14. Mai 2020

Ken Krimstein: Die drei Leben der Hannah Arendt

Biografie mal anders.

Kürzlich habe ich meine erste Graphic Novel gelesen – einen Comic in Buchform. Sie war grandios gezeichnet und spannend erzählt, auch wenn vieles nur oberflächlich angerissen wurde.


Der amerikanische Autor und Cartoonist Ken Krimstein hat in „Die drei Leben der Hannah Arendt“ die Biografie der Theoretikerin illustriert. Im Nachwort äußert er die Hoffnung, mit dieser Graphic Biography „eine neue Leserschaft an Hannah Arendts bewegtes Leben [heranzuführen]“.
Der erste Teil beginnt mit Arendts Kindheit und umfasst ihr Leben in Deutschland, das 1933 ein jähes Ende findet – da ist sie 26 Jahre alt. Der zweite Abschnitt handelt von Arendts Flucht vor dem Nationalsozialismus, der dritte von ihrem amerikanischen Exil.

Krimsteins Hannah Arendt ist ein Eyecatcher – schon allein, weil sie in dieser Graphic Novel als Einzige etwas Farbe abbekommen hat. Ihre Kleidung ist grün: mal satt aufgetragen, mal mit deutlicher Übermalung der Linien, mal nur ansatzweise schraffiert. Arendts Gesicht wird oft nur mit wenigen Strichen skizziert und ist trotzdem ausdrucksstark. Emotionen wie Freude, Kummer, Zweifel und Erschöpfung wirken schnell aufs Papier gebracht und doch präzise erfasst. Obwohl sich alles um die Hauptfigur dreht, ist Krimsteins bildhaftes Erzählen sehr abwechslungsreich: kleine Porträts, seitenfüllende Gemälde; hier nur ein Kopf, da wieder eine komplette Szene. Die Auswahl der erzählten Anekdoten gibt einen insgesamt runden Eindruck von Hannah Arendts Leben – zumindest scheint es mir so, ich habe allerdings noch kein anderes Werk über sie gelesen. Natürlich sind viele Themen nur angerissen, aber ich glaube, alles andere hätte das hier gewählte Erzählformat gesprengt.

Leicht den Überblick habe ich verloren, wenn Krimstein ins Namedropping geriet: So verkehrte Hannah Arendt zu Beginn der 1930er Jahre wie viele andere Künstler im Romanischen Café in Berlin. Auf einer Doppelseite fasst der Autor zusammen, wer zu dieser Zeit dort noch ein- und ausging. Dankenswerterweise hat er die 16 Personen beschriftet sowie unter „Maler“, „Musiker“, „Regisseure“ und „Theoretiker“ kategorisiert und legt außer den letztgenannten auch noch jedem eine Sprechblase in den Mund. Das Spektrum reicht von Chagall bis Hitchcock, doch ich kannte längst nicht alle und der Großteil tritt auch nicht noch einmal in Erscheinung. Seiten wie diese vermittelten mir das Gefühl, dass hier noch viel Kontext gestreift wird, den Arendt-Kenner sicher trotzdem einordnen können, ich jedoch nicht. Wenn die Theoretikerin ins Philosophieren geriet, passierte das Gleiche: Ich hatte nicht den Eindruck, die volle Tiefe ihrer Gedanken in diesem Format zu erfassen. Aber besser, Inhalte zu streifen als ganz auf sie zu verzichten – denn ihnen mehr Raum zu geben, hätte hier wohl nicht geklappt.

Ich bin mit meinem ersten Ausflug in die Welt der Graphic Novels sehr zufrieden. Zwar ersetzt diese Graphic Biography keine normale Biographie, aber das Format an sich ist erfrischend. Es gewährt einen ungewohnten Zugang, macht Lust, mehr über Hannah Arendt zu erfahren und löst damit genau das ein, was Ken Krimstein beabsichtigt hat.

Verlag: dtv
Seitenzahl: 244
Erscheinungsdatum: 15. November 2019
ISBN: 978-3423282086
Preis: 16,90 €

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

6. Mai 2020

Adeline Dieudonné: Das wirkliche Leben

Wilder Ritt in bedrohlicher Atmosphäre.

Dieses Romandebüt stand laut Klappentext „monatelang auf der französischen Bestsellerliste, wurde mit 14 Literaturpreisen ausgezeichnet und wird in 20 Sprachen übersetzt“. Wow! Und trotzdem war ich mir zunächst unsicher, ob ich es wirklich lesen will. Coming-of-Age-Geschichten mag ich, aber diese hier klang düster. Und schon das Cover mit Krakelschrift, springendem Hasen und grellem Pink macht deutlich, dass dieses Buch keine Wohlfühllektüre ist.


