11. September 2021

Paula Hawkins: Wer das Feuer entfacht

Raffinierter Pageturner.

„Girl on the train“ war ein internationaler Bestseller und hat mir sehr gefallen. Von Paula Hawkins folgendem Buch „Into the water“ war ich allerdings etwas enttäuscht. Nach dem Wasser kam nun das Feuer und dem wollte ich auch noch eine Chance geben. Und das hat sich mehr als gelohnt – der neueste Roman der britischen Autorin ist wirklich gelungen!


Roman, Krimi, Thriller – „Wer das Feuer entfacht“ ist ein bisschen von allem, wobei der Pageturner ganz klassisch mit einer Leiche beginnt: Daniel Sutherland, Anfang bis Mitte 20, wurde auf seinem schmuddeligen Hausboot brutal ermordet. Seine Nachbarin Miriam findet ihn, seine Tante Carla ist untröstlich und Laura, die er kurz vor seinem Tod noch abgeschleppt hatte, macht sich verdächtig. Die Polizei nimmt ihre Ermittlungen auf. Wer Daniel Sutherland auf dem Gewissen hat, blieb mir lange ein Rätsel, aber dieses Rätsel macht nicht den größten Reiz des Romans aus, sondern die Schicksale der anderen Charaktere. Miriam, Carla, Laura, aber auch weitere Nebenfiguren werden einfühlsam portraitiert. In dem Roman-Kosmos gibt es sehr unterschiedliche Menschen, die alle eint, dass sie auf irgendeine Weise beschädigt sind. Teils sieht man es ihnen an, teils können sie es kaschieren, doch alle haben ihr Päckchen zu tragen, bewältigen das jedoch nicht gleich gut.

Hawkins gelingt es durch häufige Perspektivwechsel, ihre Figuren nahbar werden zu lassen, ohne ihre Geheimnisse zu enthüllen. Gleichzeitig bleibt der Roman temporeich. Und dann schafft sie noch fast spielerisch, was für mich sowohl einen gelungenen Krimi als auch Thriller ausmacht: Viele kleine Details fügen sich unauffällig in den Lesefluss ein, haben am Ende aber eine ungeahnte Bedeutung für das Gesamtbild. Hinzu kommt ein überraschendes und dennoch stimmiges Finale, das den Roman raffiniert abrundet. Es ist schon ein paar Jahre her, dass ich „Girl on the train“ gelesen habe, aber ich würde behaupten, dass „Wer das Feuer entfacht“ bestens mit Hawkins Erfolgsroman mithalten kann.

Verlag: Blanvalet
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 6. September 2021
ISBN: 978-3764507824
Preis: 20,00 € (E-Book: 9,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.

31. August 2021

Sigrid Nunez: Was fehlt dir

Gedankentreiben.

Was fehlt dir – diese Frage könnte die Ich-Erzählerin des gleichnamigen Romans sicher nicht so einfach beantworten. Überhaupt ist sie kein Typ für schnelle Antworten, sondern eher eine abwägende Beobachterin; eine Schriftstellerin, die sich viele Gedanken macht und dabei nachsichtig mit ihren Mitmenschen umgeht: Sie lässt ihnen ihre falschen Erinnerungen, ihre Widersprüchlichkeiten und ihre Urteile. Die Namenlose wirkt, als würde sie sich vom Leben treiben lassen. Und die Lesenden werden mitgetrieben.


Sigrid Nunez Roman „Was fehlt dir“ besteht vor allem aus Gedanken, Erinnerungen, Bewertungen von Situationen aller möglichen Art, die oft etwas schwermütig daherkommen, mich aber doch ziemlich in ihren Bann gezogen haben. Die Autorin schreibt klug und empathisch über zwischenmenschliche Beziehungen, wobei ihre Erzählerin zu Menschen und Ereignissen generell eine gewisse Distanz wahrt. Ihrem stream of consciousness lässt sich gut folgen und sogar dem Krimi, den sie immer wieder zur Hand nimmt.
Sehr gefallen haben mir Stil, Sprache und Gedanken. Die eigentliche Handlung, die erst im zweiten Teil wirklich beginnt, ist berührend – die Begleitung einer krebskranken Freundin durch die Ich-Erzählerin. Der sehr kurze, dritte Teil enthielt allerdings nicht das von mir erwartete Romanende – eigentlich enthält er gar kein Ende. Dass so vieles offen und unausgesprochen bleibt, hat mich ziemlich überrascht – als wären der Autorin ihre Themen auf den letzten Seiten abhandengekommen. Aber gerade dadurch lässt einen „Was fehlt dir“ nicht richtig los. Ich kann mir gut vorstellen, noch weitere Romane der New Yorkerin zu lesen.

