6. November 2019

Shari Lapena: Der zehnte Gast

Kurzweiliger Krimi im Christie-Stil

Das war bereits mein zweiter Thriller (bzw. eher Krimi) von Shari Lapena. „The couple next door“ hatte ich in gemischter Erinnerung: Durchaus spannend, aber mit Längen und auch Schwächen, vor allem in der Auflösung. Etwas vorsichtig ging ich daher an das neueste Buch der Autorin heran und war gespannt, ob mich das Ende dieses Mal nicht nur verblüffen, sondern auch überzeugen könnte. Umgehauen hat es mich nicht, war aber solide.


Shari Lapenas Setting in „Der zehnte Gast“ erinnert an ein Cosy Crime von Agatha Christie: Ein eingeschneites Luxushotel in der kanadischen Einöde, weder alle erwarteten Gäste noch das komplette Personal haben es rechtzeitig vor dem Eissturm ins Mitchell’s Inn geschafft. So sind nur sechs Zimmer belegt: Zwei junge Paare, ein älteres, eine Autorin und ein Staatsanwalt freuen sich mehr oder weniger auf ein weißes Wochenende. Der Inhaber und sein Sohn sind zuversichtlich, ihren Gästen auch unterbesetzt einen wunderschönen Aufenthalt bieten zu können. Doch bereits in der ersten Nacht fällt eissturmbedingt der Strom aus – und morgens wird eine Leiche gefunden …

„Der zehnte Gast“ enthält vieles, was einen guten Krimi ausmacht. Die überschaubare Anzahl an sehr unterschiedlichen Figuren hat mir gefallen, teilweise hätte ich mir die Charaktere allerdings etwas mehrdimensionaler gewünscht. Der ein oder andere Protagonist war mir zu schwarzweiß gezeichnet und so richtig sympathisch wird eigentlich auch keine der Figuren. Ordentlich Spannung kommt aber trotzdem auf, vor allem, da Lapena ihre Leser immer wieder in verschiedene Perspektiven schlüpfen lässt. Dadurch wird schnell klar: Mehr als einer der Anwesenden hat etwas zu verbergen. Aber macht das auch einen von ihnen zum Mörder?

Das Miträtseln hat mir Spaß gemacht und ich tappte lange – sehr lange – im Dunkeln und habe die Auflösung nicht kommen sehen. Das vielleicht etwas viel Zufall im Spiel war – geschenkt. Insgesamt ist „Der zehnte Gast“ solide Krimiunterhaltung an einem kalten Winterabend und lässt einen kaum mehr los, wenn man sich erstmal eingelesen hat. Mit Agatha Christie kann Lapena vom Raffinessegrad her nicht mithalten, aber es kann eben auch nur eine Queen of Crime geben (und, wie schon mal festgestellt: Auch die war nicht unfehlbar).

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 31. Oktober 2019
ISBN: 978-3431041279
Preis: 12,90 € (E-Book: 4,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar gelesen.

30. Oktober 2019

Bernhard Aichner: Der Fund

Grandioser Pageturner voller Wahnwitz

Dieser Thriller ist ein echtes Juwel. Das Cover sieht unscheinbar aus, doch in dem gelben Buchblock verbergen sich jede Menge Wahnwitz und Originalität. Der Erzählstil ist komplett ungewöhnlich. Kurz gesagt: Bereits nach wenigen Seiten bekam ich eine Ahnung vom Potential dieser Geschichte, die mich dann auch postwendend süchtig werden ließ.


„Der Fund“, um den es in dem gleichnamigen Thriller von Bernhard Aichner geht, wird von Supermarktverkäuferin Rita gemacht. Die unscheinbare und unbescholtene Mittfünfzigerin hat etwas entdeckt und entwendet – eine Entscheidung mit tödlichen Folgen: Bereits zu Beginn des Buches ist klar, dass Rita eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Aber was ist bloß passiert?

Das fragt sich auch ein männlicher Ermittler, über den sonst absolut nichts zu erfahren ist. Kapitel mit wörtlicher Rede – der Ermittler fragt, die oder der Befragte antworten – wechseln sich mit Rückblenden aus Ritas Leben ab. Die Kapitel sind kurz, der Erzählstil temporeich und die vielen Befragungen ergeben jede Menge Puzzlestücke – einzelne Anekdoten, von denen viele nicht zusammenhängen. Oder doch?

Die Ausgangssituation von „Der Fund“ ist so simpel wie der Plot einzigartig. Überdies ist Bernhard Aichner ein Meister des Menschlichen – er schildert Ängste, Sehnsüchte, Abgründe und Leidenschaften so lebendig, dass man die Figuren richtiggehend vor sich sieht. Und wann immer man denkt, man hätte die Geschichte endlich durschaut, vollführt der Autor eine 180 Grad-Wendung, die nicht vorhersehbar war und alle Ideen zum Einsturz bringt. Ein ungewöhnlicher, grandios erzählter Pageturner, der etwas wagt und alles gewinnt. Ich bin immer noch begeistert.