Adeline Dieudonné hat in „Das wirkliche Leben“ eine namenlose Heldin erschaffen, die ich nicht so schnell vergessen werde. Das Mädchen ist zu Beginn des Romans erst 10 Jahre alt. Sie wohnt mit ihren Eltern, ihrem vier Jahre jüngeren Bruder Gilles und einigen Haustieren in einem Einfamilienhaus in einer grauen Siedlung. Von außen mag alles normal wirken, doch der Schein trügt: Der Vater, ein passionierter Trophäenjäger, tyrannisiert seine Familie und verprügelt seine Frau. Deren einziges Glück scheinen die Tiere zu sein; die beiden Kinder bleiben weitestgehend sich selbst überlassen. Das Mädchen liebt seinen kleinen Bruder sehr, doch dann passiert etwas, das ihn von ihr wegtreibt. Gegen alle Widerstände beginnt die Protagonistin, um Gilles zu kämpfen.

Die Belgierin Dieudonné erzählt die brutalen Geschehnisse knapp und präzise aus Sicht ihrer einsamen, zerbrechlichen und doch starken Heldin. Der nur 240 Seiten umfassende Roman deckt dabei die sich zuspitzenden Ereignisse von vier oder fünf Jahren ab. Es gibt durchaus auch ein paar ruhigere Passagen, doch insgesamt liest sich die Coming-of-Age-Geschichte wie eine Hetzjagd: Die unterschwellige Bedrohung, der das Mädchen in seinem Zuhause von Anfang an ausgesetzt ist, ist omnipräsent – und nimmt mehr und mehr zu. Die Ich-Erzählerin bleibt stets wachsam, was sich auf mich als Leserin komplett übertragen hat und mich zunehmend nervös werden ließ. Und obwohl das Ganze sehr packend erzählt ist, musste ich „Das wirkliche Leben“ ab und an beiseitelegen, weil ich es stellenweise kaum ertragen konnte – doch gleichzeitig wollte ich diese ungewöhnliche Protagonistin, die mehr schultert, als es irgendeine Heranwachsende sollte, nicht alleine lassen. „Das wirkliche Leben“ geht unter die Haut. Letztlich ist es kein Roman über vernachlässigte Kinder in einem dysfunktionalen Elternhaus, sondern die Geschichte eines atemlosen Kampfes um eine Zukunft, für ein besseres Leben; für den Menschen, den man liebt. Ein verstörender Roman, der gleichzeitig Hoffnung macht.

Verlag: dtv
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 24. April 2020
ISBN: 978-3423282130
Preis: 18,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

30. April 2020

Kevin Kwan: Crazy Rich Girlfriend

Jetset, Glamour und viel Bling-Bling: unterhaltsam mit kleinen Schwächen

„Crazy Rich Asians” hatte ich im letzten Jahr mit großem Vergnügen gelesen und mir nun endlich die Fortsetzung besorgt. Als ich sie aufschlug, war ich zunächst skeptisch: Der weitverzweigte Stammbaum der männlichen Hauptfigur ist im zweiten Band nicht mehr abgedruckt – wie sollte ich so auch nur den Hauch einer Chance haben, Nick Youngs Großfamilie ansatzweise zu überblicken? Aber abgesehen davon, dass ihm hier eher eine Nebenrolle zukommt, war die Anzahl der Figuren auch insgesamt überschaubar und ich kam gut klar.


Kevin Kwans „Crazy Rich Girlfriend“ spielt wieder im Kosmos der chinesischen Superreichen. Millionen oder Milliarden, altehrwürdig oder neureich, Singapur oder Festlandchina – was hier wirklich zählt, ist eine Wissenschaft für sich. Und in diese einzutauchen, ist auch in Band zwei wieder sehr amüsant. Abermals reisen Rachel und Nick nach China – inzwischen als Ehepaar. Wie im ersten Teil soll die Familie besucht werden, diesmal allerdings Rachels: Sie hat ihren Vater gefunden und erfahren, dass sie einen jüngeren Halbbruder hat. Mit ihm und seiner vermögenden Influencer-Freundin machen die frisch Vermählten Schanghai unsicher, aber auch ein Privatjet-Trip nach Paris darf natürlich nicht fehlen. Kwan würzt die Beschreibungen von Shopping-Ausflügen, Partys und dekadenten Empfängen mit jeder Menge Glamour, Bling-Bling und Essensbeschreibungen, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Tatsächlich hat mich das fast am meisten an Band eins erinnert: Die Beschreibung von allen möglichen chinesischen Delikatessen, nach deren Lektüre man gar nicht anders kann, als selbst beim Chinesen zu bestellen (ich habe einen richtigen Heißhunger auf Dim Sum entwickelt).

Aber auch in „Crazy Rich Girlfriend“ macht Reichtum nicht zwangsläufig glücklich und es gibt Neid, Intrigen und Missgunst, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß und so perfide eingefädelt wie in Band eins. Kwan hat zwar wieder überraschende Wendungen für seine Leser parat, aber einiges leitet er auch mit dem Holzhammer ein: Ein Handlungsstrang illustriert beispielsweise so richtig schön schwarzweiß, wie Geld den Charakter verderben kann – ein Viertel der darauf verwendeten Seiten hätte diese Botschaft allerdings genauso klar rüberkommen lassen. Der Erzählstrang um Kitty Pong, einem aus Teil eins bekannten Soapsternchen, das nun mithilfe eines Coaches in der gehobenen Gesellschaft ankommen will, liest sich da weitaus erfrischender.

