Schriftsteller erst Anfang November für die letzte Seite des ZEIT Magazins interviewt worden war; in der Rubrik "Das war meine Rettung", die ich sehr gerne lese.
Und so ist Keret mir also bereits vor knapp zwei Wochen einmal begegnet, aber da mir sein Name damals noch nichts sagte, hatte ich das Interview offensichtlich schnell wieder vergessen. Als ich mir das E-Book runterlud, war mir nicht bewusst, dass er ein internationaler Bestsellerautor ist, dessen Bücher bereits in 37 Sprachen übersetzt wurden. Mich hatten einfach der Titel und die Kurzbeschreibung angesprochen - und das Cover, das in schwarzweiß leider längst nicht so ein Eyecatcher ist wie in gelb auf der Homepage des Fischer Verlages.


Keret erzählt in „Die sieben guten Jahre“ Anekdoten, die sich in den Jahren ab der Geburt seines Sohnes bis hin zum Tode seines Vaters zugetragen haben. Er wird dabei sehr persönlich – so persönlich, dass er sich entschieden hat, dieses Buch nicht auf Hebräisch und nicht in seinem Heimatland Israel zu veröffentlichen. Er schrieb es zwar in seiner Muttersprache, ließ es dann jedoch sofort ins Englische übersetzen und nur diese englische Fassung wurde lektoriert und von ihm überarbeitet. Keret sieht seine ausländischen Leser als Fremde, denen er in einem Zugabteil begegnet und denen er für die Dauer dieser Zugfahrt Geschichten erzählt – bevor er wieder aussteigt und die Wege sich trennen.

Ich habe „Die sieben guten Jahre“ innerhalb von zwei Tagen an allen möglichen Orten gelesen (im Zug allerdings nicht), so sehr haben mir Kerets Anekdoten gefallen. Ich hatte eigentlich mit einem Roman gerechnet, aber das Buch enthält in sich abgeschlossene Geschichten, die chronologisch besagten sieben Jahren zugeordnet werden. Ein winziges bisschen fühlte ich mich an die Erzählungen von Horst Evers erinnert, die ich sehr mag. Keret ist kein Kabarettist, aber er hat Humor und Witz und genau wie eine gewisse Melancholie schwingen diese in seinen Geschichten mit. Sein Stil ist dabei unheimlich leichtfüßig.
Inhaltlich sind die Geschichten eine Mischung aus Alltagsbeobachtungen, eigenen Erlebnissen und Erinnerungen an skurrile Situationen. Ein Streitgespräch mit einem Taxifahrer, der den dreijährigen Sohn des Autors angebrüllt hatte, liest sich ebenso unterhaltsam und weise wie die Geschichte um das Warschauer Keret-Haus, das den Familiennamen wieder zurück in die Geburtsstadt der Mutter brachte.

Kerets Herz gehört seiner Heimat Israel. Der jüdische Glaube an sich scheint für ihn keine große Rolle zu spielen; er selbst glaubt nicht an Gott, lebt aber in einem Land, in dem Religion und Politik untrennbar miteinander verbunden sind. Auch in den „Sieben guten Jahren“ gab es Auseinandersetzungen um den Gaza-Streifen, Operationen mit Namen wie „Gegossenes Blei“ und „Wolkensäule“. Bombenalarme und Gespräche über Krieg gehörten teilweise zum Alltag des Autors und fließen so auch in seine Geschichten ein. Im gleichzeitig traurigen, komischen und berührenden Kapitel „Pastrami“ schildert Keret, wie er und seine Frau mit dem kleinen Sohn spielen, dass sie drei ein Sandwich bilden – so können sie das Kind während eines Bombenalarms gleichzeitig beruhigen und es dazu bringen, sich mit ihnen neben dem Auto in einen Graben zu legen. Der Autor sieht Israels Politik durchaus kritisch, auch das blitzt immer wieder in seinen Geschichten durch. Vor allem erzählen sie jedoch davon, wie Alltag in Israel heute aussieht, und das fand ich sehr interessant. „Die sieben guten Jahre“ haben mir Israel mit all seinen Widersprüchen ein ganzes Stück nähergebracht. Wobei Keret vermutlich zu den Autoren gehört, die über alles schreiben könnten – durch seinen Stil, seinen Witz, seine Ehrlichkeit und seine besondere Beobachtungsgabe wäre das Ergebnis auf jeden Fall lesenswert.