Verlag: btb Verlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 30. September 2019
ISBN: 978-3442757831
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

14. Oktober 2019

Veronika Peters: Die Dame hinter dem Vorhang

Von einer Dame, die ihrer Zeit voraus war

Nachdem ich gerade erst mit Annette von Droste-Hülshoff ins frühe 19. Jahrhundert eingetaucht bin, habe ich nun schon den nächsten Roman über eine Literatin gelesen, die ihrer Zeit weit voraus war. Im Gegensatz zur Droste sagte mir Edith Sitwell allerdings gar nichts, bis ich dieses vom Wunderraum Verlag farbenfroh-hübsch gestaltete Buch zur Hand nahm. Dabei war die 1887 geborene Engländerin ein Paradiesvogel ihrer Zeit und hatte ein für eine Frau damals ungewöhnliches Leben: Sie verfasste schon als Kind erste Werke, machte exzentrische Auftritte zu ihrem Markenzeichen, heiratete niemals und wurde 1954 vom Britischen Königshaus zur Dame geadelt.


Veronika Peters stellt Edith Sitwell in ihrem Buch „Die Dame hinter dem Vorhang“ gleich zwei ergebene Freundinnen zur Seite, die sie langjährig begleiten: Die erste ist Emma Banister, Gärtnertochter auf dem Adelssitz Renishaw, wo Familie Sitwell lebt. Emma ist sechs Jahre älter als Edith, doch die Mädchen freunden sich trotzdem heimlich an – was wohl vor allem daran liegt, dass „die kleine Miss E.“ Sitwell ein zutiefst einsames Kind ist, von seinem Vater mit Nichtbeachtung und seiner Mutter gar mit Verachtung gestraft. Emma bleibt viele Jahre die Vertraute von Edith und arbeitet schließlich als Hausmädchen im Herrenhaus.
Jahrzehnte später – und das ist der Beginn dieses nicht immer chronologisch erzählten Romans – bittet die inzwischen auf die 40 zugehende Edith Sitwell ihre Kindheitsfreundin, deren Tochter Jane Banister, knappe 18 Jahre alt,  als Hausmädchen einstellen zu dürfen. Aus Sicht dieser Jane, die ab da ihr Leben an der Seite von Sitwell verbringt, ist dieses Buch dann auch geschrieben. Es handelt von Freundschaft, Loyalität und Fürsorge und es hat mich fast geschmerzt, dass beide Banister-Frauen reine Erfindung sind. Sie habe ich in „Die Dame hinter dem Vorhang“ gut kennengelernt, während mir die Hauptfigur Edith Sitwell mit ihren Schrullen, Launen und Eigenarten doch ein Rätsel blieb. Als Dame Edith Alter und Möglichkeiten erreicht hatte, dem nachzugehen, was ihre Berufung war – Schreiben, Vortragen, Inszenieren, Fördern – hatte sie schon viele Verletzungen erlitten, war gewohnt, sich zu inszenieren und hinter einer dramatischen Fassade zu verstecken. Was wirklich in ihr vorging, wusste wohl kaum jemand. Veronika Peters Roman ist eine Hommage an ein exzentrisches Unikat, die sich federleicht lesen lässt, obwohl Dame Edith nicht wirklich greifbar wird. Allerdings habe ich mich insgeheim doch gefragt, ob dieses Buch der Künstlerin nicht viel zu brav und unaufgeregt gewesen wäre.

Verlag: Wunderraum
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 23. September 2019
ISBN: 978-3336548088
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

3. Oktober 2019

Agatha Christie: The Murder on the Links

Solider Fall mit irritierender Nebenhandlung

Hätte Agatha Christie Liebesromane geschrieben, würde sich heute kein Mensch mehr an ihr Werk erinnern – spätestens nach der Lektüre dieses Krimis bin ich davon überzeugt. Sicher hat man 1923, als dieses Buch auf Englisch erschien, anders über Zwischenmenschliches berichtet als heute. Dennoch: Die von Christie geschilderten Verbrechen scheinen fast zeitlos, wirken auch heute weder durchschaubar noch antiquiert. Beschreibt die Autorin dagegen Flirts und Liebesschwüre, wird zumindest mir ganz anders vor lauter Fremdscham.


