31. Januar 2022

Horst Evers: Wer alles weiß, hat keine Ahnung

Amüsant und abstrus – ein echter Evers.

Horst Evers letzte Anekdotensammlung hatte mir nicht ganz so gut gefallen wie ihre Vorgänger, doch sein neuestes Werk wollte ich als Fan trotzdem lesen. Und wurde nicht enttäuscht: „Wer alles weiß, hat keine Ahnung“ kommt wieder mehr an die ersten Bücher des Autors ran. Wie so oft erzählt Evers skurrile Alltagsgeschichten, die trotz ihrer Abstrusität irgendwie immer noch vorstellbar sind und mich dauerschmunzeln ließen. Sie spielen in Berlin, seiner norddeutschen Heimat Diepholz oder irgendwo unterwegs. Sie handeln von der Familie, Freunden und Zufallsbekanntschaften und sie haben meist eine überraschende Pointe. Evers ist einfach ein Lesevergnügen.


Als liebgewonnenes wiederkehrendes Element hält diesmal ein Baugerüst her. Sehr gut gefallen hat mir auch die in loser Reihenfolge erzählte Serie „Mein Leben in dreizehn Berufen“, wobei mir die einen Abend währende Kochkarriere des Autors als „linke Hand Gottes“ besonders in Erinnerung geblieben ist.

„Wer alles weiß, hat keine Ahnung“ wurde im Frühjahr 2021 veröffentlicht und so erstaunt es nicht, dass auch Corona Erwähnung findet – allerdings nicht immer wieder, sondern gesammelt auf 20 Seiten, die den schönen Titel „Hundert Tage im Quark – als die Welt coronastill stand“ tragen. Den Rückblick auf die ersten Pandemie-Monate hätte ich nicht unbedingt gebraucht, aber vielleicht hätte ohne dieses Zeitzeugnis auch etwas gefehlt. In jedem Fall kann ich Evers für amüsante Alltagsfluchten mal wieder empfehlen!

Verlag: Rowohlt Berlin
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 26. Januar 2021
ISBN: 978-3737100991
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

26. Januar 2022

Karen M. McManus: You will be the death of me

Zur falschen Zeit am falschen Ort.

Gleich vorweg: Der klangvolle Titel hat mit dem Inhalt des Romans eigentlich gar nichts zu tun. Wobei es tatsächlich einen Toten gibt, der aber nicht mehr zur Analyse seiner Situation kommt und sowieso nur eine Randfigur ist. „You will be the death of me“ dreht sich um drei 16-Jährige, die vor ein paar Jahren mal bestens befreundet waren: Ivy, Mateo und Cal. Auftakt ihrer Freundschaft war der „genialste Tag aller Zeiten“, als sie sich heimlich bei einem Schulausflug nach Boston abgesetzt haben. Seitdem hat sich viel getan und obwohl sie nach wie vor in der gleichen Stufe sind, haben sie keinen Kontakt mehr zueinander. Doch an einem schicksalhaften Morgen laufen sich die drei auf dem Parkplatz vor der Schule über den Weg und beschließen aus einer Laune heraus, den „genialsten Tag aller Zeiten“ zu wiederholen – nichtahnend, dass ihnen stattdessen ein Albtraum bevorsteht …


„You will be the death of me” ist ein Jugendbuch, das sich mühelos in einem Rutsch durchlesen lässt. Die Geschehnisse werden abwechselnd aus Ivys, Mateos und Cals Perspektive geschildert und schnell wird klar, dass alle drei ihre kleinen und größeren Geheimnisse haben. Dazu kommt an diesem Tag ein fatales Timing, das eine Kette von Ereignissen in Gang setzt, die niemand hat kommen sehen – auch als Leser*in wird man immer wieder überrascht. Dabei sind nicht alle Zufälle und Zusammentreffen komplett plausibel, aber das hat mich bei dieser temporeichen Lektüre erst gegen Ende gestört. Die Protagonisten verhalten sich öfters mal irrational, was angesichts der Ausnahmesituation, in der sie sich befinden, aber entschuldbar erscheint. Autorin Karen M. McManus hat viele Themen zwischen zwei Buchdeckel gepackt, so dass der Roman zwar von Anfang bis Ende spannend bleibt, allerdings auch etwas überladen wirkt. Zudem hat sie eine mögliche Fortsetzung angeteasert, die ich wohl nicht mehr lesen würde. Dennoch: eine nette Wochenendlektüre.