Verlag: Aufbau
Seitenzahl: 222
Erscheinungsdatum: 19. Juli 2021
ISBN: 978-3351038755
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

24. August 2021

Mithu Sanyal: Identitti

Wild, herausfordernd und Buchpreis-nominiert.

Heute ist die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2021 veröffentlicht worden. Ich habe mich sehr gefreut, „Identitti“ von Mithu Sanyal darauf zu finden!


Auf dem Cover dieses Romans ist die hinduistische Göttin Kali abgebildet: stark, wild und kämpferisch. Und genauso verhält sie sich als imaginäre Gesprächspartnerin der Hauptfigur Nivedita, die wiederum unter den Künstlernamen Mixed-Race Wonder-Woman und Identitti einen Blog schreibt, der letzteren außerdem als Titel hat. Und so verwirrend das vielleicht schon klingen mag – es ist erst der Anfang von „Identitti“.

Autorin Mithu Sanyal verlangt ihren Leserinnen und Lesern einiges ab – zumindest solchen wie mir, die sich mit Identitätspolitik noch kaum beschäftigt haben. Für Hauptfigur Nivedita, Düsseldorfer Studentin der Postcolonial Studies, ist es dagegen ein urvertrautes Themengebiet, in dem sie es durch Social Media sogar zu einer gewissen Prominenz gebracht hat. Kein Wunder also, dass es ihr den Boden unter den Füßen wegzieht, als die von ihr verehrte, charismatische Lehrstuhlinhaberin Saraswati in der Presse geoutet wird – als deutschstämmig und weiß. Saraswati hatte vorgegeben, indische Wurzeln zu haben; nun kommt raus, dass sie nur durch diverse Eingriffe wie eine PoC aussieht und mit bürgerlichem Namen Sarah Vera Thielmann heißt.

Dass die Frau, der sie ihre eigene Selbstfindung verdankt, die Welt und sie so schamlos betrogen hat, stürzt Nivedita in eine Identitätskrise. Nach der ersten Ohnmacht beschließt sie, Ex-Saraswati (wie die Professorin inzwischen in den sozialen Medien genannt wird) zur Rede zu stellen. Doch diese erscheint kein bisschen zerknirscht, sondern fabuliert von ihrer Überwindung des Weißseins. Und ab da wird diskutiert, demonstriert, angeklagt, geweint, verteidigt und es kommen weitere überraschende Enthüllungen auf den Tisch. „Identitti“ ist ein so dialoglastiger wie temporeicher Roman, in dem immer wieder Blogbeiträge, Twitter-Posts und E-Mail-Einschübe vorkommen. Ich brauchte ein bisschen, um mich an Nivedita zu gewöhnen, aber nach den ersten Kapiteln war ich in ihrer Denke soweit drin, dass mich Buch und Themen gepackt haben und mich selbst die Zwiegespräche mit der vielarmigen Kali nicht mehr irritierten. Ein schillernder, wilder und oft auch abgedrehter Roman, der seinen Leserinnen und Lesern immer wieder abverlangt, die eigene Position in Frage zu stellen und dem Denken eine neue Richtung zu geben. Wenn man sich auf „Identitti“ einlässt, ist es ein intensives und herausforderndes Lesevergnügen.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 432
Erscheinungsdatum: 15. Februar 2021
ISBN: 978-3446269217
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

11. August 2021

Gesa Neitzel: Löwenherzen

Hommage an die Wildnis.

Dieses Buch ist für alle, die wissen wollen, wie es der deutschen Rangerin Gesa Neitzel nach ihrer Ausbildung im südlichen Afrika ergangen ist. Es wird jedem Spaß machen, der sich für die Tierwelt dieses Teils der Erde interessiert. Und es weckt ohne Zweifel Fernweh, mit der Autorin, ihrem Lebensgefährten Frank und Land Rover Ellie die staubigen Straßen von Botswana, Namibia und Sambia zu bereisen.