Insgesamt fand ich „Crazy Rich Girlfriend“ etwas vorhersehbarer als den ersten Band, was sicher auch daran lag, dass das eben schon die zweite Begegnung mit dem von Kwan beschriebenen China der Superreichen war. Allen, die „Crazy Rich Asians“ mochten, ist der Roman zu empfehlen, wobei ich ihn besser mit weniger Abstand zum ersten Teil gelesen hätte. Band drei werde ich mir auf jeden Fall bald besorgen, denn nachdem ich mir die wichtigsten familiären Verwicklungen jetzt wieder draufgeschafft habe, bin ich doch sehr gespannt, wie Kevin Kwan seine Trilogie zu Ende führen wird.

Verlag: Kein & Aber
Seitenzahl: 576
Erscheinungsdatum: 12. November 2019
ISBN: 978-3036958057
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

23. April 2020

Timur Vermes: Die Hungrigen und die Satten

Grotesk, furchtbar und gleichzeitig brillant.

Wie viele andere habe ich vor Jahren „Er ist wieder da“ gelesen und war begeistert. Ich stelle es mir schwierig vor, nach so einem Erfolg einen zweiten Roman nachzulegen – mit dem ersten Buch als Messlatte. Timur Vermes ist es aber gelungen, eine weitere zynische, aufrüttelnde und irgendwie auch geniale Satire zu schreiben, die gegenüber seinem Bestseller keineswegs abfällt.


„Die Hungrigen und die Satten“ spielt zu großen Teilen in Afrika, dem „Land der Tiger und Marabus“ – oder waren es doch Marlboros? Schon das Zitat lässt ahnen, wohin die Reise geht – nämlich dahin, wo es sehr, sehr weh tut. Autor Timur Vermes ist hauptberuflich Journalist für Boulevardzeitungen und scheint sich mit Medien generell bestens auszukennen. Er karikiert das Reality-Fernsehen aufs Übelste: Die strunzdumme, aber erfolgreiche Moderatorin Nadeche Hackenbusch soll im Rahmen einer mehrteiligen Sendung ein großes Flüchtlingslager besuchen, in dem über zwei Millionen Menschen leben, irgendwo in Zentralafrika, fernab jeder größeren Stadt. Die Idee ist simpel: Der Culture Clash soll medial ausgeschlachtet werden, denn: „Es ist nicht das Leben, das die besten Geschichten schreibt, es ist das Fernsehen.“ Hackenbuschs Aufgabe als „Engel im Elend“ sieht unter anderem vor, eine Modenschau mit Flüchtlingsfrauen zu organisieren und werbewirksam Push-up-BHs ihrer eigenen Marke zu verschenken. Das Format startet sehr erfolgreich und die Quoten gehen steil nach oben – während die Moderatorin ihrem Sender mehr und mehr entgleitet. Und nach drei Wochen täglichem Reality-TV ist klar: Die Show geht nicht planmäßig zu Ende, sondern hat gerade erst angefangen. Hackenbusch tritt zwar die Heimreise an, wählt dafür jedoch den Fußweg und hat neben den auf sie gerichteten Kameras auch noch 150.000 Flüchtlinge im Schlepptau. Mit 15 Kilometern pro Tag bewegt sich der Treck langsam, aber stetig, Richtung Europa. Und in Deutschland, dem Ziel der Menschen, werden verschiedene TV-Leute, Politiker und Bürger zunehmend nervös …

Kurz gesagt: Der Plot dieses Romans ist irre – und wahnsinnig gut durchdacht. Die Logistik des Ganzen malt Vermes seinen Lesern so einfach wie überzeugend aus. Einige seiner Protagonisten sind komplett überzeichnete Klischees – doch dann überrascht er auch wieder, zum Beispiel mit der unsäglichen Hackenbusch. Diese hat zwar den IQ eines Kastenbrots, entwickelt aber dennoch eine innere Haltung. Die sie begleitende Frauenzeitschriftenredakteurin Astrid von Roëll schwankt dagegen nonstop zwischen Selbstmitleid und Größenwahn, während sie ihre schwer zu ertragenden Schmalzgeschichten verfasst. Eine Hauptfigur ist ein namenloser Flüchtling, der gecastet und instrumentalisiert über sich hinauswächst und dabei eigentlich immer nur eine Perspektive jenseits des Flüchtlingslagers wollte. Und einer der wenigen Sympathieträger des Romans ist ausgerechnet ein CSU-Innenminister. Vermes macht es seinen Lesern ganz und gar nicht leicht.