Verlag: cbj Jugendbuch
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 13. Dezember 2021
ISBN: 978-3570166062
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

18. Januar 2022

Robert Dinsdale: Die kleinen Wunder von Mayfair

Magisch, verspielt und unerwartet düster.

„Die kleinen Wunder von Mayfair“ ist eine Geschichte von Liebe und Missgunst, Magie und Krieg. Letzteres hat mich unvorbereitet erwischt, denn zunächst bewegt sich der Roman in ganz anderen Sphären: Er beginnt im Jahr 1906, in dem die 15-jährige Cathy Wray ungewollt schwanger wird und nach London ausreißt, um dort eine Arbeit zu suchen und sich und ihr noch ungeborenes Baby versorgen zu können. Einen Job findet sie im Spielzeugladen „Papa Jacks Emporium“, einem zauberhaften Ort, der seine Tore stets vom ersten Frost bis zur ersten Schneeglöckchenblüte öffnet. Das Emporium fasziniert klein und groß mit aufziehbaren Stofftieren, filigran gearbeiteten Spielzeugsoldaten, schnell wachsenden Papierbäumen und anderem Spielzeug, dem ein Hauch Magie anhaftet. Cathy fühlt sich bald heimisch und lernt die Söhne ihres Arbeitgebers Papa Jack kennen, die nur wenige Jahre älter sind als sie. Und bald geht es für den kreativen Kaspar und seinen stillen Bruder Emil nicht mehr nur darum, wer die schönsten Spielzeuge entwirft, sondern beide entwickeln auch ein Interesse an Cathy …


Robert Dinsdales Roman scheint erstmal voller kleiner Wunder und „Papa Jacks Emporium“ wie der Spielzeugladen, von dem man als Kind immer geträumt hat. Doch es gibt einige Zeitsprünge im Buch, die Leserinnen und Leser schließlich in die dunklen Jahre des Ersten Weltkriegs katapultieren, die weder am Spielzeugladen noch an seinen Besitzern spurlos vorübergehen. Und so hat „Die kleinen Wunder von Mayfair“ auch traurige Kapitel, die ich beim Anblick des verspielten Covers nicht vermutet hätte. Der Roman liest sich märchenhaft, hat aber wie viele Märchen auch grausame Seiten. Das Ende kam für mich sehr überraschend und ich bin mir immer noch nicht sicher, wie es mir gefallen hat. Nach meinem Geschmack wurde Robert Dinsdale einer Figur viel weniger gerecht, als ich es anfangs erwartet hatte – aber natürlich ist es auch mal spannend, als Vielleserin eines Besseren belehrt zu werden. Insgesamt kann ich diese magische Geschichte durchaus empfehlen.

Verlag: Knaur
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 1. Oktober 2020
ISBN: 978-3426523094
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

6. Januar 2022

Ralf Schwob: Das Präsidium

Drogen, Geldprobleme und ein lost place.

Das zwischen 1911 und 1914 erbaute alte Polizeipräsidium in Frankfurt ist seit 20 Jahren ein lost place: leerstehend, abgeriegelt und langsam vor sich hin verfallend. Seit 2021 gibt es offizielle Führungen durch das Gebäude, die ich sehr empfehlen kann. Und nachdem man sich das alte Gemäuer mal angeschaut hat, macht es natürlich besonders großen Spaß, einen zum Teil dort angesiedelten Regional-Krimi zu lesen.


Der Frankfurt-Krimi „Das Präsidium“ von Ralf Schwob beginnt mit großem Pech für Drogenkurier Maik: Sein alter Freund Zoran verschwindet auf Nimmerwiedersehen mit der von ihnen zu transportierenden Lieferung. Maik ist klar: Wenn er das Zeug nicht wieder ranschafft, ist er so gut wie tot. Doch selbst als Zoran wieder auftaucht, bleiben die Drogen verschwunden. Dass der biedere Groß-Gerauer Familienvater Thomas Danzer etwas über ihren Verbleib weiß, scheint ausgeschlossen: Der ehemalige Banker, der Frau und Sohn noch nicht gestanden hat, dass ihm wegen Veruntreuung von Geldern gekündigt wurde, hätte eigentlich auch so schon genug Probleme. Aber vielleicht lassen gerade die sich durch einen unerwarteten Geldsegen lösen – oder wird am Ende alles nur noch schlimmer?

