26. Juli 2020

Agatha Christie: Ein gefährlicher Gegner

Die unbekannten Abenteurer.

Agatha Christie verbindet man in erster Linie mit Hercule Poirot und Miss Marple. Überdies hat sie auch noch Krimis geschrieben, die ohne einen bestimmten Ermittler auskommen. Dass die Autorin aber noch ein Duo erschaffen hat, dass immerhin in vier Büchern und mehreren Kurzgeschichten zum Einsatz kommt, war mir bislang unbekannt. Jetzt habe ich den ersten Band mit Tuppence Cowley und Tommy Beresford gelesen.


„Ein gefährlicher Gegner“ ist das zweite Buch, das Agatha Christie überhaupt geschrieben hat. Es wurde 1922 in Großbritannien und den USA veröffentlicht; 10 Jahre später dann auch in deutscher Übersetzung. Es erinnert vage an „Die großen Vier“, den Krimi der Queen of Crime, der mir bislang am wenigsten gefallen hat: Eine temporeiche Agentengeschichte statt eines klassischen „Whodunnit“ zum Miträtseln, viel Action auf Kosten von Logik. Dennoch hat mir „Ein gefährlicher Gegner“ weitaus besser gefallen, was sicher an den Hauptfiguren liegt: Tuppence und Tommy sind Anfang 20, arbeitslos, knapp bei Kasse und auf der Suche nach lukrativen Abenteuern. Sie beschließen, ihre Dienste als Privatermittler anzubieten und stechen ganz unverhofft in ein Wespennest. Es geht um verschwundene Papiere von höchster Wichtigkeit, eine verschollene Amerikanerin und eine Verschwörung globalen Ausmaßes. Das Ganze ist für Tuppence und Tommy mindestens drei Nummern zu groß, denn sie sind nicht nur unerschrocken und hochmotiviert, sondern auch naiv und redselig. Doch das hat immerhin einen gewissen Charme.

Wie die beiden ins Abenteuer hinein und irgendwann dann auch wieder hinaus stolpern, fand ich gelungen. Im Mittelteil wurde es mir allerdings etwas zu albern. Hier werden beide Hauptfiguren abwechselnd entführt und festgehalten, wobei sie natürlich ganz nebenbei wichtigste Informationen erhalten. Und so bekam ich mal wieder den Eindruck, dass Agatha Christie der Mikrokosmos eben doch mehr liegt als der Makrokosmos – die Geschehnisse in einem Haushalt bildet sie in der Regel raffinierter und glaubwürdiger ab, als die einer globalen Verschwörung. Wobei sich das 100 Jahre später natürlich auch sehr leicht sagen lässt – heute stellt man sich globale Verschwörungen einfach ganz anders vor. Spaß hat mir Tommys und Tuppence‘ erster Fall trotz allem gemacht.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Ein gefährlicher Gegner“ gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 18. Juli 2017; „Ein gefährlicher Gegner“ erschien jedoch bereits 1932 erstmals auf Deutsch (und 1922 auf Englisch).
ISBN: 978-3455651355
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

16. Juli 2020

Kirsten Boie: Zurück in Sommerby

Auszeit vom Alltag.

Dann und wann ein Jugendbuch zu lesen, kann sehr entspannend sein – insbesondere, wenn es von einer Autorin ist, die man schon aus seiner eigenen Jugend kennt und die prima schreiben kann. Auf Kirsten Boie trifft beides zu. Perfekte Lesevoraussetzungen!


„Zurück in Sommerby“ ist der Nachfolgeband von „Ein Sommer in Sommerby“. Den ersten Roman habe ich nicht gelesen, würde das aber jedem empfehlen, bevor er „Zurück in Sommerby“ zur Hand nimmt. Zwar lässt sich der Geschichte auch so problemlos folgen, aber es fehlt eben doch einiges an Hintergrundwissen. In diesem zweiten Band verbringen Mats, Mikkel und Martha, drei Geschwister zwischen ungefähr vier und 13 Jahren, das zweite Mal die Ferien bei ihrer Großmutter Inge – die sie im ersten Band überhaupt erst kennengelernt haben. Inzwischen ist man vertraut mit den kleinen Eigenheiten des anderen, die aber dennoch Konfliktpotential bieten: So kann Tierfreund Mikkel nicht ertragen, dass seine Oma ihre Gänse irgendwann schlachten möchte. Sie dagegen findet es ärgerlich, dass er heimlich ihre Mausefalle entsorgt. Der kleine Mats möchte ausreißen und Martha fiebert vor allem dem Wiedersehen mit einem Dorfjungen entgegen. Doch das alles tritt in den Hintergrund, als ein alter Bekannter aus „Ein Sommer in Sommerby“ auftaucht: Ein windiger Makler, der den alten, idyllisch auf einer Landzunge gelegenen Hof von Oma Inge kaufen möchte. Und dem kein Trick zu schmutzig ist, um sein Ziel zu erreichen.