Verlag: Fischer Taschenbuch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 23. März 2017 (25. Februar 2016 als Hardcover)
ISBN: 978-3100495204
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

2. November 2017

Amor Towles: "Ein Gentleman in Moskau"

Nachdem in meinen ersten beiden Buchvorstellungen nicht unbedingt schöne oder bequeme Romane rezensiert werden, stelle ich diesmal einen Titel vor, der einen weitaus höheren Wohlfühlfaktor mit sich bringt. Was erstaunlich ist, handelt das Buch doch vom Leben eines russischen Adeligen, der jahrzehntelang im Moskauer Hotel Metropol unter Hausarrest steht. Trotzdem ist "Ein Gentleman in Moskau" erstaunlich kurzweilig und außerdem vergnüglich, feinsinnig und weise.
Wie unten zu sehen ist, habe ich das Buch als E-Book gelesen. Ich habe es bei Vorablesen.de gewonnen und mich Anfang September hineinvertieft.


Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass in diesem Roman nicht viel passiert. Gleich zu Anfang, wir befinden uns im Jahr 1922 in Moskau, wird die Hauptfigur Graf Alexander Rostov zu besagtem lebenslangen Hausarrest an seinem aktuellen Wohnort verurteilt. Dieser ist jedoch nicht das heimische Gut, da der Adelsstand schon einige Jahre zuvor abgeschafft wurde und Graf Rostov es längst verlassen musste. Seitdem lebt er im Hotel Metropol, dem ersten Haus am Platze in Moskau. Es verfügt unter anderem über zwei Restaurants, eine Bar, einen geschlossenen Blumenladen und eine Nähstube, so dass dem 33-jährigen Grafen immerhin nicht sofort die Decke auf den Kopf fällt.

Doch der Hausarrest des Grafen geht über Jahrzehnte, und als Leser begleitet man ihn dabei. Werden seine Begegnungen und Erlebnisse anfangs noch ausführlich geschildert, gibt es schließlich vermehrt Zeitsprünge. Diese wirken jeder Monotonie entschieden entgegen. Und auch sonst ist Graf Rostovs Leben im Hotel nur eine kleinere Ausgabe des Lebens in der richtigen Welt: Auch hier wird geliebt, gelacht und einander geholfen. Aber es wird auch bespitzelt und intrigiert – gegen die ehemals herrschende Klasse und eigentlich gegen jeden, der nicht zu den Bolschewiki zählt, kritisch hinterfragt oder auf die Äußerung seiner eigenen Meinung wert legt.

Bei der Lektüre dieses Romans habe ich einiges über das Leben im Russland des 20. Jahrhunderts gelernt; nicht zuletzt durch die gelegentlichen Fußnoten, die eine Brücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit schlagen. Trotz der zerstörerischen Politik dieser Jahre handelt „Ein Gentleman in Moskau“ auch von Idealisten wie Graf Rostovs Freund Michail Fjodorowitsch, von selbstbewussten Frauen wie der Näherin Marina, von gutherzigen Parteimitgliedern wie Ossip Iwanowitsch Glebnikow und nicht zuletzt von Gentlemen wie Graf Rostov. Amor Towles hat als Hauptfigur einen beeindruckenden Philanthropen geschaffen, dessen Gedanken das Buch zu einem Lesevergnügen machen. Stets freundlich, höflich und so heiter wie möglich vermittelt er direkt und indirekt, was es heißt, ein Gentleman zu sein. Das Klischee vom grobschlächtigen Russen wird einem nach der Lektüre dieses Buches kaum mehr in den Sinn kommen.

Graf Rostovs teils philosophische Gedanken zu Heimat, Freundschaft und dem Leben generell machen diesen Roman so bemerkenswert. Ich habe mir ganze Passagen markiert, während ich das E-Book las. Es ging viel zu schnell, um sich alles zu merken, aber ich wollte die Sätze auch nicht einfach so an mir vorüberziehen lassen. Auch sprachlich überzeugen die Inhalte.
Und so ist es zwar größtenteils ein ruhiges Buch, aber es gibt auch dramatische Szenen. Zwar passieren oft nur Kleinigkeiten, doch durch die Sprache und die geschilderten feinsinnigen Gedankengänge werden auch diese interessant. Ein wohlkomponiertes, weises Buch mit genau dem richtigen Ende. Mir hat es sehr gefallen!