Ralf Schwob ist mit „Das Präsidium“ ein kurzweiliger Krimi mit glaubwürdig gestalteten Protagonisten gelungen: Sie sind fehlbar, verstockt, auch mal unsympathisch, aber durch ihre nachvollziehbaren Sorgen und Nöte sehr menschlich. Durch unerwartete Wendungen und die immer wieder wechselnde Erzählperspektive bekommt die Geschichte Tempo und liest sich wie in einem Rutsch durch. Ein Krimivergnügen – nicht nur für Frankfurter.

Verlag: Societäts-Verlag
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 12. Oktober 2021
ISBN: 978-3955424107
Preis: 15,00 € (E-Book: 10,99 €)

29. Dezember 2021

Alina Bronsky: Das Geschenk

An Weihnachten muss man die Wahrheit sagen – oder besser doch nicht?

Für die Vorstellung eines Weihnachtsbuchs mag ich schon etwas spät sein, wobei Alina Bronsky in „Das Geschenk“ auch nicht viel Besinnlichkeit aufkommen lässt. Im Gegensatz zum Verlag würde ich das Ganze zwar nicht unbedingt als „bitterböses Lesevergnügen“ beschreiben, hatte aber während der Lektüre dennoch gänzlich unweihnachtliche Überraschungsmomente.


Kathrin und Peter haben sich eigentlich auf ein Weihnachtsfest zu zweit gefreut – ohne erwachsene Kinder, Baum und Stress wollten sie die Feiertage einfach mal im Urlaub verbringen. Doch ein Anruf von Klaus hat Kathrin zu einer spontanen Planänderung veranlasst: Der verwitwete Freund hat das Paar eingeladen. Man hat sich lange nicht gesehen, die größte Gemeinsamkeit waren eigentlich die Kinder im ähnlichen Alter – aber zumindest Kathrin will den trauernden Witwer zum Fest der Liebe nicht alleine lassen. Bloß, dass der gar nicht alleine ist, sondern seine neue, junge Lebensgefährtin Sharon einfach nicht erwähnt hat. Und so wäre Kathrin und Peters mildtätiges Weihnachtsopfer gar nicht nötig gewesen, doch sie können sich schwerlich gleich wieder aus dem Staub machen. Und vielleicht gäbe es ja auch trotzdem noch Hoffnung auf angenehme Feiertage … wenn nicht Sharons flapsig-offene Art bei ihren Besuchern etwas auslösen würde. Und so bringt dieses Weihnachtsfest einiges ans Licht, das lange unter den Teppich gekehrt wurde und vielleicht auch besser da geblieben wäre.

Alina Bronsky seziert genüsslich, wie ein Paar durch eine unvorhergesehene Situation komplett aus dem Tritt kommt und erzählt eine Weihnachtsgeschichte, die sich gegen jede Form moralischer Überlegenheit auflehnt. Vermutlich hätte mir die Erzählung noch besser gefallen, wenn mir zumindest einer der Charaktere sympathisch gewesen wäre, aber richtig warm bin ich mit niemandem der vier geworden. Trotzdem liest sich dieses Büchlein schnell und knackig weg und bestätigt wieder einmal, dass das Gegenteil von gut durchaus gut gemeint sein kann. Wer vom Fest der Liebe desillusioniert ist, hat an „Das Geschenk“ vermutlich mehr Freude als echte Weihnachts-Liebhaber*innen.

Ob Weihnachtsmuffel oder -fan: Ich wünsche allen hier Mitlesenden einen guten Rutsch!



Verlag: edition chrismon
Seitenzahl: 112
Erscheinungsdatum: 9. September 2021
ISBN: 978-3960382966
Preis: 12,00 € (E-Book: 9,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

13. Dezember 2021

Rachel Hawkins: Die Verschwundene

Desperate Housewives meets Gone Girl.