Kirsten Boie entwirft ihre Figuren wie gewohnt sehr liebevoll, mit viel Herz und kleinen Marotten. Sie schildert die Gedankenwelten aller drei Kinder höchst einfühlsam und nachvollziehbar, was oft amüsant und manchmal auch bedrückend ist. Die Erwachsenen sind eher Nebenfiguren, auch wenn Oma Inge ein echtes Original ist und ich sie förmlich vor mir sehen konnte. Trotzdem sind alle Charaktere komplex, bis auf den Makler, der einfach nur ein Schurke ist, aber auch das passt hier bestens. Die Geschichte ist mit unzähligen kleinen Anekdoten ausgestattet. Sommerby ist nicht das große Abenteuer, sondern der gemütliche Zufluchtsort, an dem die Uhren anders ticken. Die internetfreie Wohlfühloase, wo noch Marmelade eingekocht, mit der Hand gespült und Dialekt gesprochen wird. So, wie man es vielleicht aus seiner eigenen Kindheit von Besuchen bei den Großeltern in Erinnerung hat.

Verlag: Oetinger
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 13. Juli 2020
ISBN: 978-3751200011
Preis: 14,00 € (E-Book: 10,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

9. Juli 2020

Zoë Beck: Paradise City

Gläserne Zukunft.

Schon der Klappentext dieses Thrillers löst ein leichtes Gruseln aus: „Deutschland in der Zukunft. Die Küsten sind überschwemmt, die großen Pandemien überstanden, weite Teile des Landes sind entvölkert (…)“ … und dann spielt auch noch eine staatliche Gesundheits-App eine Rolle, deren Gemeinsamkeiten mit der Corona-App allerdings schon nach dem Wort „App“ enden.


„Paradise City“ mutet nur auf den ersten Blick erschreckend aktuell an, wartet aber dennoch mit zeitgemäßen Themen auf: Staatliche Kontrolle, Überwachung und Big Data im Gesundheitswesen bilden den Rahmen von Zoë Becks neuester Dystopie. Hauptfigur Liina wohnt in der Verwaltungseinheit Frankfurt, einer 10 Millionen Megacity, die gleichzeitig deutscher Regierungssitz ist. Vom Nahverkehr bis hin zum Grundeinkommen ist alles optimiert, nicht zuletzt der Mensch, der durch die Gesundheits-App KOS komplett überwacht wird, natürlich zu seinem eigenen Besten. KOS überwacht Vitalwerte, analysiert Blut- und Urinproben, verschreibt Medikamente und organisiert auch gleich ihre Lieferung per Drohne. Die App mahnt zu ausreichendem Schlaf, gesunder Ernährung und Sport und ruft, wenn nötig, auch eigenständig einen Krankenwagen. Liinas Chef, Mitinhaber einer der letzten nichtstaatlichen Nachrichtenagenturen, kann sie allerdings nicht mehr helfen: Er stürzt vor eine Bahn, während die Investigativjournalistin, mit der er zusammengearbeitet hat, ermordet wird. Kann das ein Zufall sein?

Ich mag Dystopien, die noch einen gewissen Bezug zur Realität haben und „Paradise City“ gehört ganz klar in diese Kategorie. Beck erklärt zwar nicht im Detail, welche Entwicklungen zu der beschriebenen Zukunft geführt haben, streut aber immer wieder kleine Erklärungen ein. Das liest sich gut. Auch die Handlung beginnt recht vielversprechend und thematisiert komplexe Trade-offs: Exzellente Versorgung und Wohlstand versus Freiheit – was ist größtmögliche Bequemlichkeit wert? Wieso keinem Algorithmus das Denken überlassen, wenn der doch viel schlauer ist – und zudem streng darauf programmiert, nur das Beste für Individuum und Gesellschaft zu wollen? Und was ist eigentlich objektiv das Beste?