Agatha Christies „The Murder on the Links“ ist eigentlich ein vielversprechender Fall: Poirot und seinen getreuen Gefährten Hastings ereilt der schriftliche Hilferuf eines in Frankreich lebenden Millionärs, der um sein Leben zu bangen scheint, jedoch in seinem Brief nicht ins Detail geht. Und obwohl sich der belgische Detektiv und sein Kompagnon direkt auf den Weg machen, treffen sie Herrn Renauld nicht mehr lebend an. Er wurde nachts auf dem Golfplatz erstochen. Seine Frau ist am Ende, sein Sohn verschweigt etwas, ein französischer Detektiv versucht, Poirot die Schau zu stehlen. Außerdem mischen gleich mehrere junge Frauen mit. Und so ist in „The Murder on the Links“ ganz schön was los. Der Fall ist ziemlich verzwickt, und zugegebenermaßen auch etwas überkonstruiert. Aber das hat mich kaum gestört. Und richtig gut gefallen hat mir, dass Poirot, anders als in Christies späteren Werken, nicht nur kryptische Andeutungen zu seinen Ermittlungen von sich gibt, sondern seine Gedanken mehrmals zumindest in Ansätzen teilt. Als ich dann nach 60% des E-Books einen plausiblen Verdacht hatte, was geschehen sein könnte, war ich fast stolz – das passiert mir bei Christie-Krimis eher selten.
Als nach 69% des Buches allerdings Poirot-Freund Hastings eine ähnliche Idee kam, desillusionierte mich das ziemlich. Denn wenn selbst er etwas merkt, muss die Sache einen Haken haben. Im Wikipedia-Eintrag zu „Mord auf dem Golfplatz“ steht, dass Christie selbst zugegeben hat, diese von ihr geschaffene Figur nicht zu mögen – kein Wunder. Es ist in der Kriminalliteratur kein Einzelfall, dass ein ermittelndes Genie einen loyalen Freund hat, neben dem es umso mehr glänzt, ohne die Bodenhaftung ganz zu verlieren. Aber Arthur Hastings stellt sich in „The Murder on the Links“ stellenweise so treudoof-dumm an, dass die Lektüre schon fast wehtut.
Apropos Wehtun: Und dann gibt es hier auch noch eine Liebesgeschichte, die zumindest aus heutiger Sicht so gar nicht überzeugt. Die „Queen of Crime“ wäre sicher niemals eine „Queen of Love“ geworden. „The Murder on the Links“ war allerdings auch erst ihr dritter Krimi, sie stand noch am Beginn ihrer Karriere. Es war übrigens auch ihr erstes auf Deutsch erscheinendes Buch (1927). Vielleicht muss man es als Frühwerk betrachten.
Habe ich „The Murder on the Links“ nun gerne gelesen? Trotz allem ja. Würde ich das Buch empfehlen? Wohl nur Christie-Fans.

Verlag: Harper Collins
Seitenzahl: 319
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 21. Mai 2015 (Erstausgabe: 1923)
ISBN: 978-0008129460
Preis: 7,99 € (E-Book: 1,07 €)

23. September 2019

Dror Mishani: Drei

„Bitte, liebe Leserinnen und Leser, versucht die Rezensionen so zu verfassen, dass das Geheimnis von Drei nicht enthüllt wird“ – so die Bitte des Diogenes-Verlags, die den Leseexemplaren dieses Romans beilag. Der genannte Wunsch machte mich schon einmal sehr neugierig auf das Buch – wie auch die Leserstimme auf dessen Rücken: „Rund um Mishanis neuen Roman Drei gibt es einen Hype, als ginge es um die neueste Staffel Game of Thrones.“ Tatsächlich stand dieses Buch mehrere Monate auf Platz 1 der israelischen Bestsellerliste (obwohl es mit Drachen, Schlachten, Fantasy absolut nichts zu tun hat). Aber was hat es denn nun mit diesem Hype auf sich?


Der von Dror Mishani geschriebene Roman „Drei“ handelt von drei in Israel lebenden Frauen, jeder von ihnen ist ein Abschnitt gewidmet. Orna, Emilia und Ella lernen jeweils denselben Mann kennen – einen Anwalt namens Gil Chamtzani. Die Auslöser für ihre Begegnungen sind unterschiedlich, wie sich auch alle von ihnen in unterschiedlichen Situationen befinden. Obwohl Gil die Konstante ist, die in jedem Abschnitt eine Rolle spielt, stehen die Frauen ganz klar im Fokus. Und sie sind Dror Mishani richtig gut gelungen; er proträtiert ihr Innenleben sehr einfühlsam und äußerst nachvollziehbar: Selbstverständnis, Sehnsüchte, Verletzungen und Ängste. Das Nachwort besteht aus einem Interview mit dem Autor, in dem er nach der Herausforderung gefragt wird, als Mann aus der Perspektive von Frauen zu schreiben. Seine Antwort finde ich spannend: „Wenn ich über männliche Figuren schreibe, ähneln sie immer mir. Meine weiblichen Figuren sind ganz anders als ich und sie unterscheiden sich auch untereinander.“
Mishani kennt seine Frauenfiguren in- und auswendig und gibt ihnen viel Raum. Die Gedanken von Gil lernt der Leser dagegen nicht kennen, was ich etwas bedauert habe.

Doch was ist nun das Besondere an „Drei“? Das Unvorhersehbare, das ich hier nicht andeuten will. Die von Mishani kreierten Richtungswechsel. Die Frauen, die mich beim Lesen nicht mehr losgelassen haben. Das „Hätte, Wäre, Würde“-Kino, das der Roman in meinem Kopf ausgelöst hat. „Drei“ ist ein intensives Leseerlebnis und Mishani ein Name, den ich mir merken werde. Übrigens auch, weil momentan gleich zwei Verfilmungen geplant sind: eine israelische TV-Serie und ihre internationale Adaption. Das sind doch Aussichten!