Ungefähr drei Viertel von „Löwenherzen“ habe ich sehr gerne gelesen und auch das letzte war nicht schlecht. Während Gesa Neitzel ihre Erlebnisse in Botswana und Namibia jedoch einigermaßen chronologisch zu erzählen scheint, besteht der Sambia-Teil aus eher unzusammenhängenden Fragmenten; außerdem gibt es einen beachtlichen Zeitsprung. Neitzels Safari-Schilderungen lesen sich so anschaulich wie zuvor, dennoch fand ich es schade, wie schnell und bruchstückhaft diese letzten Kapitel abgehandelt wurden.

Die Teile über Botswana und Namibia erinnern eher an Neitzels Erstling „Frühstück mit Elefanten“. Die Autorin hat ihren authentischen Stil beibehalten und vermittelt viel Wissen über Land und Tiere. Hier und da gibt sie Privates preis, wobei sie alles andere als eine Selbstdarstellerin ist. Ihre Liebe zur Wildnis und zur Beobachtung von Tieren in ihrem natürlichen Lebensraum wird auf jeder Seite ebenso deutlich wie ihr Respekt für die Natur. Immer wieder schildert Neitzel ihre Faszination, plädiert leidenschaftlich für Umweltschutz und nimmt ihre Leserinnen und Leser mit ins Abenteuer. Entstanden ist ein würdiger Nachfolger von „Frühstück mit Elefanten“, auch wenn sich ihr erstes Buch aufgrund der Fülle an neuen Erfahrungen und Erkenntnissen und der dichteren Erzählweise noch mitreißender las.

Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 2. August 2021
ISBN: 978-3864931420
Preis: 16,99 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

4. August 2021

Felicity Ward: Sag mir, wer ich bin

Porträt eines Traumas.

Ein Tag im Jahr 1962 verändert das Leben der Kanadierin Sally Hamilton für immer: Die 16-jährige wird während ihrer Ferien in Paris von einem Unbekannten verschleppt, misshandelt und fast ermordet. Nach mehreren Tagen zwischen Leben und Tod erwacht sie in einem Krankenhaus; hier beginnt der Roman. Anfangs weiß die junge Frau nicht einmal mehr, wer sie ist und so dauert es, bis ihre Eltern ausfindig gemacht werden können und anreisen. Nach und nach kehren Sallys Erinnerungen zurück; nur jene an Tat und Täter bleiben verschwommen und bruchstückhaft. Sally stört das kaum, sie will sowieso nur vergessen. Doch ihre Ängste lassen sie nicht los und bestimmen ihr weiteres Leben, was beklemmend geschildert wird.


Die erste Hälfte des Romans fand ich sehr gelungen – die Beschreibung einer traumatisierten Frau, die versucht, ihren Albträumen mit einer Mischung aus Vermeidungs- und Konfrontationsstrategien zu trotzen. Sally möchte nicht über Paris reden und nach und nach gerät in ihrem Umfeld in Vergessenheit, dass sie fern ihrer Heimat Montreal einmal einen ominösen Zusammenbruch erlitten hat. Doch für Sally bleibt die Vergangenheit höchst lebendig – und scheint sie schließlich einzuholen.

Und ab da wurde „Sag mir, wer ich bin“ für meinen Geschmack leider schwächer. Die Schilderungen von Sallys Seelenleben sind einfühlsam und wirken meist authentisch. Wie sich eine nichtverarbeitete Gewalterfahrung noch Jahrzehnte später auswirken kann, führt der Roman erschütternd vor Augen. Doch das Verhalten eines weiteren Protagonisten gab mir Rätsel auf und so irritierte mich der finale Showdown mehr, als dass er mich mitriss.
Insgesamt liest sich der Roman wie ein langes Plädoyer für eine Therapie – es vergeht eigentlich kein Kapitel, in dem man sich nicht professionelle Hilfe für die Hauptfigur wünschen würde. Nebenbei ist einiges über das Montreal von vor 50 Jahren zu erfahren. „Sag mir, wer ich bin“, startet ziemlich packend, lässt im letzten Drittel jedoch nach und büßt an Nachvollziehbarkeit ein.

Verlag: Europa Verlag
Seitenzahl: 328
Erscheinungsdatum: 29. Juli 2021
ISBN:‎ 978-3958904057
Preis: 22,00 € (E-Book: 17,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

31. Juli 2021

Agatha Christie: Fata Morgana

Ungewohntes Mittelmaß.