„Die Hungrigen und die Satten“ ist eine Mediensatire, die ein komplett entseeltes Bild von Privatfernsehen und Boulevardjournalismus zeichnet, aber auch eine satte Wohlstandsgesellschaft mit komplettem Empathieverlust karikiert. Zum einen ist der Roman natürlich total überspitzt, zum anderen immer so nah an der Realität und mit derart vielen Bezügen zu ihr, dass einem das Lachen im Halse stecken bleibt. Absolute Empfehlung!
Gerade der heutige Welttag des Buches eignet sich übrigens wunderbar zum Kauf neuer Lektüre :-)

Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 27. August 2018
ISBN: 978-3847906605
Preis: 22,00 € (E-Book: 9,99 €; ich habe die gebundene Ausgabe gelesen, der Roman ist aber am 31. Okober 2019 auch schon im Taschenbuch für 12,90 € erschienen.)

11. April 2020

Deon Meyer: Beute

Zwei Krimis in einem – erst sperrig, dann spannend.

Dieses Buch ist bereits der siebte Krimi um den südafrikanischen Ermittler Bennie Griessel. Er gehört zu einer auf Gewaltverbrechen spezialisierten Einheit der Kapstädter Polizei und hat ein Privatleben, das auch gut zu einem Tatort-Kommissar passen würde: Der trockene Alkoholiker ist zweifacher Vater, geschieden und neu liiert, kämpft gegen seine Dämonen und für ein friedlicheres Südafrika. Wer die früheren Bände gelesen hat, kann Kaptein Griessels Charakter sicherlich noch besser einschätzen; ich kannte bisher allerdings nur den fünften Teil der Reihe, „Icarus“. Bei der Lektüre gestört hat das nicht.


In Griessels neuestem Fall „Beute“ hat Autor Deon Meyer zwei größtenteils unabhängig voneinander verlaufende Handlungsstränge geschaffen. Griessel und sein Partner Cupido untersuchen den Tod eines Mannes, der auf der Fahrt durch Südafrika aus einem Luxuszug gestürzt ist. 8.900 km nordwestlich davon gerät ein Landsmann von ihnen, der um keinen Preis auffallen möchte, in eine Schlägerei. Doch die ist nur der Auftakt zu ganz anderen Problemen, die der in Bordeaux lebende Daniel Darret im Laufe der Geschichte noch bekommen wird.

Anfangs springt Deon Meyer noch kapitelweise zwischen Griessel und Darret hin und her. Später widmen sich dann auch mal fast hundert Seiten den Geschehnissen in Bordeaux, was mich ziemlich irritierte, weil Ermittler Griessel so gar keine Rolle mehr spielte und mein Südafrika-Krimi plötzlich ausschließlich in Frankreich angesiedelt war. Mit Safari-Romantik ist bei Deon Meyer allerdings eh nicht zu rechnen und auch sonst kommt kein Fernweh auf: Der in der Nähe von Kapstadt lebende Autor geht mit seinem Heimatland hart ins Gericht; Misswirtschaft, Korruption und Ungleichheit sind Themen, die immer wieder angesprochen werden.

„Beute“ liest sich dennoch gut. Der Krimi kommt zwar eher langsam in die Gänge, fesselt aber trotzdem. Meyer seziert Probleme, bis es weh tut. Mit den Ermittlern, denen ein Stein nach dem anderen in den Weg gelegt wird, habe ich irgendwann richtiggehend mitgelitten – wie auch mit Daniel Darret. Vor dem Finale habe ich mich fast gefürchtet, doch dann kam alles anders – und die Weichen für Band acht sind bereits gestellt.
Frohe Ostern!

Verlag: Rütten & Loening
Seitenzahl: 444
Erscheinungsdatum: 10. März 2020
ISBN: 978-3352009419
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

5. April 2020

Agatha Christie: Murder in Mesopotamia

Unterhaltsam und solide – nur die Auflösung überzeugt nicht ganz.

Agatha Christie schrieb im Laufe ihres 86-jährigen Lebens 66 Romane. Es ist also kein Wunder, wenn einem einige ihrer Titel gänzlich unbekannt erscheinen. Bei manchen, wie z.B. „Die großen Vier“, wird bei der Lektüre schnell klar, warum sie in der Versenkung verschwunden sind. Andere reichen vielleicht nicht an „Und dann gab’s keines mehr“, „Mord im Orientexpress“ oder „16 Uhr 50 ab Paddington“ heran, sind aber trotzdem geschickt und klug entwickelte Pageturner. Zu ihnen gehört der Krimi, den ich zuletzt gelesen habe.


Agatha Christies „Murder in Mesopotamia“ spielt im Irak. Die Schriftstellerin entwickelte ab Ende der 1920er Jahre ein Faible für den Nahen Osten. 1928 reiste sie mit dem Orientexpress nach Bagdad und lernte im Irak ein britisches Archäologenpaar kennen, das sie zwei Jahre später erneut an einer Ausgrabungsstätte besuchte. Bei dieser zweiten Reise traf sie auch ihren zweiten Ehemann, den an den Ausgrabungen beteiligten Max Mallowan.