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 336
Erscheinungsdatum: 28. August 2019
ISBN: 978-3257070842
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

19. September 2019

Karen Duve: Fräulein Nettes kurzer Sommer

Diese Autorin kannte ich bereits – von ihren Romanen „Taxi“, „Dies ist kein Liebeslied“ und „Die entführte Prinzessin“. Einen historischen Roman über Annette von Droste-Hülshoff hätte ich von ihr allerdings nicht unbedingt erwartet. Historische Romane lese ich generell eher selten und wenn sie dann auch noch 592 Seiten haben, überlege ich mir dreimal, ob ich zugreife. Habe ich hier aber, weil ich mir relativ sicher war, dass diese Autorin etwas Besonderes aus ihrem Thema machen würde. Und ich wurde nicht enttäuscht.


Karen Duve schildert in „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ die Jugendjahre der Annette von Droste-Hülshoff. Sie ist Anfang 20, wohnt – wie im 19. Jahrhundert für unverheiratete adelige Damen üblich – bei ihren Eltern, schreibt Gedichte und besucht häufig die weitläufige Verwandtschaft. Die standesüblichen Beschäftigungen junger Damen – sticken, stricken, Gartenpflege – interessieren sie wenig, nur zum Musizieren lässt sie sich hin und wieder hinreißen und hat da anscheinend ein gewisses Talent, wenn auch ihre laute, grelle Stimme als nicht besonders ladylike empfunden wird.

Aber so richtig ladylike ist Fräulein Nette eh nicht bzw. scheint sie den ihr zugedachten Platz in der Gesellschaft immer wieder zu vergessen. Nette will schreiben, dichten, sich mit anderen Autoren messen und mit Literaturkennern fachsimpeln. Doch leider ist das alles mehr oder weniger unweiblich. Von ihren zum Teil Germanistik studierenden Onkeln als Mädchen noch gelobt und belächelt, wird sie immer stärker in die Schranken gewiesen, je erwachsener sie wird und je mehr ihr Talent zum Vorschein kommt. Doch dann, während eines magischen Sommers, trifft Nette auf einen sogenannten „Herzensfreund“, einen Seelenverwandten, der ihre (sämtlich noch unveröffentlichten) Werke rühmt und sie ernster nimmt, als sie es je erlebt hat. Und er bleibt nicht der einzige, den die sonst kränkelnde, stark kurzsichtige und oft etwas überspannte Droste-Hülshoff in ihren Bann zieht. Die Verwandtschaft ist entgeistert.

Karen Duve betreibt in „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ Namedropping der besten Sorte. Annettes Radius ist nicht riesig, der ihres zeitweise in Göttingen studierenden Onkels August jedoch umso größer. Er verkehrt mit den Grimms (den Gebrüdern sowie ihren Geschwistern), Hoffmann von Fallersleben, später findet sich sogar noch Heine an der Göttinger Universität ein. Man verehrt das Altdeutsche, streitet, ob Goethe oder Schiller besser schreibt und fordert sich gegenseitig auch schon mal zum Duell. Duve lässt alle Literaten sehr lebendig werden. Man sitzt mit ihnen in heruntergekommenen Studentenkammern, bleibt mit ihnen in der Kutsche stecken und leistet ihnen auch bei ihren endlosen Dialogen in der Kneipe Gesellschaft. Generell macht die Autorin ihre Figuren nahbar; streut immer wieder Humor und Situationskomik ein und zeigt, dass es auch schon vor 200 Jahren menschelte. Neid, Intrigen und heimliche Liebschaften – alles da. Und so blieb ich am Ball, während Teile der literarischen Szene des frühen 19. Jahrhunderts ausgiebig beleuchtet wurden, auch wenn ich mich manchmal fragte, ob man das Ganze nicht doch etwas verkürzen hätte können.
Wer Lust hat, eine der größten deutschen Dichterinnen des 19. Jahrhunderts mal „privat“ zu erleben, bekommt hier die Gelegenheit. Die Droste wird nicht nur als verkanntes Genie geschildert, sondern kann auch lachen, lästern und sich anstellen. Und so ist „Fräulein Nettes kurzer Sommer“ eine augenzwinkernde Hommage an ihre Hauptfigur.

Verlag: Galiani Berlin
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 7. September 2018
ISBN: 978-3869711386
Preis: 25,00 € (E-Book: 22,99 €)

11. September 2019

Simon Stranger: Vergesst unsere Namen nicht

Dieses Buch fällt für mich mal wieder unter die Rubrik „Don’t judge a book by its cover“. Letzteres ist mir etwas zu pathetisch geraten: Kleine Mädchen in sepia, die in Trümmern spielen, der Titel ein mahnender Appell. Die schlichte Gestaltung des norwegischen Originals gefällt mir weitaus besser; „Lexikon von Licht und Schatten“ ist außerdem ein treffender Titel, hat der Autor seinen Roman doch auf ungewöhnliche Art und Weise gegliedert: nach dem Alphabet.