Es war mal wieder Zeit für Agatha Christie. In diesem Fall ermittelt Miss Marple, es ist das fünfte von insgesamt zwölf Cosy Crimes mit ihr und der 43. Krimi der Autorin. Leider hatte ich den Eindruck, dass ihr hier die Puste etwas ausgegangen ist; die meisten ihrer Bücher sind kurzweiliger und raffinierter.


In „Fata Morgana“ besucht Miss Marple ihre alte Schulfreundin Carrie Louise, die in dritter Ehe verheiratet ist und mit ihrem Mann eine Einrichtung unterhält, in der junge, männliche Straftäter auf den rechten Weg zurückgelotst werden sollen. Das Ehepaar ist voller Idealismus, den längst nicht alle Familienmitglieder teilen. Und Familienmitglieder gibt es reichlich in dieser Patchwork-Sippe: Eine bereits verwitwete Tochter, eine relativ frisch verheiratete Enkelin, zwei längst erwachsene Stiefsöhne und einen aus erster Ehe, der fast das gleiche Alter wie Carrie Louise hat. Was die Sippschaft eint, ist die Liebe zu Carrie Louise, die fast zu gut für diese Welt wirkt. Doch irgendwer scheint es auf sie abgesehen zu haben …

Normalerweise führt Agatha Christie ihre Leser sehr gekonnt aufs Glatteis, doch hier fallen kleine Ungereimtheiten relativ schnell ins Auge. Außerdem scheint der Krimi einem etwas eintönigem Schema zu folgen: Zunächst schütten fast alle wichtigen Figuren Miss Marple nacheinander ihr Herz aus, dann passiert etwas und darauf folgt eine äußerst ausführliche Polizeibefragung, bei der wiederum sämtliche Protagonisten zu Wort kommen. Andere Krimis der Autorin sind deutlich abwechslungsreicher geschrieben, in diesem gibt es nicht ganz so viel Handlung. Insgesamt wirkt er etwas uninspiriert; es fehlen der Pfiff und die gewohnte Raffinesse. „Fata Morgana“ ist nicht schlecht, aber im Vergleich zu Christies anderen Krimis nur Mittelmaß.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Fata Morgana“ gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 208
Erscheinungsdatum: 4. September 2015; „Fata Morgana“ erschien jedoch bereits 1958 erstmals auf Deutsch (und 1952 auf Englisch).
ISBN: 978-3455650556
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

25. Juli 2021

Michael Robotham: Die andere Frau

Der elfte Fall.

Mit dem elften Band einer Reihe anzufangen, ist nicht die beste aller Ideen. Beim Griff zu diesem Buch hatte ich allerdings übersehen, dass es Teil einer Reihe ist und rechne bei Psychothrillern zudem generell nicht mit einem Serienformat. Dies findet sich eher bei Krimis – zu denen ich „Die andere Frau“ allerdings auch zählen würde. Das Buch hat mich also in mehrfacher Hinsicht überrascht.


„Die andere Frau“ lernt der Psychologe Joe O’Loughlin kennen, weil sie am Krankenbett seines Vaters William auf der Intensivstation sitzt. William liegt im Koma und die Fremde behauptet, dessen Ehefrau zu sein – seine andere Ehefrau, neben O’Loughlins Mutter. Joe ist wie vor den Kopf gestoßen und lässt die Unbekannte zunächst rausschmeißen, muss jedoch bald feststellen, dass diese sich nicht so schnell abwimmeln lässt. Außerdem entdeckt er, dass sein strenger, distanzierter Vater ihm völlig unbekannte Seiten hat.

Michael Robotham hat verschiedene Unstimmigkeiten eingebaut, die eventuell Spannung erzeugen sollten, die Geschichte für mich aber eher unglaubwürdig machten. Das Verhalten mehrerer Figuren wird nicht aufgeklärt und die Begründungen hierfür empfand ich als etwas billig. So ist beispielsweise Joes Mutter so aufgebracht, dass sie Gespräche über ihre Ehe quasi verweigert, anstatt Licht ins Dunkel zu bringen. Vater William scheint komplett konträre Wesenszüge zu haben, die die Lesenden aber nicht in Aktion erleben, da er ja im Koma liegt. Joes Schwestern sind eigentlich überflüssiges Beiwerk und bleiben komplett blass – wenn ich sie aus den früheren Büchern gekannt hätte, hätte ich das aber vielleicht anders empfunden. Die Hauptfigur selbst ermittelt auf eigene Faust und vergisst dabei leider immer wieder, seine Erkenntnisse mit dem zuständigen Detective Inspector Stuart Macdermid zu teilen. Und wann immer Joe nicht weiterweiß, kreuzt praktischerweise eine neue Spur seinen Weg. Das alles fand ich vor allem irritierend; Spannung kam eher wenig auf.