Thornfield Estates hat mich ein bisschen an die Wisteria Lane aus „Desperate Housewives“ erinnert: prächtige Villen, gelangweilte Hausfrauen, Klatsch, Tratsch und Missgunst. Und mittendrin eine junge Frau, die schon rein optisch nicht reinpasst: Jane ist Anfang 20, hat weder Familie noch finanzielle Rücklagen und jobbt als Hundesitterin. Zu gerne wäre sie eine der Schönen und Reichen, deren Hunde sie ausführt. Doch plötzlich scheint sie diesem Ziel unverhofft näherzukommen: Eddie Rochester, ein frischgebackener Witwer, interessiert sich für sie – obwohl seine Frau erst seit wenigen Monaten verschwunden ist. Bea und ihre beste Freundin Blanche sind von einem Bootsausflug nicht zurückgekehrt; ein tragischer Unfall wird vermutet. Doch Eddie scheint entschlossen, nach vorne zu schauen, und Jane lässt sich nur zu gerne auf ihn und den ihn umgebenden Luxus ein. Doch der soziale Aufstieg hat seine Tücken; zusätzlich droht Janes Vergangenheit, sie einzuholen. Und sie ist nicht die einzige, die in Thornfield Estates etwas zu verbergen hat …


„Die Verschwundene“ hat mich immer wieder überrascht: Sobald ich annahm, die Geschichte einordnen zu können, kam verlässlich ein neuer Twist, der alle Gewissheiten ins Wanken brachte. Hier ist vieles nicht, wie es scheint, oder wie es geübte Thriller-Leser*innen vielleicht vermuten – und trotzdem bleiben die Entwicklungen stimmig. Der Roman ist aus verschiedenen Perspektiven geschrieben und liest sich dadurch temporeich und spannend. Perfekt, um aus dem Alltag abzutauchen.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 13. Dezember 2021
ISBN: ‎978-3453424159
Preis: 13,00 € (E-Book: 4,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.

5. Dezember 2021

Bülent Ceylan: Ankommen – Aber wo war ich eigentlich?

Sympathische Einblicke in Höhen und Tiefen.

Bülent Ceylan, der Monnemer Comedian mit den vermutlich schönsten Haaren der Szene, hat seine Biografie geschrieben. Hätte ich ihn nicht im Rahmen der ARD-Buchmessenacht daraus lesen hören, hätte ich ihr vermutlich keine größere Beachtung geschenkt, aber so war schon nach wenigen Sätzen klar: Er hat einiges zu erzählen und macht das auf eine sehr sympathische und authentische Art.


In „Ankommen – Aber wo war ich eigentlich?“ schildert Bülent Ceylan sein Leben – quasi vom Kennenlernen seiner Eltern bis heute. Wie es war, in den 1980ern als jüngster Spross einer sechsköpfigen deutsch-türkischen Patchworkfamilie in einer 68qm-Wohnung im Mannheimer Waldhof aufzuwachsen, von der Enttäuschung der väterlichen Verwandtschaft über seine mangelnden Türkischkenntnisse und dem Entschluss, sich in der Schule lieber „Billy“ zu nennen. Überhaupt, die Schule: Bülent war eher Streber als Klassenclown. Von Rückschlägen und Verletzungen erzählt er so ehrlich wie von der liebevollen und prägenden Beziehung zu seinen Eltern. Und dass seine ersten, vorsichtigen Karriereschritte keine Selbstläufer waren, Kaya Yanar die Rolle des „türkischen Comedian“ in den Augen von Veranstaltern komplett auszufüllen schien und er doch einige Zeit auf Kleinkunstbühnen in Mannheim und Umland verbrachte, bis der Durchbruch kam.

Insbesondere die Kapitel über Kindheit und Jugend fand ich toll erzählt, aber auch die Selbstfindung des jungen Erwachsenen ist authentisch und nachvollziehbar beschrieben. Und dann kam endlich der bundesweite Erfolg und mit ihm neue Themen: Bülents Tourfamilie, wie er seine Frau kennengelernt hat und auch kleine Einblicke in das Familienleben, das er aber verständlicherweise privat halten möchte.
Teilweise wird das Buch im letzten Drittel etwas sprunghaft und ist nicht mehr so stringent erzählt wie Bülents Aufwachsen. Spaß macht die Lektüre trotzdem und gibt auch noch ein paar Schlüsselloch-Einblicke in den Comedybetrieb. Der Eindruck, dass Bülent ein offener und liebenswerter Typ ist, bleibt – und wurde bei mir noch dadurch verstärkt, dass er nach seiner Lesung auf der Frankfurter Buchmesse seine Co-Autorin Astrid Herbold auf die Bühne holte, um ihr zu danken und sie „abzufeiern“. Ehre, wem Ehre gebührt – so scheint er seine Mitmenschen generell zu behandeln und trotz großem Erfolg die Bodenständigkeit nicht verloren zu haben. Und vermutlich wirkt Bülent Ceylan gerade dadurch so sympathisch; auf dem Papier wie bei seinen Auftritten.