Der Norweger Simon Stranger hat sich mit seinem Roman „Vergesst unsere Namen nicht“ einiges vorgenommen – und schafft das auch: Er arbeitet die jüdische Familiengeschichte seiner Ehefrau auf. Er setzt den von den Nazis während der deutschen Besatzung ermordeten norwegischen Juden und Widerstandskämpfern ein Denkmal. Und er führt vor Augen, zu welchen Gräueltaten Menschen fähig sind. Letzteres wird am Beispiel der Trondheimer Rinnan-Bande gezeigt, die, angeführt vom Norweger Henry Rinnan, im Auftrag der Nationalsozialisten die eigenen Landsleute ausspionierte, erpresste, folterte und auch tötete. Henry Rinnan konnte nach dem Zweiten Weltkrieg der Prozess gemacht werden; er endete mit seinem Todesurteil. Seine Taten sind gut dokumentiert, im Gegensatz zu den Leben seiner Opfern, die deportiert, ins Gefängnis geschafft oder ermordet wurden.
Während der Besatzung Norwegens wurde auch Hirsch Komissar erschossen – der Urgroßvater von Simon Strangers Ehefrau, ein Jude, an den ein Stolperstein in Trondheim erinnert. Eine direkte Verbindung von Rinnan zu ihm lässt sich nicht nachweisen, doch sie lebten zur gleichen Zeit in der gleichen Stadt. Zu Beginn seines Buches berichtet Stranger, dass der jüdischen Tradition nach ein Mensch erst dann wirklich tot ist, wenn sich niemand mehr an seinen Namen erinnert. Für die Erinnerung an Hirsch Komissar sorgen außer dem Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig, der seit 1992 bereits über 70.000 kleine Gedenktafeln verlegt hat, Komissars Nachkommen – und außerdem dieses Buch, das immer wieder von seinem Leben und Sterben erzählt.

Den Fakten will Stranger möglichst gerecht zu werden. Zeiten und Orte sind belegt, die geschilderten Gedanken und Gefühle aber natürlich nicht. Sein gesamtes Buch über balanciert der Autor zwischen Historie und Roman, was ihm überraschend gut glückt. Täter Rinnan wird dabei mehr Raum gegeben als Hirsch Komissar, was an der unterschiedlichen Quellenlage liegt. Stranger hat nichtfiktives und fiktives Material äußerst behutsam miteinander verwoben. Weniger behutsam, sondern zum Teil unerträglich sind dagegen die – geschichtlich belegten – Gewaltexzesse im Bandenquartier von Rinnan, der seine Oper eigenhändig gefoltert hat. Hier konnte ich einige der expliziten Beschreibungen nur überfliegen.

„Vergesst unsere Namen nicht“ ist assoziativ erzählt – der Autor springt zwischen Zeiten, Orten und Personen hin und her. Als Orientierungspunkt dient hier das Alphabet; von A bis Z werden meist mehrere Stichwörter pro Buchstabe aufgegriffen. So wirkt der Roman anfangs wie eine ungeordnete Anekdotensammlung, was meinen Lesefluss jedoch nicht gestört hat. Im Gegenteil: Er machte die Lektüre erträglicher, auf Schreckliches folgten Alltag oder Gedanken zu Reue, Vergebung und Versöhnung. Und so ist dieses Buch wirklich ein "Lexikon von Licht und Schatten", wie es auch im Originaltitel heißt. Stranger ist eine besondere Komposition gelungen, die vielleicht wegen des ungewöhnlichen Aufbaus noch mehr nachwirkt als andere Bücher zu diesem Thema. Am Ende verspricht der Autor dem Ahnen seiner Kinder: „Wir werden weiter Deinen Namen sagen.“ Und auch der Leser wird ihn nach der Lektüre dieses Buches nicht mehr vergessen.

Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 30. August 2019
ISBN: 978-3847906667
Preis: 22,00 € (E-Book: 15,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.

20. August 2019

Johann Scheerer: Wir sind dann wohl die Angehörigen

Dieses Buch hat mich auf den ersten Blick gereizt – schon durch seinen Titel. Die „Angehörigen“ stehen selten im Mittelpunkt, das Wort wir in der Regel nur verwendet, um Menschen in Zusammenhang zu anderen zu setzen, um die es dann eigentlich geht. Überdies wird „Angehörige“ vor allem in unerfreulichen Kontexten verwendet, man muss es nur googeln und kommt auf Treffer wie: „Tatort heute: Dürfen Angehörige wirklich an den Unglücksort?“, „Freunde und Angehörige nehmen Abschied“, „Informationen für Angehörige und Partner erkrankter Personen“.
In diesem Buch geht es jedoch hauptsächlich um die Angehörigen, und zwar um die eines prominenten Entführungsopfers: Jan Philipp Remtsmaa wurde 1996 gekidnappt und über einen Monat festgehalten. Er hat über diesen Albtraum bereits ein Jahr später ein Buch veröffentlicht. 21 Jahre danach legte sein Sohn dann seine Erinnerungen vor.