Trotzdem ist es nicht so, dass mir „Die andere Frau“ gar nicht gefallen hätte. Joes tragische Familiengeschichte als verwitweter Vater zweier Töchter war besser geschrieben als der eigentliche Fall, aber auch der las sich flüssig. Dass sich viele Figuren immer wieder aufs Neue unlogisch verhielten, hat mich allerdings gestört. Und so werde ich auf die Lektüre der zehn Vorgängerbände wohl erst einmal verzichten.

Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 27. Dezember 2018
ISBN:‎ 978-3442315048
Preis: 14,99 € (E-Book: 9,99 €)

11. Juli 2021

Daniela Krien: Der Brand

Sommer unterm Brennglas.

Auf dem Cover dieses Romans scheint die titelgebende Feuersbrunst abgebildet zu sein. Doch von dem Brand, der am Anfang dieser Geschichte steht, wird nur telefonisch berichtet. Die 49-jährige Hauptfigur Rahel erfährt kurz vor der Abreise, dass das seit Langem für den Sommerurlaub gebuchte Quartier abgebrannt ist. Und so fahren sie und ihr Mann Peter nicht in die Alpen, sondern in die Uckermark und hüten dort den Hof von Freunden, was mehr eine Pflichtübung als die ersehnte Auszeit ist. Dabei wollten sie doch Kraft tanken und einander wieder näherkommen – letzteres hatte sich zumindest Rahel erhofft. Als dann noch ihre Tochter mit den beiden Enkelkindern bei dem Paar einfällt, scheint jegliche Entspannung in weite Ferne gerückt.

„Der Brand“ handelt also von Familie, ist aber weit davon entfernt, eine amüsante Generationengeschichte zu sein. Und das liegt vor allem am sezierenden Stil von Autorin Daniela Krien, die unaufgeregt und schonungslos Gefühle und Situationen schildert. Dabei schafft sie es, ihre Figuren komplex zu charakterisieren, ohne sie zu bewerten oder die Sympathien klar zu verteilen. Krien ist eine dichte Erzählung gelungen, die sich aber auch durch eine überraschende Leichtigkeit auszeichnet, weil einige Themen nur angedeutet und längst nicht alle Krisen detailliert beschrieben oder gar gelöst werden. Dadurch wirkt der Roman sehr lebensnah. Sein großes Thema ist weniger die Geschichte einer Familie oder einer Ehe, sondern die Veränderung von Menschen und ihren Beziehungen im Laufe des Lebens. Die Autorin fängt beides auf eine leise, fast nebensächliche Art und Weise ein, aber ihre präzisen Beobachtungen haben mich das ein oder andere Mal kalt erwischt und einige Sätze hallen nach. Daniela Kriens Roman hinterlässt Spuren.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 28. Juli 2021
ISBN:‎ 978-3257070484
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

27. Juni 2021

John Green: Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?

Kurioser Mix, wunderbar erzählt.

Dieser Titel hat mich gleich angesprochen – im wahrsten Sinne des Wortes. Und das auch noch sehr höflich: „Wie hat Ihnen das Anthropozän bisher gefallen?“ Tja, gute Frage. Laut Wikipedia (das wiederum einen Artikel aus der NZZ zitiert) ist das Anthropozän „[das Zeitalter,] in dem der Mensch zu einem der wichtigsten Einflussfaktoren auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden ist“. Es gibt verschiedene Ansätze, die den Beginn des Anthropozäns unterschiedlich datieren. Fest steht, dass es das einzige Zeitalter ist, das wir kennen. Aber was macht es eigentlich aus?