Die Handlung enthält verschiedene Perspektiven auf diese Konflikte. Allerdings fand ich enttäuschend, dass ich weder an Liina noch an die anderen Figuren so dicht ran kam, dass ich mit ihnen gezittert oder gelitten hätte. Geschilderte Emotionen waren zwar nachvollziehbar, der Funke sprang aber einfach nicht über; da blieb immer eine gewisse Distanz. Und am Ende von „Paradise City“ fallen den Protagonisten jede Menge Erkenntnisse einfach so in den Schoß. 100 Seiten mehr hätten dem Ganzen vielleicht gutgetan – die Geschichte hätte sich langsamer aufbauen und glaubwürdiger entwickeln können, eventuell wären dann auch die Figuren greifbarer geworden. Dennoch: Die Grundidee ist spannend. Letztendlich geht es auch hier um die Frage, in welcher Gesellschaft wir eigentlich leben wollen und um was es sich zu kämpfen lohnt.

Verlag: Suhrkamp
Seitenzahl: 280
Erscheinungsdatum: 12. Juli 2020
ISBN: 978-3518470558
Preis: 16,00 € (E-Book: 13,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

29. Juni 2020

Karsten Dusse: Das Kind in mir will achtsam morden

Achtsamkeit meets Mafioso – Vol. 2.

Die Danksagung beschreibt dieses Buch als „Geschwisterkind. Es hat bei gleichem Genpool wie Achtsam morden seinen eigenen Charakter“. Und damit liefert der Autor gleich selbst zwei gute Gründe, diesen Roman zu lesen, denn „Achtsam morden“ war super – fand ich jedenfalls. Die Fortsetzung schafft es, nah am Erstling zu bleiben und dennoch kein Abklatsch zu sein.


Und das fasst schon ziemlich gut zusammen, warum ich mich bei „Das Kind in mir will achtsam morden“ bestens amüsiert habe. Karsten Dusse bringt Achtsamkeit und organisiertes Verbrechen erneut auf höchst unterhaltsame Weise zusammen. Zwar hat Hauptfigur Björn Diemel die Lektionen seines Achtsamkeitscoaches bereits in „Achtsam morden“ vollkommen verinnerlicht, muss jetzt allerdings feststellen, dass jemand sein neues, entspanntes, wertschätzendes Ich sabotiert: er selbst! Beziehungsweise: sein inneres Kind, das offensichtlich Heimat finden muss, was Coach Breitner natürlich in anderen Worten formuliert. Er empfiehlt Diemel eine Partnerschaftswoche mit seinem inneren Kind, um dessen Bedürfnisse verstehen zu lernen. Diese Woche hat es allerdings in sich: neben Emily, Diemels äußerem Kind, Katharina, seiner dauerverstimmten Noch-Frau und den Interims-Leitungen zweier Mafiaclans hat der Strafverteidiger zwar keine Leiche, aber dafür einen Russen im Keller. Und als der plötzlich weg ist, fangen die Probleme erst richtig an …

Was Dusse ganz wunderbar kann: Dinge auf die Spitze treiben – und darüber hinaus. Man denkt noch „er wird jetzt doch nicht …“ und dann passiert nicht nur das, sondern noch viel mehr. Dusse – und mit ihm seine Hauptfigur Björn Diemel – sind auf eine wunderbare Art und Weise komplett schmerzfrei. Das schafft immer wieder Überraschungseffekte, die irgendwo sicher absurd sind, sich aber gleichzeitig einfach wahnsinnig stimmig in die Geschichte einfügen. Diese entwickelt sich wie schon in „Achtsam morden“ mehr als kurzweilig. Dusse ist außerdem ein Meister im Aufnehmen loser Fäden und so bleiben am Ende nur wenige Fragen ungeklärt – aber genug, um mir Hoffnung zu geben, dass auch „Das Kind in mir will achtsam morden“ noch ein kleines Geschwisterchen bekommen könnte.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 11. Mai 2020
ISBN: 978-3453424449
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

20. Juni 2020

Corina Bomann: Die Sturmrose

Überladen und doch platt.

Auf Rügen im Urlaub sein und währenddessen einen auf Rügen spielenden Roman lesen – die Idee hat mir gefallen. Dieses Buch war jedoch trotz Binz-, Sassnitz- und Ostsee-Flair ein Missgriff; völlig überladen mit dramatischen Geschichten, die in seltsamem Kontrast zu den platten Dialogen standen. Schade!


Corina Bomanns Roman „Die Sturmrose“ handelt von der Werbefachfrau Annabel Hansen, die mit ihrer fünfjährigen Tochter Leonie nach Binz zieht, weil sie auf Rügen ein neues Leben beginnen will. Nachdem die beiden ihr Traumhaus bezogen haben, entdeckt Annabel im Sassnitzer Hafen auch noch ihr Traumschiff: die titelgebende „Sturmrose“, einen alten Kutter, der demnächst versteigert wird. Für Annabel ist es Liebe auf den ersten Blick, doch schnell stellt sich heraus, dass sie einen äußerst entschlossenen Mitbieter hat. Christian Merten trägt einige Geheimnisse mit sich herum, doch auch die „Sturmrose“ hat eine bewegtere Geschichte hinter sich, als Annabel ahnt.