Johann Scheerer gelingt in „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ ein schwieriger Spagat: Er schreibt zum einen aus seiner Perspektive im Jahr 1996, als er gerade mal 13 Jahre alt war. Zum anderen streut er immer wieder Informationen ein, die er erst später erfahren hat, weil sie ihm entweder bewusst vorenthalten wurden oder generell noch nicht bekannt waren. Beides fließt stimmig und ohne Brüche ineinander. Dennoch ist „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ keine lückenlose Chronologie einer Entführung und will es auch gar nicht sein. Scheerer schildert einfach immens furchtbare 33 Tage im Leben eines Teenagers, der abrupt aus seiner Normalität gerissen wird und sich in einem Albtraum wiederfindet: Der Vater entführt und zwei „Angehörigenbetreuer“ der Polizei im Haus, die mit der Mutter sowie Freunden der Familie allnächtlich auf den Anruf der Entführer warten. Entführer, die ihren ersten Brief unter einer scharfen Handgranate deponierten – wäre das Ganze fiktiv, käme es einem an manchen Stellen schon etwas dick aufgetragen vor.

Doch „Wir sind dann wohl die Angehörigen“ schildert die wahren Begebenheiten und erzählt von unerträglichen Durststrecken, die Scheerer auch für den Leser fühlbar macht: Die Ungewissheit zermürbt, während beständig auf Nachrichten und Anweisungen der Entführer gewartet wird, auf ein Lebenszeichen des Vaters, ab und an auch auf die Polizei. Mehrmals entsteht der Eindruck, dass sich diese bei der Organisation der Lösegeldübergaben nicht mit Ruhm bekleckert hat, doch Scheerers Buch ist keine Abrechnung. Der Autor bewertet das Verhalten anderer kaum, sondern bleibt hier in seiner 13-jährigen Perspektive und schildert sein inneres Chaos zwischen Hilfs- und Fassungslosigkeit. Dazu kommen manchmal unverhofft leichte Momente, gefolgt von Schuldgefühlen. Die Qual des Jungen macht nachvollziehbar, was kaum jemand selbst erlebt haben dürfte. Schon lesend ist die Geschichte an einigen Stellen schwer auszuhalten, obwohl ihr Ausgang ja bekannt ist. Scheerer tritt aus der Anonymität der Angehörigen hervor und schildert, wie es ihm ergangen ist. Bei mir ist der Eindruck entstanden, dass ihm diese persönliche Aufarbeitung des Traumas eventuell gutgetan haben könnte – zumindest wünsche ich es ihm.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 1. März 2018
ISBN: 978-3492059091
Preis: 20,00 € (E-Book: 18,99 €)

13. August 2019

Wiebke Lorenz: Einer wird sterben

Ist dieser Trend, Psychothriller mit ihrer Endsequenz anfangen zu lassen, eigentlich schon älter? Das Stilmittel an sich ist bestimmt nicht neu, aber kam es früher auch so oft zum Einsatz? Die letzten beiden Psychothriller, die ich gelesen habe, starteten jeweils mit ihrem dramatischen Finale. In „Something in the water“ hebt die weibliche Hauptfigur für ihren Mann ein Grab aus (was ich immerhin ganz originell beschrieben fand), in meinem neuesten Lesestoff stirbt jemand in den Armen seines Partners. Die Namen der handelnden Figuren werden hier nicht genannt, doch im Verlauf der Lektüre lässt sich nicht allzu schwer zusammenreimen, wer da beschrieben wird. Vermutlich soll die Sequenz zusätzliche Spannung aufbauen, was in meinem Fall allerdings nicht so gut geklappt hat: Ich hatte hier eher das Gefühl, jemand hätte mir ungebeten das Ende verraten.


Wiebke Lorenz‘ Psychothriller „Einer wird sterben“ basiert auf einer so banalen wie irritierenden Grundbedrohung: Ein unbekanntes Auto parkt in einer ruhigen, beschaulichen Wohnstraße. Die beiden Fahrzeuginsassen steigen jedoch nicht aus. Der Mann und die Frau bleiben einfach im Auto sitzen – erst stunden-, dann tagelang. Und lassen die Anwohner dadurch immer nervöser werden.