Verlag: List Hardcover
Seitenzahl: 560
Erscheinungsdatum: 8. September 2017
ISBN: 978-3471351468
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

25. Oktober 2017

Naomi Alderman: "The Power"

Bei einer Lovelybooks-Leserunde im Juli habe ich "The Power" von Naomi Alderman gewonnen und mich sehr darüber gefreut. Bevor ich es bei Lovelybooks gesehen hatte, hatte ich noch nie von dem Buch gehört; es ist bislang allerdings auch nur auf englisch erhältlich. Im März 2018 wird es unter dem Titel "Die Gabe" auch in deutscher Sprache erscheinen.
Die Stimmen zu dem Roman klangen wahnsinnig vielversprechend und waren auch außergewöhnlich vielseitig: Von Financial Times ("The Power is a blast") bis hin zu Cosmopolitan ("The Hunger Games crossed with The Handmaid's Tale"). Margaret Atwood, die dieses Jahr den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels verliehen bekommen hat, hat schön anschaulich beschrieben: "Electrifying! Shocking! Will knock your socks off! Then you'll think twice about everything."


Tja, und was sage ich? Das Buch war kein reines Lesevergnügen, beruht aber auf einem sehr interessanten Gedankenexperiment:

Wenn Frauen die Welt regieren würden …


… dann wäre diese ein friedlicherer, gerechterer und harmonischerer Ort - oder? Naomi Aldermans „The Power“ belehrt die Leser eines Besseren. Ein Buch im Buch beschreibt die dystopischen Entwicklungen, die das Kräfteverhältnis der Geschlechter umkehren. Junge Mädchen entdecken, dass ihre Körper Elektrizität erzeugen können und dass sie in der Lage sind, diese gezielt als Waffe einzusetzen. Plötzlich sind es Jungen, die schutzbedürftig erscheinen und in der Folge von den Mädchen getrennt werden. Und das ist erst der Anfang …
Das Buch hat vier Hauptfiguren, drei von ihnen weiblich. Roxy wird als Teenager Zeuge der Ermordung ihrer Mutter, Politikerin Margot verachtet ihren unsympathischen Chef und Pflegekind Allie hat schon einiges mitgemacht im Leben. Ihnen allen verschafft „The Power“ die Möglichkeit, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Journalistikstudent Tunde arrangiert sich dagegen schnell mit den neuen Verhältnissen und wird zum Chronisten der Veränderungen; er reist zu den Hotspots der Umbrüche und berichtet. Und Umbrüche gibt es weltweit – „The Power“ ist überall gleichzeitig ausgebrochen. Sie ermöglicht Frauen global, sich gegen ihre Unterdrücker aufzulehnen. Doch was ist noch Verteidigung und was schon Angriff? Was ist durch Gewalt erzeugte Gegengewalt und was beruht einfach nur auf Grausamkeit? Was lässt sich noch irgendwie rechtfertigen und was ist einfach nur ein Missbrauch der neuen Macht?

Naomi Aldermann entwirft eine Dystopie, die zugleich fesselnd und unangenehm ist. Nachdem man sich als Leserin erstmal halbwegs entspannt zurücklehnt, weil hier und da scheinbar Gerechtigkeit hergestellt wurde, kommt schnell ein immer größeres Unbehagen auf. Männer werden vermehrt Oper von Übergriffen. Einige werden im Job zu Sexobjekten degradiert, andere trauen sich kaum mehr alleine aus dem Haus. Und dann gibt es auch noch eine neue Religion mit einer Prophetin, die wie eine Heilige verehrt wird und die neue Macht der Frauen zu legitimieren und zu festigen scheint. Dass irgendwann eine Art von Gewöhnung an „The Power“ einsetzt, bedeutet nicht, dass sich die Lage beruhigt – im Gegenteil. So viel zum Thema: „Wenn Frauen die Welt regieren würden …“  Naomi Alderman macht sich da keinerlei Illusionen. Was sie mehr als deutlich ausführt: Macht verändert. Jeden. Und eine Veränderung zum Positiven ist leider die Ausnahme. Dafür findet sie viele Beispiele aus total verschiedenen Bereichen und irritiert, wenn sie teils bekannte Mann-Frau-Situationen einfach immer wieder umdreht.

Drastischer und plastischer wird das Ganze noch dadurch, dass die Autorin ein „Buch im Buch“ geschaffen hat. Diesem ist ein Mailwechsel zwischen Autor und Lektorin (dem Alter Ego der Autorin) vorangestellt, in dem der Autor beschreibt, dass er sein Geschichtsbuch „The Power“ in die Form einer Erzählung gebracht hat, damit es nicht so trocken ist. Zusätzlich werden immer wieder historische Artefakte abgebildet, die das Geschlechterverhältnis in vergangenen Zeiten untermauern sollen. Als Leser fragt man sich immer häufiger, wo das alles eigentlich enden soll, zumal der Text wie ein Countdown aufgebaut scheint. Kein Wohlfühl-Buch! Aber ein sehr interessantes Gedankenexperiment, das nachdenklich macht und mich durchaus verstört zurückgelassen hat.