Als Ich-Erzählerin lässt Annabel die Lesenden an jedem kleinsten Gedanken, jeder aufkeimenden Gefühlsregung teilhaben. Ich habe mir oft gewünscht, dass dem nicht so wäre, bewegt sich doch alles eher auf Soap-Niveau. Besonders fiel das auf, als drei andere Charaktere kapitelweise zu Wort kamen und ihre Geschichte erzählten: Der Stil blieb stets der gleiche, Gedanken und Dialoge waren einfach platt und so wirkten diese anderen Protagonisten ähnlich naiv wie die Hauptfigur, was mich beim Lesen doch ziemlich störte.

Insgesamt scheinen komplexe Charaktere nicht Bomannns Sache zu sein; es gibt viel Gut, etwas Böse und kaum Schattierungen. Der schmierige Ex-Stasi-Mitarbeiter, der verantwortungslose Exmann, die überaus patente Adoptivmutter und die so goldige wie pflegeleichte Fünfjährige – alle wirkten wie aus dem Bilderbuch. Und auch die Handlung mit ihren dramatischen Wendungen und ein paar unglaubwürdigen Zufällen überzeugte mich nicht, da wurde einfach viel zu viel zwischen die Buchdeckel gepresst: deutsch-deutsche Geschichte, Republikflucht, Adoption, Trennungsdrama, Liebesgeschichte, Schiff-Restaurierung … weniger wäre hier mehr gewesen, auf allen Ebenen. „Die Sturmrose“ konnte mich leider so gar nicht überzeugen.

Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 560
Erscheinungsdatum: 6. März 2015
ISBN: 978-3548286686
Preis: 11,00 € (E-Book: 8,99 €)

14. Juni 2020

Elizabeth Gilbert: City of Girls

Dranbleiben lohnt sich – oder: How I met your father.

Das ist bereits mein zweites Buch in Folge, in dem die Hauptfigur eine alte Dame ist. Auch hier wird rückblickend erzählt, Vivian Morris wendet sich allerdings im Gegensatz zu Madame Nan nicht an ihre Leserin bzw. ihren Leser, sondern an eine Bekannte namens Angela. Auch sonst gibt es kaum Gemeinsamkeiten zwischen den Protagonistinnen und ihren Geschichten – außer, dass das Lesen beider Romane Vergnügen bereitet.


In Elizabeth Gilberts „City of Girls“ erzählt die ca. 90-jährige New Yorkerin Vivian Morris ihr Leben nach dem „How I met your mother“-Prinzip. Sie kündigt an, von ihrer Beziehung zum Vater der danach fragenden Angela zu berichten, schildert dann jedoch erst einmal in aller Ausführlichkeit ihre Lebensgeschichte, in der dieser Mann – so viel sei verraten – längst nicht von Anfang an eine größere Rolle spielt. Vivian blickt auf ein für eine Frau aus ihrer Generation ungewöhnliches Leben zurück: Aus einer wohlhabenden WASP-Familie (weiß, angelsächsisch, protestantisch) stammend, scheint ihr Weg zwar vorgezeichnet, doch schon die erste Stufe, den Collegeabschluss, verpatzt sie mit 19 Jahren und wird daraufhin zu ihrer Tante Peg nach New York geschickt. Peg Buell besitzt ganz unkonventionell ein leicht heruntergekommenes Theater, das Lily Playhouse, in dem sich Vivian schnell heimisch fühlt – und außerdem nützlich machen kann: Als hochbegabte Hobby-Schneiderin ist sie schon bald für die Kostüme zuständig. Vivian freundet sich mit den Revuegirls an, geht aus, lernt Männer kennen und hat das Gefühl, zum ersten Mal richtig zu leben. Doch es ist der Sommer 1940; der Zweite Weltkrieg wirft auch in den USA schon seine Schatten voraus. Und unabhängig davon bringt sich Vivian noch in ganz andersartige Schwierigkeiten.