Laut Klappentext las die Autorin eine Zeitungsmeldung über ein so parkendes Auto und entwickelte aus dieser Ausgangssituation ihre fiktive Geschichte. Besonders Lorenz‘ Hauptfigur, die junge Hausfrau Stella Johannsen, beunruhigt das Auto nachhaltig. Schnell ist sie davon überzeugt, dass es nur wegen ihr und ihrem Mann dastehen kann – schließlich haben sie beide etwas zu verbergen. Doch nach und nach zeigt sich, dass sie nicht die einzigen Anwohner in der Blumenstraße sind, die Geheimnisse haben. Trotzdem gehen Stella mehr und mehr die Nerven durch – vielleicht auch, weil sie allein ist: Ihr Mann Paul, ein Frachtpilot, kann sie zwar ab und an übers Telefon trösten, ist ansonsten jedoch gerade am anderen Ende der Welt unterwegs. Und so ist Stella ihrer Panik ausgeliefert, vor allem nachts. Wie sie zwischen Angst und Hysterie schwankt, wird sehr eindringlich beschrieben, hat mir aber um so deutlicher die Schwäche des Plots vor Augen geführt: Zwar gibt es durch das parkende Auto eine gefühlte Bedrohung, dieser kann sich Stella aber eigentlich gut entziehen, denn ist sie unterwegs, folgt der Wagen ihr nicht. Ich weiß nicht mehr, ob ihr Mann oder ihr Therapeut es telefonisch vorschlagen ob sie selbst darüber nachdenkt: Wenn Stella einfach für ein paar Tage in ein Hotel gezogen wäre, hätte sie sich den Spuk vom Hals geschafft. Da sie überzeugt ist, dass ihr Mann alles in Ordnung bringen wird, sobald er heimkehrt, wäre das eine ziemlich pragmatische Lösung gewesen. Stattdessen dreht Stella aber immer mehr durch, was mir zunehmend auf die Nerven ging. Überdies wirkte der Plot stellenweise recht überladen: Fast jeder Nachbar verbirgt etwas vor den anderen Bewohnern der Blumenstraße und über die Auflösung wollen wir gar nicht reden. Dennoch: Letztere hat mich dann doch unerwartet beeindruckt. Sie schafft es, alle Vorkommnisse lückenlos zu erklären – das hatte ich mir zwischenzeitlich beim besten Willen nicht mehr vorstellen können. Das offene Ende hätte ich dagegen nicht unbedingt gebraucht. So wirklich getroffen hat „Einer wird sterben“ meinen Geschmack also nicht.

Verlag: FISCHER Scherz
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 27. Februar 2019
ISBN: 978-3651025417
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

6. August 2019

Agatha Christie: Das Böse unter der Sonne

Greife ich zu einem Krimi von Agatha Christie, weiß ich in der Regel, was mich erwartet, obwohl der Ausgang des jeweiligen Falls für mich stets unvorhersehbar ist. Neulich hatte ich allerdings einmal einen komplett untypischen Poirot erwischt, der mir nicht besonders gefallen hatte. Und so war ich bei der Lektüre des 22. Falls, den Christie um ihren belgischen Meisterdetektiv geschrieben hat (und ihres 29. Kriminalromans überhaupt) dann sehr beruhigt, dass alles wieder in gewohnter Manier zuging.


„Das Böse unter Sonne“ spielt in einem exklusiven Hotel auf einer kleinen britischen Insel, die über einen während der Flut stets überschwemmten Damm mit dem Festland verbunden ist. Hercule Poirot verbringt hier seinen Urlaub, wie noch einige andere: Paare, Familien, Alleinreisende. Die Idylle zerbricht, als ein weiblicher Gast ermordet in einer Badebucht aufgefunden wird. Die frühere Schauspielerin Arlena Stuart Marshall, die mit Ehemann und Stieftochter angereist war, wurde erwürgt. Wie immer dauert es nur ein paar Seiten, bis Poirot die örtliche Polizei, bei der er zufällig jemanden kennt, bei ihren Ermittlungen unterstützt. Wie immer stellt er unorthodoxe Fragen und wird vom ein oder anderen dafür belächelt. Wie immer lässt er niemanden an seinen Gedankengängen teilhaben, klärt den Fall jedoch lückenlos auf, sobald er alle zum großen Finale versammelt hat. Und wie immer macht in Poirots Ausführungen jedes noch so kleine Detail Sinn. Einer Miturlauberin setzt der Detektiv sogar auseinander, dass seine Arbeit durchaus mit dem Lösen eines besonders schwierigen Puzzles vergleichbar ist.

Alle mysteriösen Vorfälle in „Das Böse unter der Sonne“ lassen sich am Ende erklären. Mich hat das bei der Auflösung so beeindruckt, dass mir erst später auffiel, dass Christie ein anderes wichtiges Krimielement diesmal etwas vernachlässigt hat: das Motiv. Der Grund, aus dem Arena Stuart Marshall sterben musste, macht bei näherer Betrachtung nicht besonders viel Sinn. Kurz: Der Mord wäre eigentlich nicht nötig gewesen. Das mag für viele Morde gelten, aber hier kommentiert es niemand, nicht mal Poirot – wodurch dann doch der Eindruck entsteht, dass das Motiv hier mehr schlecht als recht zusammengezimmert wurde, während die Durchführung des Mordplans dagegen richtiggehend kunstvoll ist. Lässt man auch sie nochmal Revue passieren, muss man allerdings feststellen, dass das Ganze leicht hätte schief gehen können. Der Mörder / die Mörderin hat hohe Risiken auf sich genommen, was angesichts des kaum vorhandenen Motivs doppelt erstaunlich ist. Doch vielleicht muss auch gar nicht alles im Detail erklärt werden, braucht der Täter / die Täterin hier gar keinen guten Grund – „das Böse unter der Sonne“ existiert eben einfach.