Im 1936 auf Englisch und 1939 auf Deutsch veröffentlichten „Murder in Mesopotamia“ ermittelt Hercule Poirot, allerdings ohne seinen treuen Freund Hastings. Es dauert, bis der Detektiv am Tatort ankommt, einem abgelegenen Anwesen, in dem die an einer Ausgrabungsexpedition beteiligten Forscher mit ihren Ehefrauen untergebracht sind. Erzählerin der Geschehnisse ist Amy Leatheran, eine Krankenschwester, deren Namen ich mir während der gesamten Lektüre nicht merken konnte, da sie im englischen Original von allen nur als „Nurse“ angeredet wird. Leatheran hat eine Patientin von England in den Irak begleitet und soll nun die Frau des Ausgrabungsleiters Dr. Eric Leidner unterstützen, bevor sie wieder zurückreist. Mrs. Leidner hat kein körperliches Leiden, fühlt sich jedoch bedroht, und ihr Ehemann hofft auf den beruhigenden Einfluss der Krankenschwester, die vor allem als Gesellschaftsdame fungieren soll.

Vielleicht wollte Agatha Christie zur Abwechslung mal einen anderen Stil ausprobieren, denn dadurch, dass sie diesen Krimi aus Sicht von Nurse Leatheran erzählt, bekommt er einen ganz ungewohnten Ton. Die Krankenschwester nimmt kein Blatt vor den Mund, verleiht ihren Antipathien und Vorurteilen deutlich Ausdruck und verfügt ganz und gar nicht über das, was man heute als interkulturelle Kompetenz bezeichnet. Das Maß aller Dinge ist für sie selbstverständlich auch in der Ferne ihre Heimat Großbritannien, schon Poirot als Belgier ist ihr suspekt. Eine große Sympathieträgerin ist die Britin nicht unbedingt, aber sie bringt mal eine andere Farbe in Christies Werk und man kann sich durchaus vorstellen, dass die Queen of Crime Spaß daran hatte, eine gänzlich ungewohnte Perspektive auszuprobieren.

Zum Kriminalfall will ich keine weiteren Details verraten. Aufgrund des ungewöhnlichen Settings, des noch überschaubaren Personenkreises, der neuen Erzählerin und dem wie immer brillanten Poirot hat er mir gut gefallen. Auf die Auflösung wäre ich mal wieder nicht gekommen – allerdings ist sie doch etwas mehr an den Haaren herbeigezogen, als es sonst bei Agatha Christie der Fall ist. Dennoch hat mich „Murder in Mesopotamia“ gut unterhalten und muss sich in Christies Gesamtwerk keinesfalls verstecken.

Ich habe eine ältere Ausgabe von „Murder in Mesopotamia“ gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Harper Collins
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 24. März 2016; „Murder in Mesopotamia“ erschien jedoch bereits 1936 auf Englisch (und 1939 auf Deutsch).
ISBN: 978-0008164874
Preis: 6,69 € (E-Book: 6,99 €)

29. März 2020

Anna Hope: Was wir sind

Wenn nichts bleibt, wie es war.

In den ersten Kapiteln dieses Romans fällt folgender Satz: „Du solltest an Deinen Freundschaften festhalten […]. An den Frauen. Am Ende werden nur sie für Dich da sein.“ Doch das Festhalten an Freundschaften, auch oder gerade langjährigen Freundschaften, ist nicht immer einfach. Meist freundet man sich während einer ähnlichen Lebenssituation an, wenn man in räumlicher Nähe zueinander wohnt und zumindest teilweise ähnliche Interessen verfolgt. Aber was passiert, wenn sich diese Parameter ändern?


Davon handelt „Was wir sind“, der dritte Roman der britischen Autorin Anna Hope. Ihre drei Hauptfiguren Hannah, Lissa, Cate kennen sich aus Schule und Studium. Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf das Jahr 2004, als die drei 29-Jährigen gemeinsam in einer WG in London wohnen, das Wochenende und den Frühling genießen, im Park liegen, Wein trinken und den Tag vertrödeln. Doch schon sechs Jahre später sind die Weichen ganz anders gestellt: Cate hat eine Familie gegründet und ist nach Canterbury gezogen. Hannah und ihr Freund Nathan versuchen, ein Baby zu bekommen. Und Schauspielerin Lissa realisiert, dass sie ihren beruflichen Zenit mit Mitte 30 schon überschritten haben könnte.

Anna Hope räumt jeder der drei Figuren gleichermaßen Platz ein, alle Frauen kommen selbst zu Wort und berichten von ihren Erlebnissen. Zwischendurch gibt es Rückblicke, die von ihrem Kennenlernen, von Wendepunkten in ihren Leben und ihren Beziehungen zueinander erzählen. Der Roman heißt „Was wir sind“, doch was sie sind, ist Hannah, Lissa und Cate gar nicht immer so klar. Denn selbst, wenn man seinen Platz im Leben gefunden zu haben glaubt, muss dieser nicht für alle Zeiten sicher sein.