Davor hat die von „Eat Pray Love“-Autorin Elizabeth Gilbert geschaffene Protagonistin allerdings erst einmal viel Spaß, auch bei der Vorbereitung des neuen Stücks „City of Girls“, das dem „Lily Playhouse“ zu ungewohntem Glanz verhelfen soll. Allerdings hat mir das alles zu lange gedauert. Vivians Erkundungen von New York, die Vorbereitung des Stücks … im Nachhinein machte es Sinn, dass dieser Teil ihres Lebens so ausführlich erzählt wird, aber die erste Hälfte des Romans hat durchaus Längen. Der amüsant-plaudernde Erzählton ist an und für sich kurzweilig, die Anekdoten über das Theaterleben auch und das New-York-Flair mit Händen greifbar, aber dennoch: Die Geschichte kommt lange nicht so richtig in Schwung. Umso überraschter war ich, als das Erzähltempo in der zweiten Romanhälfte plötzlich rapide anzog; inklusive unerwarteter Wendungen. Jetzt ging es mir stellenweise fast zu schnell: Figuren, an die ich mich lange gewöhnt hatte, verschwanden abrupt auf Nimmerwiedersehen. Die Ereignisse wurden dabei durchweg berührend und spannend erzählt, als hätte man sich das durch die erste Hälfte erarbeiten müssen.

„City of Girls“ baut sich langsam auf, aber das Dranbleiben lohnt sich: Die gelungene zweite entschädigt für die vorbereitende erste Hälfte. Dennoch fand ich die Gewichtung der Ereignisse in dieser Lebensgeschichte mitunter etwas erstaunlich, habe mich aber fast immer gut unterhalten gefühlt.

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 496
Erscheinungsdatum: 27. Mai 2020
ISBN: 978-3100024763
Preis: 16,99 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

5. Juni 2020

Claire Stihlé: Wie uns die Liebe fand

Viel Herz, aber kein Kitsch.

Dieses Buch ist zweifellos ein Liebesroman; um das zu erraten, reicht ein flüchtiger Blick aufs Cover. Liebesromane lese ich eher selten, aber dieser hier hatte mein Interesse geweckt, als ich feststellte, dass die von der Liebe erzählende Ich-Erzählerin bereits 92 Jahre alt ist – das ist doch mal ein ungewöhnlicher Einstieg! Madame Nan, wie sie genannt wird, blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Wie sie und ihre vier Töchter einen Laden geschenkt bekamen und dieses Geschenk nach und nach nicht nur ihre Familie, sondern schließlich das komplette elsässische Dörfchen Bois-de-Val beeinflusste, davon handelt dieser Roman.


Claire Stihlés „Wie uns die Liebe fand“ ist eine zauberhafte Geschichte, in der es um ganz verschiedene Arten der Liebe geht: Die Liebe Madame Nans zu ihren Töchtern, zu ihrem verstorbenen Mann, zu ihren Eltern und ihrer Großmutter; um Liebe, die durch den Magen geht, die Liebe zum Elsass und nicht zuletzt ihre Liebe zum früheren Ladenbesitzer Monsieur Boberschram, der seinerseits niemanden außer seiner schon lange verstorbenen Frau zu lieben scheint. Und als wäre das nicht schon genug Liebe, stellen Madame Nans älteste Tochter Marie und deren Freund Malou auch noch „Liebesbomben“ her, die magische Verkupplungsdienste leisten. Zuviel des Guten, könnte man meinen, doch dieser Roman kommt zwar mit ganz viel Herz daher, aber ohne übertriebene Süße.

Grund dafür ist die Hauptfigur, die sich immer wieder in vertrauensvollem Ton direkt an den Leser wendet, erläutert, einordnet und ihre eigene Geschichte aus einer gewissen Distanz betrachtet. Ihr Leben ist untrennbar mit der Historie des Elsass verknüpft und so finden auch Kriegszeiten, tragische Ereignisse, Verrat und Enttäuschungen Erwähnung. „Wie uns die Liebe fand“ liest sich, als würde man mit Madame Nan auf ihrer Terrasse in Bois-de-Val sitzen und bei einem Glas Wein ihren Erzählungen lauschen. Manchmal waren sie mir einen Tick zu ausführlich und ausgeschmückt, aber alles in allem hätte ich ihr glatt noch länger zuhören können.

Verlag: Droemer
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 4. Mai 2020
ISBN: 978-3426307403
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

31. Mai 2020

Agatha Christie: Das Eulenhaus

Bewährt gut.