Verlag: Fischer Taschenbuch
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 8. September 2021
ISBN: 978-3596706600
Preis: 18,00 € (E-Book: 16,99 €)

25. November 2021

Sarah Biasini: Die Schönheit des Himmels

Diffuse Fragmente.

Sarah Biasini ist die Tochter der Schauspielerin Romy Schneider und 2018 selbst Mutter geworden. Ihr Buch „Die Schönheit des Himmels“ hat sie für ihre eigene Tochter Anna geschrieben und damit schon vor deren Geburt begonnen. Einer der Gründe ist, dass sie Anna etwas hinterlassen will – so wie es ihr eigener Wunsch gewesen wäre, von ihrer Mutter ein persönliches Dokument hinterlassen zu bekommen.


Romy Schneider – Schauspiel-Ikone, unvergessener Filmstar – ist bereits 1982 gestorben; kein ganzes Jahr nach dem tragischen Tod ihres 14-jährigen Sohnes. Sarah Biasini war damals erst viereinhalb Jahre alt und hat kaum eigene Erinnerungen an ihre Mutter. Dafür begegnet sie immer wieder Menschen, die Romy Schneider verehren, behaupten, sie zu lieben oder ganz genau zu wissen, was in ihr vorgegangen ist. Eine große Hypothek für die Tochter, die sie hier fragmentarisch aufarbeitet. Mal geht es um Romy Schneider, mal um Anna, um ihren Lebensgefährten Gilles, ihren Vater und andere Wegbegleiter. Die Autorin schreibt sprunghaft und verweilt bei den meisten Themen nur flüchtig. Dennoch wird sie manchmal so persönlich, dass es mich fast schon irritiert hat – einiges scheint wirklich nur für die eigene Familie bestimmt, wird hier aber in Buchform generell zugänglich gemacht. Manche Gedanken von Biasini fand ich außerdem etwas seltsam: „Ich war immer davon überzeugt, dass das Geschlecht der Kinder vom Charakter der Mutter abhängt […]. Wenn es eine Mutter ist, die Frauen liebt, die keine Angst vor ihnen hat, ganz im Gegenteil, eine Frau, die ihr Geschlecht schätzt und es hochhält, wird sie ein Mädchen haben. […] Gibt man einer Frau wie mir die Möglichkeit, schwanger zu werden, wird sie unweigerlich ein Mädchen bekommen.“ (S. 48-49)

Wer hofft, in „Die Schönheit des Himmels“ Neues über Romy Schneider zu erfahren, wird enttäuscht sein – die abwesende Mutter ist zwar omnipräsent, aber dennoch Randfigur in Biasinis Leben. Auf mich hat es zum Teil gewirkt, als würde die Tochter mit diesem Buch eine gewisse Deutungshoheit über ihre Mutter zurückgewinnen wollen; gleichzeitig ein Vermächtnis für ihre Tochter Anna schaffen und das eigene Leben aufarbeiten. Die Einblicke, die sie Fremden dadurch gewährt, sind gleichzeitig oberflächlich und intim, Biasini lässt zum Teil tief in ihre Gefühlswelt blicken und springt dann wieder so von Thema zu Thema, dass Leserinnen und Leser kaum hinterherkommen. Ehrlich gesagt ist mir unklar, wer die Zielgruppe dieses Buches ist; sie bleibt diffus wie der gesamte Text. Dabei ist Biasini eine sympathische Autorin, der man nach der Lektüre einfach alles Gute wünschen möchte.

Verlag: Zsolnay
Seitenzahl: 192
Erscheinungsdatum: 25. Oktober 2021
ISBN: ‎978-3552072619
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

20. November 2021

Bernhard Schlink: Die Enkelin

Stimmig und fordernd.

Dass der kinderlose Buchhändler Kaspar Wettner je Großvater werden würde, hat er selbst nicht kommen sehen. Doch nach dem Tod seiner Frau Brigit deckt er deren Lebenslüge auf: Birgit hatte eine Tochter, die sie gleich nach der Geburt weggegeben hat – nur wenige Monate, bevor sie 1965 aus der DDR zu ihm nach Westdeutschland geflohen ist, wo sich die beiden in Berlin ihr gemeinsames Leben aufgebaut haben. Nun erfährt Kaspar, dass seine Frau lange damit gerungen hat, die verlorene Tochter wiederzufinden und beschließt, an ihrer Stelle zu suchen. Schließlich begegnet er Birgits Enkelin. Die beiden trennt vieles – ihre einzige Gemeinsamkeit ist die Neugier aufeinander.