Die drei Protagonistinnen sind sehr unterschiedlich, doch Anna Hope schafft es, sie den Lesern gleich nah kommen zu lassen. Berührend dargestellt werden auch die inneren Nöte, die jede der Figuren hat – obwohl sie alle Leben führen, die Außenstehende als erfolgreich, angekommen und beneidenswert beurteilen könnten. Tatsächlich beneiden Hannah, Lissa und Cate sogar einander, und auch das ist nachvollziehbar: Was einer Freundin wichtig ist, fällt der anderen vielleicht mühelos in den Schoß, was die eine sich erkämpfen muss, bedeutet der anderen wenig. Doch wie viel Diskrepanz und Distanz hält ihre Freundschaft aus?

Der Roman liest sich schnell und intensiv und hat mir aufgrund seiner abwechslungsreichen Darstellungen und der Tiefe der Figuren gut gefallen. „Was wir sind“ ist keine Feelgood-Lektüre, sondern bittersüß und stellenweise durchaus unter die Haut gehend.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 17. Februar 2020
ISBN: 978-3446265639
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

22. März 2020

Anna Burns: Milchmann

Anstrengend und Eindruck hinterlassend.

Dieses hochgelobte Buch wurde mit dem Man Booker Prize 2018 ausgezeichnet – dem wichtigsten britischen Literaturpreis. Auf dem Buchrücken werden die Jury und die Zeitungen The Guardian und The New Yorker zitiert, die den Roman „überwältigend“ und „einzigartig“ fanden. Und wie hat er mir gefallen? „Einzigartig“ trifft es sicher. Aber eine Empfehlung auszusprechen, fällt mir schwer.


Mit „Milchmann“ verlangt die Autorin Anna Burns ihren Lesern einiges ab. Zum Beispiel stilistisch: Die Namen ihrer Protagonisten werden nicht genannt, nur ihre Spitznamen oder auch Bezeichnungen, die ausschließlich die namenlose Hauptfigur verwendet. Da gibt es „Vielleicht-Freund“, „Tablettenmädchen“ „Irgendwer McIrgendwas“, „Kleine Schwestern“ und natürlich „Milchmann“, nach dem dieser Roman benannt ist. Auch die Ich-Erzählerin wird ihrer jeweiligen Rolle gemäß angesprochen, z.B. als „Vielleicht-Freundin“, „Älteste Freundin“, „Tochter“ und „Mittelschwester“. Welche Position „Milchmann“ ihr zugedacht hat, ist allerdings lange unklar. Sicher ist nur: Der wesentlich ältere Mann sucht die Nähe der 18-Jährigen. Und dadurch fällt sie plötzlich auf, obwohl sie niemals auffallen wollte, denn das kann in einer Gesellschaft, in der jeder jeden belauert und verdächtigt, nur gefährlich werden.
Der Roman spielt in den 1970er Jahren in Nordirland, wobei letzteres zu keinem Zeitpunkt explizit genannt wird. Es gibt sehr viel „uns“ und „die anderen“, wobei letztere sich noch einmal in die „auf der anderen Seite der Hauptstraße“ und die „auf der anderen Seite der See“ aufspalten. Es herrschen jede Menge ungeschriebener Verhaltensregeln, z.B. Paramilitärs zu unterstützen, in keinem Fall ein Krankenhaus aufzusuchen und nicht im Gehen zu lesen.

Apropos lesen: Wie liest sich das Ganze denn nun? Wie sich vielleicht schon erahnen lässt: verwirrend. Anstrengend. Dass das Buch in größten Teilen als ein langer, innerer Monolog der zunehmend verunsicherten und verängstigten Hauptfigur daherkommt, macht die Lektüre nicht einfacher. Über lange Strecken passiert wenig, stattdessen wird viel reflektiert, wobei manchmal auch schwarzer Humor aufblitzt und die Absurdität der ganzen Situation immer stärker herausgearbeitet wird. Dabei hatte ich oft das Gefühl, dass mir zwischen den Zeilen eine ganze Menge entgehen könnte, da ich einfach viel zu wenig über die nordirische Geschichte weiß.
Unverwechselbar ist der Roman zweifellos, inhaltlich und stilistisch habe ich sicher noch nichts Derartiges gelesen. Die eindringlichen Beschreibungen des Lebens in einer toxischen, von Willkür und allgemeinem Misstrauen geprägten Atmosphäre werden mir sicherlich im Gedächtnis bleiben. Beeindruckt hat mich „Milchmann“; weiterverschenken würde ich dieses Buch jedoch nicht. Der Roman ist eher schwere Kost – ob man sich darauf einlassen will, muss jeder für sich selbst entscheiden.

Verlag: Tropen
Seitenzahl: 452
Erscheinungsdatum: 22. Februar 2020
ISBN: 978-3608504682
Preis: 25,00 € (E-Book: 9,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

11. März 2020

Carsten Sebastian Henn: Der Gin des Lebens

Faszinierender Gin, schwacher Krimi.