Laut dem Nachwort dieser Ausgabe hatte Agatha Christie das Gefühl, diesen Krimi „verpfuscht zu haben“ – und zwar ausgerechnet durch die Anwesenheit ihres Meisterdetektivs Hercule Poirot: „Ohne ihn, dachte ich, wäre das Buch besser geworden.“
Die Queen of Crime hat ja durchaus Bestseller geschrieben, die ohne Poirot oder auch Miss Marple auskommen – allen voran „Und dann gab‘s keines mehr“. Dass Poirot hier das Lesevergnügen schmälert, möchte ich aber nicht behaupten. Mir ist positiv aufgefallen, dass der Belgier untypisch zurückhaltend in Erscheinung tritt. Da sein Sidekick Hastings nicht mit von der Partie ist und auch sonst kein befreundeter Ermittler beteiligt, steht er weniger im Mittelpunkt als sonst, was ich als Abwechslung empfand – missen wollte ich Poirot aber nicht.


„Das Eulenhaus“ wurde 1946 veröffentlicht und war bereits der 37. Krimi von Agatha Christie sowie der 24. Fall, in dem sie Poirot ermitteln ließ. Er spielt auf einem englischen Landsitz, dessen Bewohner ein paar Familienmitglieder und Freunde zu einem entspannten Wochenende eingeladen haben. Doch nicht alle Beteiligten freuen sich gleichermaßen auf das Zusammentreffen und mit der Entspannung ist es spätestens vorbei, als einer der Gäste sterbend aufgefunden wird. Der Fall scheint auf den ersten Blick klar – aber wie so oft ist nicht alles so, wie es scheint …

Was mir besonders gut gefallen hat: Agatha Christie lässt hier einige sehr spezielle Charaktere aufeinandertreffen, in deren Seelenleben sie mehr Einblicke gewährt, als es sonst ihre Art ist. Das ist amüsant und macht den Krimi noch lebendiger. Die Auflösung hat kleine Schwächen, ist aber im Großen und Ganzen schlüssig erklärt, wobei ich natürlich ohne Poirot mal wieder nicht darauf gekommen wäre. Wie in den allermeisten Fällen bietet die Queen of Crime auch hier wieder verlässliches Lese- und Rätselvergnügen.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Das Eulenhaus“ gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 15. April 2015; „Das Eulenhaus“ erschien jedoch bereits 1947 erstmals auf Deutsch (und 1946 auf Englisch).
ISBN: 978-3455650266
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

21. Mai 2020

Basma Abdel Aziz: Das Tor

Über das Ausgeliefertsein.

Ich hatte hohe Erwartungen an diesen Roman, der laut New York Times „in einem Atemzug mit großen Klassikern wie George Orwells 1984 und Franz Kafkas Der Prozess genannt werden [muss]“. Er wird außerdem als „erste große Dystopie einer arabischen Autorin“ beworben. Diese kommt aus Kairo – habe ich überhaupt schon einmal einen Roman einer ägyptischen Autorin gelesen? Ich war mehr als neugierig.


Basma Abdel Aziz‘ „Das Tor“ spielt allem Anschein nach in Ägypten; namentlich werden jedoch weder das Land noch die Stadt, die Handlungsort ist, genannt. Letztendlich konzentriert sich alles auf das titelgebende Tor, das die staatliche Autorität verkörpert, die die Freiheiten der Bürger immer weiter einschränkt, dabei jedoch stets auf Distanz bleibt. „Das Tor“ steht nicht explizit für einen Machthaber, eine Regierung, eine Exekutive – es steht für sich. Und viele stehen vor ihm: Menschen, die Bescheinigungen benötigen, Anträge stellen oder Sachverhalte klären wollen, bilden eine Schlange – „The Queue“, wie das Buch in der englischen Übersetzung heißt. Sie warten geduldig, dass das Tor sich öffnet und sie ihr Anliegen vortragen können. Doch das Tor öffnet sich nicht und die Schlange wächst.

In der Warteschlange entsteht ein Mikrokosmos. Die Menschen freunden sich an und streiten sich; sie beginnen, sich gegenseitig mit Informationen zu versorgen und untereinander zu handeln. Einige predigen, denn auch die Religion spielt in diesem totalitären Staat eine große Rolle.
Die Anliegen, die die Menschen zum Tor geführt haben, sind ganz unterschiedlicher Art. Eine Lehrerin hat den Aufsatz einer Schülerin zu sehr gelobt – offensichtlich ein Fehler, doch über den Inhalt des Aufsatzes erfährt man nichts. Nun benötigt sie eine Unbedenklichkeitsbescheinigung, um ihren Beruf weiter ausüben zu können. Ein Mann fordert Gerechtigkeit, besser noch eine Ehrung und finanzielle Anerkennung für seinen im Staatsdienst verstorbenen Cousin. Und dann ist da noch Yahya, der während Ausschreitungen eine Schussverletzung abbekommen hat. Die Operation in einem der städtischen Krankenhäuser darf nur durchgeführt werden, wenn eine Bestätigung des Tors vorliegt. Und so wartet Yahya, während die Kugel in seinem Körper mehr und mehr Schaden anrichtet.