John Green nähert sich dieser Frage in kurzen Kapiteln, in denen er über Dinge, Momente und Erfahrungen schreibt, die für ihn mit dem Anthropozän verbunden sind – z.B. Klimaanlagen, Diet Dr Pepper und Jerzy Dudeks sportliche Leistung am 25. Mai 2005. Ich habe Dr Pepper noch nie getrunken und Jerzy Dudek sagte mir nichts. Aber das ist völlig egal, gerade letztere Geschichte habe ich gleich zweimal gelesen, weil sie mir so gut gefallen hat (und vermutlich auch, weil gerade EM ist und es thematisch so schön passt). Viele der Kapitel beziehen sich auf die USA, da Green ein amerikanischer Autor ist – mehrere Überschriften sagten mir gar nichts. Doch das stört beim Lesen in keiner Weise, denn von diesem Autor lässt man sich einfach gerne lesend an die Hand nehmen und zu den verschiedensten Themen dieses bunten Mixes führen.

Allerdings erzählt John Green nicht nur – er bewertet auch, nach der bewährten 5-Sterne-Skala, die wir alle aus dem Internet kennen. Sogar sein eigenes Buch ist nicht vor ihm sicher; er lässt sich kritisch über Copyrightseite, Titelseite und die Buchwerbung am Schluss aus. Ansonsten bewertet er von Kanadagänsen (zwei Sterne) über unsere Fähigkeit zu staunen (dreieinhalb Sterne) bis hin zum Halleyschen Kometen (viereinhalb Sterne) jedes Thema, das er unter die Lupe nimmt – aber erst, nachdem er es sorgsam von mehreren Seiten beleuchtet hat. Green schreibt über seine persönliche Beziehung dazu, seine Gedanken, seine Erlebnisse und reichert das Ganze mit Fakten und (zum Teil wunderbar unnützem) Wissen an. Das liest sich mal faszinierend, mal skurril, mal anrührend, macht großen Spaß und bringt gleichzeitig zum Nachdenken. Die Art, in der John Green über Emotionen schreibt, hat mich dabei an Matt Haig erinnert und mir sehr gefallen.

Apropos: Wie hat mir das Anthropozän denn nun bis jetzt gefallen? Die Antwort auf diese Frage in eine 5-Sterne-Skala zu pressen, erscheint mir unmöglich. Aber John Greens Buch, dem gebe ich viereinhalb Sterne.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 18. Mai 2021
ISBN:‎ 978-3446270558
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

16. Juni 2021

David Safier: Miss Merkel

Mit Puffel und Putin.

Angela Merkel geht in den Ruhestand – und was kommt dann? Die Frage nach der nächsten Kanzlerin oder dem nächsten Kanzler beschäftigt viele. David Safier fragt sich stattdessen, was die zukünftige Altkanzlerin mit der neugewonnenen Freiheit und Freizeit wohl anstellen wird. Seine Antwort: Sie geht unter die Hobby-Detektive! Und das, obwohl in ihrer fiktiven neuen Heimat, dem beschaulichen Klein-Freudenstadt, eigentlich absolut nichts los ist.


Safiers „Miss Merkel“ findet es gar nicht so einfach, plötzlich ein Rentnerleben zu führen. Ihre Anfangsschwierigkeiten kompensiert sie mit Kuchenbacken, was ungute Effekte auf den Waschbrettbauch ihres Personenschützers Mike hat. Ehemann Achim, liebevoll „Puffel“ genannt, freut sich auf die ruhige Zweisamkeit – oder Dreisamkeit: Das Ehepaar Merkel/Sauer hat sich nämlich einen Mops namens Putin zugelegt. Nun fehlen nur noch ein paar neue Freunde, um in Klein-Freudenstadt Fuß zu fassen. Ein Fest auf der nahegelegenen Burg scheint eine gute Gelegenheit, um Leute kennenzulernen – doch dann verstirbt der Gastgeber in seinem von innen verschlossenen Weinkeller. Für den örtlichen Kommissar ein klarer Fall von Selbstmord, aber Angela Merkel hat Zweifel. Obwohl weder Ehemann noch Bodyguard begeistert sind, beginnt sie, Nachforschungen anzustellen und stößt dabei auf mehrere Ungereimtheiten …

Der Krimi steht und fällt mit seiner Hauptfigur – das dürfte kaum überraschen. Die in die Gedanken dieser fiktiven Angela Merkel eingestreuten Anekdötchen zum Berliner Betrieb sind durchaus amüsant zu lesen; auch das Zusammenleben mit Puffel und Putin sowie die Begegnungen mit dem gemeinen Volk sind unterhaltsam. Das Cosy Crime dient eher als Kulisse; Spannung kommt nicht wirklich auf und mit Miss Marple hat Miss Merkel in etwa so viel gemein wie Klein-Freudenstadt mit dem Prenzlauer Berg. Wegen des Genres sollte man also nicht zu diesem Buch greifen, die originelle Grundidee macht allerdings Spaß. David Safier beweist wieder einmal, dass er ein Meister der witzig-abstrusen Gedankenexperimente ist. Das Ergebnis ist ein netter Schmöker und trotz aller Absurditäten irgendwie auch eine Hommage auf Angela Merkel.