Zuletzt habe ich einen kulinarischen Krimi gelesen – ein beliebtes Genre, das ich bislang eher links liegen gelassen habe. Der Autor ist laut Klappentext „Kulinariker durch und durch“ und hat sich hier dem Gin verschrieben. Über diese Spirituose habe ich dann auch viel Faszinierendes erfahren. Der Krimi-Anteil dagegen – na ja. Ich bin ja durchaus ein Fan von Cosy Crimes und das hier sollte vermutlich eins sein – ist aber eher ein unfreiwilliges „absurd crime“ geworden.


Dass „Der Gin des Lebens“ ein Buch für Gin-Liebhaber ist, sieht man auf den ersten Blick: Am Cover, am Titel, an den Exkursen zum Thema Gin, die extra auf grauen Seiten gedruckt sind und dadurch sofort erblättert werden können. Ich mag Gin, hatte mir aber noch nie über seine Aromen Gedanken gemacht (und keine Ahnung, dass diese „Botanicals“ heißen). Was für eine Kunst Gin-Herstellung sein kann, war mir völlig neu. Alles rund ums Thema fand ich super erklärt und spannend zu lesen. Dieses Buch feiert den Gin: Jedem Kapitel sind ein Zitat zum Thema Alkohol und die Illustration eines „Botanicals“ vorangestellt, hinten finden sich neben einem Glossar auch noch Gin-Rezepte.
Außerdem ist „Der Gin des Lebens“ mit viel Herz für den Handlungsort Plymouth geschrieben, der sehr pittoresk geschildert wird. Die Schauplätze sind in eine Karte eingetragen, die sich sowohl in der vorderen als auch in der hinteren Coverklappe verbirgt. Für die liebevolle Gestaltung würde ich diesem Buch fünf von fünf Punkten geben.

Für die Geschichte allerdings nicht. Ich hatte die Leseprobe gelesen und war auf einen Krimi gefasst, in dem mehr gemenschelt als ermittelt wird. Und es menschelte dann auch sehr: Da hätten wir Cathy, die in Plymouth ein gemütliches Bed & Breakfast betreibt, mit viel Herz, schrulligen, aber liebenswertesten Stammgästen und einem verwunschenen Garten. Und sie ist Single – wie Bene, ein Deutscher, der auf den Spuren seines verstorbenen Vaters nach Plymouth reist. Klingt fast ein bisschen nach Rosamunde Pilcher, trotz des erstochenen Obdachlosen in Cathys Garten. Die Rollen sind außerdem klar verteilt: Es gibt die Guten und die Bösen, mehrdimensional sind nur wenige Charaktere.
Die Handlung entwickelt sich dann komplett hanebüchen. Mir erschienen viele Stränge nicht ansatzweise zu Ende gedacht, die Figuren reagierten oft sehr unlogisch auf Ereignisse und das hat mir das Buch doch ziemlich verdorben. Zum Thema Gin war also alles super, der Krimi an sich jedoch sehr enttäuschend. Aber vielleicht war es auch mein Fehler, vielleicht hätte ich mir zur Lektüre einfach einen Dry Martini mixen sollen und dann alles gnädiger beurteilt?

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 10. März 2020
ISBN: 978-3832183974
Preis: 16,00 € (E-Book: 11,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

29. Februar 2020

Patrik Svensson: Das Evangelium der Aale

Ode an den Aal.

Dieses Buch handelt von einem Fisch, besser gesagt: einer Fischart. Es ist kein Roman, sondern eher eine literarische Annäherung an die Spezies. Und das Ganze wirkt durch den Titel auch noch religiös. Das klingt zugebenermaßen alles eher seltsam, doch die höchst ungewöhnliche Erzählung liest sich komplett faszinierend.


In seinem Debüt „Das Evangelium der Aale“ hat sich der Schwede Patrik Svensson ganz und gar dem Europäischen Aal verschrieben. Und damit ist er in bester Gesellschaft: Schon Aristoteles und Sigmund Freud versuchten, das Leben des Aals zu erforschen. Erst Anfang des 20. Jahrhunderts konnte eingegrenzt werden, wo der Aal sich mutmaßlich fortpflanzt und stirbt: in der Sargassosee, einem Meeresgebiet im Atlantik, das 6.000 km von Europas Küsten entfernt liegt. Aale dort bei der Paarung zu beobachten oder die Fische zu züchten, ist bislang nicht gelungen. Der Aal hat viele seiner Geheimnisse lange und erfolgreich für sich behalten, einige bis heute. Von denen, die ihm zu entlocken waren und den Menschen, die sie ihm teils unter widrigsten Bedingungen entlockt haben, erzählt Patrik Svensson. Aber er berichtet auch von Angelnächten mit seinem Vater, von der Beziehung zwischen Mensch und Tier allgemein, von den Wundern der Natur und den unterschiedlichen Umgang mit ihnen. Die sogenannte Aalfrage und die Vater-Sohn-Beziehung sind dabei die Konstanten, auf die der Autor in seiner abwechslungsreichen Erzählung immer wieder zurückkommt. „Das Evangelium der Aale“ ist in erster Linie eine Ode an den Fisch, aber irgendwann wurde mir klar, dass es auch eine Hommage an den Vater des Autors beinhaltet.