Verlag: Penguin
Seitenzahl: 341
Erscheinungsdatum: 6. April 2017
ISBN: 978-0670919963
Preis: aktuell 7,99 € (E-Book: 10,32 €)

Erscheint am 12.03.2018 auf deutsch beim Heyne Verlag unter dem Titel "Die Gabe". Preis: 16,99 € (E-Book: 13,99 €).

17. Oktober 2017

Karine Tuil: "Die Zeit der Ruhelosen"

Bereits im März habe ich Karine Tuils "Die Zeit der Ruhelosen" gelesen und rezensiert. Das Buch ist ein eindringlicher Gesellschaftsroman über Aufstiege, Niedergänge und die Unmöglichkeit, die eigene Herkunft abzuschütteln; es hat mich ziemlich beeindruckt. Deswegen und weil Karine Tuil eine französische Autorin ist und Frankreich ja gerade Gastland auf der Frankfurter Buchmesse war, will ich den Blog mit diesem bei Ullstein erschienen Roman starten.


„Die Zeit der Ruhelosen“ liest sich sehr intensiv. Schon der Einstieg – die Schilderung eines Afghanistan-Einsatzes aus der Sicht eines französischen Soldaten – ist hart und gleichzeitig die Vorbereitung des Lesers auf das, was noch folgt: Zwar sind Krieg und Terror nicht die Hauptthemen des Buches, tauchen aber immer wieder auf. Die Protagonisten in Karine Tuils Roman kommen, wie der Titel schon sagt, nicht zur Ruhe: Ein Afghanistan-Heimkehrer, ein erfolgreicher Geschäftsmann und ein politischer Aufsteiger. Zwar kreuzen sich ihre Wege im Verlauf des Buches, doch sie haben kaum etwas gemeinsam. Jeder von ihnen ist ein Einzelkämpfer und strebt nach dem, was ihm wichtig ist: Karriere, Anerkennung, Liebe. Immer wieder geht es dabei um Macht. Die Macht, etwas zu bewirken, zu beeinflussen oder zu kontrollieren. In ihrem Streben kommen die Hauptfiguren ins Straucheln und müssen mehr oder weniger schmerzhaft feststellen, dass sie nicht frei agieren können, dass insbesondere ihre Herkunft sie nicht loslässt. Sie können ihre Vergangenheit nicht abschütteln, sie holt sie ein, egal, wie sehr sie sich innerlich und äußerlich von ihr distanzieren. Der Soldat wurde durch seinen letzten Einsatz traumatisiert, der Geschäftsmann muss sich durch die Presse daran erinnern lassen, dass er als Jude geboren wurde und sieht sich bald einer antisemitischen Hetzampagne ausgesetzt. Der politische Aufsteiger entfernt sich gerne und schnell von seinen Banlieue-Wurzeln, doch sowohl seine neuen Kollegen als auch ein alter Freund, der sich religiös radikalisiert hat, lassen nicht zu, dass er diese vergessen kann.

Doch in „Die Zeit der Ruhelosen“ wird auch geliebt und geweint. Es ist ein vielschichtiges Buch, das mich sehr gefesselt hat. Ich konnte mit den Protagonisten mitfühlen, denn auch wenn sich meine Sympathien bisweilen in Grenzen hielten: Karine Tuil zeigt nachvollziehnbar, was jeden einzelnen antreibt. Parallel ist man bei Aufstiegen und Untergängen der einzelnen Figuren dabei. Mich hat beeindruckt, wie gut die Autorin die Erlebniswelt der drei so unterschiedlichen Protagonisten erfasst hat: Man zieht mit ihnen in den Krieg, die PR-Schlacht, den Élysée-Palast. Karine Tuil beschreibt Atmosphären, Orte und Gefühle so eindringlich, dass man als Leser kaum näher dran sein könnte. Und so ist auch das Leseerlebnis ruhelos, und genauso lässt einen das Buch nach seinem dramatischen Finale zurück. Ein großer Roman, den es sich unbedingt zu lesen lohnt.

Verlag: Ullstein Hardcover
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 10. März 2017
ISBN: 978-3550081750
Preis: 24,00 € (E-Book: 19,99 €)