In seinem neuesten Roman entführt Bernhard Schlink seine Leserinnen und Leser zunächst in eine andere Zeit und dann in eine andere Welt. Erst wird Birgits Geschichte erzählt, das Aufwachsen in der DDR thematisiert, ihre Abwendung vom Staat, ihre Flucht. Der westdeutsche Kaspar hat die DDR nur als Besucher erlebt, doch weitaus fremder als sie ist ihm die Welt, in der Birgits Enkelin Sigrun heranwächst: Sie lebt in einer völkischen Gemeinschaft mit klaren Feindbildern. Kaspar versucht, dem Mädchen seine Welt zu zeigen – unter den wachsamen Blicken der Eltern. Das fragile Band zwischen den beiden zieht sich über ein Spannungsfeld. Ich habe mitgebangt, ob es hält.

Egal welcher Weltanschauung, welchem Stück Zeitgeschichte sich Bernhard Schlink annimmt – er schildert es virtuos und scheut dabei weder Widerspruch noch Kritik. Mit klarer, präziser Sprache hat er auch hier wieder einen Roman geschaffen, bei dem einfach alles stimmt. Die Geschichte ist tragisch, stimmig und aufwühlend in einem, die Figuren haben Ecken, Kanten und immer Tiefgang. Es gelingt dem Autor, alle unterschiedlichen Motivationen irgendwie verständlich erscheinen zu lassen, ohne dass er es einer der Hauptfiguren besonders leicht machen würde. Denn eine klare Einteilung in schwarz und weiß, gut und böse – die gibt es bei Schlink nie. Ein sehr lesenswerter Roman, der extrem unterschiedliche deutsche Leben porträtiert und seine Leserinnen und Leser auch immer wieder dazu herausfordert, Position zu beziehen.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 27. Oktober 2021
ISBN: 978-3257071818
Preis: 25,00 € (E-Book: 21,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

4. November 2021

Marc Balzano: Wenn ich wiederkomme

Die im Dunkeln sieht man nicht.

Eine Mutter verlässt ihre Familie und es fällt ihr so schwer, dass sie sich nicht mal verabschiedet. So beginnt Marc Balzanos neuester Roman; eine tragische und doch leichtgängig erzählte Geschichte, die mich nicht mehr losgelassen hat. Danielas Kinder und Mann bleiben nicht lange im Unklaren: Die Rumänin hat einen Zettel hinterlassen und meldet sich auch schon bald – aus Mailand, wo sich Daniela nun um einen Pflegebedürftigen kümmert. Win-win, könnte man meinen – sie verdient Geld, mit dem sie ihren Kindern im rumänischen Heimatdorf eine gute Ausbildung finanziert sowie den Ausbau des Eigenheims, während der alte Mann dank ihr in seiner gewohnten Umgebung bleiben kann. Aber es ist ebenfalls Lose-lose: Daniela hat nie zuvor als Pflegerin gearbeitet und auch keine Neigung zu dem Beruf. Sie ist ein anständiger Mensch und kümmert sich fast rund um die Uhr so gut um den Patienten, wie es ihr – auch psychisch – möglich ist. Ideal ist die Situation jedoch für keinen von beiden.


Doch zunächst geht es in „Wenn ich wiederkomme“ weniger um Daniela und mehr um die Familie, die sie zurücklässt: ihren arbeitslosen Mann, ihre im Nachbarhaus wohnenden Eltern und ihre Kinder, die fast erwachsene Tochter Angelica und den zwölfjährigen Manuel. Letzterer scheint unter der Abwesenheit der Mutter am meisten zu leiden, ihre täglichen Anrufe sind kein Ersatz und halten die gegenseitige Entfremdung kaum auf. Seine schulischen Leistungen lassen nach, er zieht sich zurück. Und dann passiert etwas.