Was Abdel Aziz hervorragend schafft: ihren Lesern den Wahnsinn des totalitären Staats vor Augen zu führen, der seine Bürger mehr und mehr kontrolliert und nach und nach alle Bereiche ihres Lebens einschränkt. Die Autorin packt die dreistesten Erlasse in Nebensätze und schafft es so, dass man sich auch als Leser ohnmächtig fühlt. Alles was zählt, ist das Tor – das macht die Lektüre sperrig und auch etwas zäh, doch gleichzeitig ist es ein gelungener Kunstgriff, auch die Leser auf die Öffnung des Tors warten zu lassen. Das Warten bestimmt die Lektüre und das ganze Sein der Protagonisten – doch diese bleiben leider blass. Ihrem Werdegang, ihren Familien, ihren Hoffnungen und Wünschen wird kaum Raum gegeben, dabei hätte das den Roman deutlich abwechslungsreicher gestalten können. Aber vielleicht wollte die Autorin gerade das vermeiden, denn so teilt man nur das Gefühl des lethargischen Wartens mit den Figuren und bleibt wie sie auf das Tor konzentriert.

Insgesamt hat „Das Tor“ mich wenig berührt, aber dennoch erschreckt. Abdel Aziz illustriert anschaulich, was es bedeutet, einem totalitären Staat ausgeliefert zu sein. Die Lektüre ihres Buches fesselt nicht unbedingt und rüttelt nicht auf; dazu sind die Geschehnisse und Protagonisten nicht lebendig genug beschrieben. Doch die Ohnmacht der Figuren wird durchaus greifbar und macht die Lektüre dann doch auf eine bedrückende Weise beeindruckend.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 13. April 2020
ISBN: 978-3453320468
Preis: 14,99 € (E-Book: 11,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

14. Mai 2020

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt

Biografie mal anders.

Kürzlich habe ich meine erste Graphic Novel gelesen – einen Comic in Buchform. Sie war grandios gezeichnet und spannend erzählt, auch wenn vieles nur oberflächlich angerissen wurde.


Der amerikanische Autor und Cartoonist Ken Krimstein hat in „Die drei Leben der Hannah Arendt“ die Biografie der Theoretikerin illustriert. Im Nachwort äußert er die Hoffnung, mit dieser Graphic Biography „eine neue Leserschaft an Hannah Arendts bewegtes Leben [heranzuführen]“.
Der erste Teil beginnt mit Arendts Kindheit und umfasst ihr Leben in Deutschland, das 1933 ein jähes Ende findet – da ist sie 26 Jahre alt. Der zweite Abschnitt handelt von Arendts Flucht vor dem Nationalsozialismus, der dritte von ihrem amerikanischen Exil.

Krimsteins Hannah Arendt ist ein Eyecatcher – schon allein, weil sie in dieser Graphic Novel als Einzige etwas Farbe abbekommen hat. Ihre Kleidung ist grün: mal satt aufgetragen, mal mit deutlicher Übermalung der Linien, mal nur ansatzweise schraffiert. Arendts Gesicht wird oft nur mit wenigen Strichen skizziert und ist trotzdem ausdrucksstark. Emotionen wie Freude, Kummer, Zweifel und Erschöpfung wirken schnell aufs Papier gebracht und doch präzise erfasst. Obwohl sich alles um die Hauptfigur dreht, ist Krimsteins bildhaftes Erzählen sehr abwechslungsreich: kleine Porträts, seitenfüllende Gemälde; hier nur ein Kopf, da wieder eine komplette Szene. Die Auswahl der erzählten Anekdoten gibt einen insgesamt runden Eindruck von Hannah Arendts Leben – zumindest scheint es mir so, ich habe allerdings noch kein anderes Werk über sie gelesen. Natürlich sind viele Themen nur angerissen, aber ich glaube, alles andere hätte das hier gewählte Erzählformat gesprengt.