Verlag: Kindler
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 23. März 2021
ISBN:‎ 978-3463406657
Preis: 16,00 € (E-Book: 9,99 €)

6. Juni 2021

Katharina Döbler: Dein ist das Reich

Auf Südsee-Mission.

„Dein ist das Reich“ – was für ein mächtiger Titel. Er scheint gleich auf Mehreres anzuspielen: auf das Gottvertrauen der Protagonisten, aber auch auf das Reich Gottes, das sie den Papua auf Neuguinea nahebringen wollen. Die Idee, in ein fremdes Land einzudringen und den Einheimischen die eigene Kultur aufzuzwingen, könnte ebenfalls mitschwingen. Denn um all das geht es in diesem Buch, in dem die Autorin Katharina Döbler ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet.


1913 verlassen Döblers spätere Großväter Heiner Mohr und Johann Hensolt ihre fränkische Heimat und begeben sich auf eine lange Schiffsreise – noch nicht ahnend, dass sie dadurch dem Ersten Weltkrieg entgehen werden. Die jungen Männer sind von dem lutherischen Missionswerk in Neuendettelsau entsandt und auf dem Weg nach Kaiser-Wilhelms-Land, wie die deutsche Südsee-Kolonie heißt. Johann wird dort als Missionar arbeiten und Heiner als Pflanzer für die Bewirtschaftung einer Palmenplantage verantwortlich sein. Beide sind erst Anfang zwanzig.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Kolonie australisches Mandatsgebiet, doch die deutschen Missionsabgesandten dürfen bleiben und sogar ihre Bräute aus Deutschland nachholen. Marie und Linette sind grundverschieden und lernen sich auch erst viele Jahre später kennen, da die Familien in unterschiedlichen Teilen Neuguineas leben. Doch ihre Kinder, von denen sich zwei – Döblers Eltern – nach dem Zweiten Weltkrieg verloben werden, eint die Sehnsucht nach dem inzwischen verlorenen Paradies.

Man kann sich heute kaum vorstellen, wie es ist, die Heimat zu verlassen, um in einem Land zu leben, das man nur von ein paar Reiseberichten und Schwarzweißfotografien kennt. Und dann geht es noch nicht mal „nur“ um das Leben in der Fremde, sondern sie soll auch noch nach deutschen Vorstellungen bewirtschaftet und gestaltet werden, die indigenen Völker erzogen und missioniert. Die vier Franken glauben an ihren Auftrag, gehen mit der Herausforderung jedoch so unterschiedlich um wie mit dem später aufkeimenden Nationalsozialismus.

Döblers Roman tastet sich behutsam an die fiktionalisierten Schicksale ihrer Großeltern heran. Immer wieder werden alte Fotos und ihre Erinnerungen an Gespräche mit Familienangehörigen beschrieben. Doch am Lebendigsten lesen sich die Geschehnisse in Neuguinea. Was Kolonialismus bedeutet, wie Mission funktioniert – oder eben auch nicht: Döbler macht diese Themen nahbar. „Dein ist das Reich“ ist keine leichte oder bequeme Kost, der koloniale Rassismus und die Verkennung der politischen Entwicklung schmerzen ab und zu richtiggehend. Die unterschiedlichen Haltungen von Linette, Johann, Marie und Heiner regen außerdem zum Nachdenken an: Welche Irrungen sind im historischen Kontext nachvollziehbar – und welche nicht? Was macht Macht mit Menschen? Eine spannende Ergänzung wäre die Sicht der Papua auf die beschriebenen Missionsabgesandten, doch diese hätte den Roman sicher gesprengt. „Dein ist das Reich“ zerrt ein Stück eher unbekannter deutscher Kolonialgeschichte ans Licht, gewährt einen vielschichtigen Zugang dazu und trägt dazu bei, es vor dem Vergessen zu bewahren.

Verlag: Claassen
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 3. Mai 2021
ISBN: 978-3546100090
Preis: 24,00 € (E-Book: 21,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.