Obwohl sich das Ende also nicht allzu schwer zerpflücken ließe, hat mir dieser Krimi insgesamt gut gefallen. Es ist ein typischer Poirot-Fall, der zum Miträtseln einlädt, es dem Leser nicht allzu schwer macht, einen Überblick über Figuren und Geschehnisse zu behalten und dann am Ende doch wieder verlässlich verblüfft. „Das Böse unter der Sonne“ ist ein Krimiklassiker, der sich auch 78 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung noch sehr gut lesen lässt.

Ich habe eine ältere Ausgabe von "Das Böse unter der Sonne" gelesen; aktuell im Handel ist jedoch diese erhältlich:

Verlag: Atlantik
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 13. Juni 2015; „Das Böse unter der Sonne“ erschien jedoch bereits 1945 erstmals auf Deutsch (und 1941 auf Englisch)
ISBN: 978-3455650273
Preis: 12,- € (E-Book: 8,99 €)

31. Juli 2019

Anna Moretti: Effi liest

Schon der Titel dieses Buches ist ein Eyecatcher, weil er an einen fast gleichlautenden, sehr viel älteren Gesellschaftsroman denken lässt und dadurch eine ordentliche Portion Humor verrät. Auch das überaus liebliche Cover bestätigt den Eindruck: Diese Lektüre wird vergnüglich.


Anna Morettis „Effi liest“ erinnert anfangs an Emmy von Rhodens 1885 erschienenes Buch „Der Trotzkopf“. „Effi Briest“ wurde 10 Jahre später veröffentlicht und um diese Zeit spielt auch „Effi liest“. Morettis Effi – eigentlich Elena Sophie von Burow – langweilt sich seit Jahren in einem feinen Mädchenpensionat. Ein bei einem Ausflug gefundenes Buch verspricht Abwechslung, doch noch bevor sie eine Chance hat, mehr als einen kurzen Blick hineinzuwerfen, wird sie von ihrer gestrengen Lehrerein Fräulein Grimaud erwischt – und in der Folge aus dem Internat geschmissen. Ein hoher Preis dafür, dass Effi nur ein paar Seiten überflogen hat. Sie wird zu ihrem Vater nach Berlin zurückgeschickt, der mit ihr einen Deal vereinbart: Er fragt bei der Universität an, ob seine wissbegierige Tochter eine Sondergenehmigung als Studentin bekommt. Dafür muss diese sich jedoch Latein beibringen (sollte sie daran scheitern, ist der Universitätsbesuch erledigt – der Vater scheint darauf zu hoffen) und sich von ihrer Tante Auguste in „Frauenfragen“ unterrichten lassen – „Kleider, Blumen, Einladungen, Dankesschreiben“. „Effi liest“ verdeutlicht mindestens so gut wie Fontanes Original, was das ausklingende 19. Jahrhundert für Frauen der höheren Schichten und im heiratsfähigen Alter bereithielt.

Eine weitere Hauptfigur ist der junge Arzt Max von Waldau, den Effi bereits auf ihrer Rückfahrt nach Berlin kennenlernt. Am Ende jedes Kapitels ist ein Brief von ihm an seinen jüngeren Bruder abgedruckt, der zum einen die männliche, zum anderen die medizinische Sicht dieser Zeit widerspiegelt – wobei vor allem letztere heute sehr abenteuerlich anmutet. Und als Effi nicht nur liest, sondern auch niest, weckt sie auch noch von Waldaus berufliches Interesse. Das Ganze könnte sehr komisch sein, wären die im Folgenden geschilderten Behandlungsmethoden nicht tatsächlich historisch belegt. Überhaupt beschreibt Moretti die damalige Zeit fundiert und detailliert, aber eben auch immer mit einem Augenzwinkern. Zur Einordnung hat sie ihrem Roman einen Abriss über gesellschaftliche und medizinische Ereignisse im 19. Jahrhundert vorangestellt. Dabei erwähnt sie auch mehrere während dieser Zeit erschienene Romane, die das gleiche Muster aufweisen: eine Frau begeht Ehebruch, was jeweils tödlich endet. „Effi liest“ geht dagegen nicht tödlich aus, so viel kann schon mal verraten werden. Nach einem etwas längeren Einstieg gewinnt der Roman mehr und mehr an Fahrt, der Stil ist sehr lebendig, was nicht wundert, wird doch aus Effis Perspektive erzählt. Das Ende kommt dann fast ein bisschen schnell – während sich der Beginn etwas zieht (was wohl auch am eher unspektakulären Pensionatsleben liegt), hätte ich mir den Schluss etwas ausführlicher gewünscht.

„Effi liest“ ist eine leichte und unterhaltsame Lektüre mit einem historisch fundierten Kern, der einen hier und da durchaus ins Stocken geraten lässt. Als Leserin habe ich nicht nur einmal Dankbarkeit dafür empfunden, erst viele Jahrzehnte später geboren worden zu sein.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 31. Juli 2019
ISBN: 978-3785726525
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.