Marc Balzano skizziert ein Modell, das in vielen europäischen Ländern gelebt wird: Die osteuropäische Pflegekraft, die als 24-Stunden-Inhouse-Hilfe im Westen ihr Geld verdient – mehr Geld, als es ihr in ihrer Heimat möglich wäre (und natürlich weniger, als eine Einheimische oder ein Einheimischer bekommen würde). Doch der Autor widmet sich auch dem in der Regel unbeachteten Thema, das dahintersteht: Wie geht es eigentlich denen, die zurückbleiben? Und denen, die irgendwann zurückkehren? In „Wenn ich wiederkomme“ habe ich zum ersten Mal von der Italienkrankheit gelesen. Danielas Auslandsjahre gehen an keinem Familienmitglied spurlos vorbei; aufzuholen sind sie erst recht nicht. Hat sich ihr Opfer gelohnt?

Eine große Stärke dieses sehr gelungenen Romans ist, dass er keine einfachen Lösungen serviert, Haupt- und Nebenfiguren nicht in gut und böse einteilt und auch sonst nicht urteilt. Balzano bietet einen Einblick in verschiedene Schicksale und sensibilisiert für eine Thematik, über die gerne hinweggeschaut wird. Ein Roman über die fast Unsichtbaren, die in der Pflege vielerorts unersetzlich geworden sind – und über die Lücken, die sie woanders hinterlassen.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 29. September 2021
ISBN: 978-3257071702
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

29. Oktober 2021

Laetitia Colombani: Das Haus der Frauen

Hommage an einen besonderen Ort.

Laetitia Colombanis erster Roman „Der Zopf“ war bereits ein Bestseller und hat mir im Großen und Ganzen gut gefallen. Ihr zweites Buch „Das Haus der Frauen“ ist allerdings noch besser.


Colombani hat einen unverwechselbaren Stil, der gleichzeitig temporeich und flüchtig ist. Es ist nicht so, als würden sich die Ereignisse in ihren Romanen ständig überschlagen, doch trotzdem hatte ich in „Der Zopf“ wie auch hier den Eindruck, mit der Autorin durch die Geschichten zu rasen. Colombani erzählt, ohne ein Wort zu viel zu verlieren. Detaillierte Beschreibungen, tiefergehende Charakterstudien oder die Ausgestaltung kleiner Szenen sind nicht ihr Ding. Ich hatte ständig den Drang, mich selbst beim Lesen zu bremsen, um ja nichts zu verpassen. Und gleichzeitig gelingt es ihr, in dieser Knappheit trotzdem alles Wesentliche zu erzählen und eine Atmosphäre zu schaffen.

„Das Haus der Frauen“ erzählt abwechselnd die Geschichten von Blanche und Solène. Beide leben in Paris, Erstere jedoch vor fast 100 Jahren. Blanche ist seit vielen Jahrzehnten bei der Heilsarmee und kämpft unermüdlich gegen Armut und Elend, als sie und ihr Mann Albin 1925 ihr größtes Projekt in Angriff nehmen: Die Gründung eines großen Frauenhauses in Paris – es gilt als das erste seiner Art in der französischen Hauptstadt. Und es existiert noch heute!

In der Gegenwart sucht Solène diesen Ort auf – nicht als Zufluchtssuchende und eher widerwillig. Ein traumatisches Ereignis hat sie aus der Bahn geworfen, ihre Ärzte empfehlen ihr eine sinnstiftende Aufgabe, um langsam wieder in den Alltag zurückzufinden. Im „Haus der Frauen“ wird eine Schreiberin gesucht, die den Bewohnerinnen einmal pro Woche bei Schriftarbeiten aller Art hilft. Juristin Solène hat mit Behördenkram gerechnet, doch tatsächlich haben die Frauen ganz andere Wünsche an sie.

Und so wird die Geschichte dieses besonderen Ortes erzählt. Wie die Vision einer einzelnen Frau schließlich ein Obdach für viele entstehen ließ, ist hierbei sicher die bedeutendere Erzählung – vor allem, da sie wahr ist. Bei Solène geht es dagegen um einige Einzelschicksale, die Colombani reduziert, aber trotzdem sehr empathisch darstellt. Und so ist „Das Haus der Frauen“ im Ganzen eine Hommage an einen besonderen Ort in Paris, der manchen eine Perspektive gibt, die schon die Hoffnung darauf verloren hatten. Die Geschichte der Blanche Peyron scheint vor diesem Roman weitestgehend in Vergessenheit geraten zu sein; dass ihre Lebensleistung literarisch gewürdigt wird, ist hochverdient.

Verlag: Fischer Taschenbuch
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 24. Februar 2021
ISBN: 978-3596700103
Preis: 11,00 € (E-Book: 9,99 €)