Leicht den Überblick habe ich verloren, wenn Krimstein ins Namedropping geriet: So verkehrte Hannah Arendt zu Beginn der 1930er Jahre wie viele andere Künstler im Romanischen Café in Berlin. Auf einer Doppelseite fasst der Autor zusammen, wer zu dieser Zeit dort noch ein- und ausging. Dankenswerterweise hat er die 16 Personen beschriftet sowie unter „Maler“, „Musiker“, „Regisseure“ und „Theoretiker“ kategorisiert und legt außer den letztgenannten auch noch jedem eine Sprechblase in den Mund. Das Spektrum reicht von Chagall bis Hitchcock, doch ich kannte längst nicht alle und der Großteil tritt auch nicht noch einmal in Erscheinung. Seiten wie diese vermittelten mir das Gefühl, dass hier noch viel Kontext gestreift wird, den Arendt-Kenner sicher trotzdem einordnen können, ich jedoch nicht. Wenn die Theoretikerin ins Philosophieren geriet, passierte das Gleiche: Ich hatte nicht den Eindruck, die volle Tiefe ihrer Gedanken in diesem Format zu erfassen. Aber besser, Inhalte zu streifen als ganz auf sie zu verzichten – denn ihnen mehr Raum zu geben, hätte hier wohl nicht geklappt.

Ich bin mit meinem ersten Ausflug in die Welt der Graphic Novels sehr zufrieden. Zwar ersetzt diese Graphic Biography keine normale Biographie, aber das Format an sich ist erfrischend. Es gewährt einen ungewohnten Zugang, macht Lust, mehr über Hannah Arendt zu erfahren und löst damit genau das ein, was Ken Krimstein beabsichtigt hat.

Verlag: dtv
Seitenzahl: 244
Erscheinungsdatum: 15. November 2019
ISBN: 978-3423282086
Preis: 16,90 €

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

6. Mai 2020

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

Wilder Ritt in bedrohlicher Atmosphäre.

Dieses Romandebüt stand laut Klappentext „monatelang auf der französischen Bestsellerliste, wurde mit 14 Literaturpreisen ausgezeichnet und wird in 20 Sprachen übersetzt“. Wow! Und trotzdem war ich mir zunächst unsicher, ob ich es wirklich lesen will. Coming-of-Age-Geschichten mag ich, aber diese hier klang düster. Und schon das Cover mit Krakelschrift, springendem Hasen und grellem Pink macht deutlich, dass dieses Buch keine Wohlfühllektüre ist.


Adeline Dieudonné hat in „Das wirkliche Leben“ eine namenlose Heldin erschaffen, die ich nicht so schnell vergessen werde. Das Mädchen ist zu Beginn des Romans erst 10 Jahre alt. Sie wohnt mit ihren Eltern, ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Gilles und einigen Haustieren in einem Einfamilienhaus in einer grauen Siedlung. Von außen mag alles normal wirken, doch der Schein trügt: Der Vater, ein passionierter Trophäenjäger, tyrannisiert seine Familie und verprügelt seine Frau. Deren einziges Glück scheinen die Tiere zu sein; die beiden Kinder bleiben weitestgehend sich selbst überlassen. Das Mädchen liebt seinen kleinen Bruder sehr, doch dann passiert etwas, das ihn von ihr wegtreibt. Gegen alle Widerstände beginnt die Protagonistin, um Gilles zu kämpfen.

Die Belgierin Dieudonné erzählt die brutalen Geschehnisse knapp und präzise aus Sicht ihrer einsamen, zerbrechlichen und doch starken Heldin. Der nur 240 Seiten umfassende Roman deckt dabei die sich zuspitzenden Ereignisse von vier oder fünf Jahren ab. Es gibt durchaus auch ein paar ruhigere Passagen, doch insgesamt liest sich die Coming-of-Age-Geschichte wie eine Hetzjagd: Die unterschwellige Bedrohung, der das Mädchen in seinem Zuhause von Anfang an ausgesetzt ist, ist omnipräsent – und nimmt mehr und mehr zu. Die Ich-Erzählerin bleibt stets wachsam, was sich auf mich als Leserin komplett übertragen hat und mich zunehmend nervös werden ließ. Und obwohl das Ganze sehr packend erzählt ist, musste ich „Das wirkliche Leben“ ab und an beiseitelegen, weil ich es stellenweise kaum ertragen konnte – doch gleichzeitig wollte ich diese ungewöhnliche Protagonistin, die mehr schultert, als es irgendeine Heranwachsende sollte, nicht alleine lassen. „Das wirkliche Leben“ geht unter die Haut. Letztlich ist es kein Roman über vernachlässigte Kinder in einem dysfunktionalen Elternhaus, sondern die Geschichte eines atemlosen Kampfes um eine Zukunft, für ein besseres Leben; für den Menschen, den man liebt. Ein verstörender Roman, der gleichzeitig Hoffnung macht.

Verlag: dtv
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 24. April 2020
ISBN: 978-3423282130
Preis: 18,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.