Svensson erzählt behutsam, zum Teil erscheint sein Stil fast poetisch, seine Gedanken philosophisch. Mehr als einmal habe ich mich beim Lesen gefragt, warum ich über Aale so gar nichts wusste – und ob diese Spezies mein Interesse genauso sehr geweckt hätte, wenn ich beim Zappen in eine Naturdoku geraten wäre. Vermutlich nicht (obwohl der Aal wirklich ein einzigartiger Fisch ist!). Svensson hat sich mit seiner Erzählung zum Fürsprecher des Europäischen Aals gemacht, der vom Aussterben bedroht ist. Er verführt seine Leser richtiggehend, diesen nicht besonders gutaussehenden Fisch kennenzulernen. Und wer den Aal einmal kennengelernt hat, den lässt er nicht mehr so einfach los – das hat Svensson so oder ähnlich in irgendeiner Passage seines „Evangeliums“ festgestellt und ich kann ihm nur zustimmen.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 27. Januar 2020
ISBN: 978-3446265844
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

25. Februar 2020

Katya Apekina: Je tiefer das Wasser

Toxische Familienbande.

Dieses brillant erzählte Debüt hat mich stark beeindruckt. Ich habe bei jeder Gelegenheit gelesen und war dankbar für die vielen kleinen Kapitel, die oft nur zwei, drei Seiten umfassten. Gleichzeitig habe ich mich gefragt, warum mich die verstörende Figurenkonstellation in dem Roman nicht stärker abstößt – sie hat mich auf jeden Fall nicht vom Weiterlesen abgehalten.


Katya Apekinas Roman „Je tiefer das Wasser“ ist eine Familiengeschichte und gleichzeitig das Gegenteil von dem, was man normalerweise darunter versteht. Zu Beginn des Buches, im Jahr 1997, sind die 14-jährige Mae und ihre zwei Jahre ältere Schwester Edith gerade bei ihrem Vater in New York angekommen. Dennis hat die Mädchen vor 12 Jahren in Louisiana bei ihrer Mutter Marianne zurückgelassen, seitdem bestand kein Kontakt. Nun hat Marianne allerdings versucht, sich umzubringen. Nach ihrer Einlieferung in eine psychiatrische Klinik werden die Töchter bei dem ihnen fast unbekannten Vater, einem renommierten Autor, untergebracht. Und darauf reagieren beide Schwestern total unterschiedlich. Während Edith rebelliert, den Vater hasst, sehnsüchtig auf Nachrichten der Mutter wartet und es nicht erwarten kann, in ihr altes Leben zurückzukehren, ist Mae nur eines: glücklich. Sie, die der Mutter ähnlich ist und sich von dieser komplett vereinnahmt fühlte, wirkt wie befreit und will nur keinen Fehler machen, um in New York bleiben zu dürfen. Dem Leser schwant allerdings bald, dass die Entscheidung zwischen Mutter und Vater eine Wahl zwischen Pest und Cholera sein könnte. Und nach und nach steuert alles auf eine Katastrophe zu …

Apekinas Stil fördert die Sogwirkung dieses Romans. Viele der kurzen Kapitel sind aus den Perspektiven von Mae und Edith geschrieben, einige im Handlungsjahr 1997, einige zu anderen Zeiten. Doch es kommen noch weitere Erzähler zu Wort: Die Eltern Marianne und Dennis, aber auch deren Wegbegleiter sowie Bekannte der Mädchen. Einige treten nur einmal in Erscheinung, helfen aber durch ihre Außenperspektive, Ereignisse einzuordnen – oder? Die Autorin spielt mit der Diskrepanz zwischen Außen- und Innenwahrnehmung, Fantasie, Wahn und Wirklichkeit. Sie hat ein Puzzle erschaffen, das sich mehr und mehr zusammensetzt und so langsam das volle Ausmaß des Dramas zeigt. Die beiden Hauptfiguren, Mae und Edith, sind die Unberechenbaren in dieser Gleichung; stärker und eigensinniger, als es die Erwachsenen auch nur ahnen. Doch können sie sich wirklich aus diesen sie manipulierenden Familienbanden befreien?

„Je tiefer das Wasser“ ist ein höchst ungewöhnlicher Roman voller Figuren, die sich in keinerlei Schublade stecken lassen. Ich denke immer noch darauf herum, wer hier unschuldig schuldig wurde, wer Täter und wer Opfer ist. Was für ein faszinierendes Debüt!

Verlag: Suhrkamp
Seitenzahl: 396
Erscheinungsdatum: 17. Februar 2020
ISBN: 978-3518429075
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.