30. Januar 2019

Anne Cathrine Bomann: Agathe

Ein dünnes Büchlein, dessen türkises Cover eine Blüte und ein Zweig mit einem Spatz zieren. Lieblich und elegant sieht es aus, irgendwie passend zu dem titelgebenden Frauennamen. Allerdings geht es in diesem Roman in erster Linie um einen Mann und auch sonst warten einige Überraschungen auf den Leser. Die Lektüre lohnt sich!


„Agathe“ ist nicht die Hauptfigur des gleichnamigen Romans der Dänin Anne Cathrine Bomann. Hätte die Autorin das Buch nach ihrer Hauptfigur benannt, hätte sie zunächst einmal deren Namen enthüllen müssen, der jedoch an keiner Stelle vorkommt. Und so bleibt auch mir nichts anderes übrig, als den 71-jährigen Protagonisten nach seinem Beruf zu benennen: Er ist Psychiater. Ein Psychiater, der die Therapiestunden zählt, die ihm noch bis zu seinem Ruhestand bleiben – der finale Countdown beginnt am Buchanfang mit 800 Gesprächen. Als Agathe als neue Patientin in die Praxis schneit, weist er seine Sekretärin an, diese abzuwimmeln, kann er doch schon seine bisherigen Patienten kaum mehr ertragen. Aber wieso eigentlich, und was erhofft sich der Alleinstehende für sein Leben nach der Arbeit? Nach und nach wird dem Mann bewusst, dass er keinerlei Erwartungen an oder Pläne für die Zukunft hat.

Die Gefühle ihres namenlosen Psychiaters schildert Bomann sehr empfindsam. Sie zeichnet einen Mann, für den Einsamkeit ein seit langem gelebter Normalzustand ist. Einen Mann, der einem hinfallenden Kind nicht zu Hilfe eilt, weil er seine eigene Unbeholfenheit in zwischenmenschlichen Dingen fürchtet – weil er „das letzte Mal mit einem Kind gesprochen [hatte], als er selbst eines gewesen war“. Es ist natürlich eine Ironie des Schicksals, dass gerade dieser Mann seit fast fünf Jahrzehnten einen Beruf ausübt, in dem es darum geht, anderen Menschen zu helfen. Aber hinter seiner festen Rolle im Sprechzimmer kann sich der Therapeut gut verschanzen und überdies ist er der Patienten ja nun auch überdrüssig.

Die Mittdreißigerin Agathe, die schließlich doch seine Patientin wird, weil sie sich nicht hat abwimmeln lassen, hadert dagegen vor allem mit einem Problem: „Ich bin wütend, weil ich nichts erreicht habe. Ich hätte jemand werden sollen, aber ich bin rein gar nichts.“ Seine neue Patientin scheint in dem Psychiater unbewusst etwas aufzuwecken, das ihn aus seiner Lethargie reißen könnte. Aber lässt sich ein Leben noch ändern, das schon so lange in eingefahrenen Bahnen verläuft? Wie ihr Leben – beziehungsweise auch seines? Agathe und ihr Psychiater sind zwei verlorene Seelen, und ob sie überhaupt in der Lage sein könnten, einander zu helfen, scheint zu Beginn des Romans äußerst fraglich. Doch dann beginnt der Psychiater, für sich selbst überraschend, kleine Änderungen in seinem Leben vorzunehmen. Davon erzählt „Agathe“ auf poetische Art und Weise, ohne ein Wort zu viel zu verwenden. Autorin Bomann spart sich den größeren Kontext; sie legt keinen Wert auf detaillierte Beschreibungen und scheint ihren Roman auf das Wesentliche reduziert zu haben. Jeder Satz sitzt, und immer schwingt eine ganz besondere bittersüße Stimmung mit. „Agathe“ ist ein feines, manchmal weises, komplett unkitschiges und doch berührendes Buch. Es weist eine große Leichtigkeit auf und hat dennoch eine ebenso große Tiefe. Aufgrund seiner Kürze liest es sich sehr schnell, doch bereits während der ersten Lektüre ist klar, dass sich eine zweite lohnen könnte.

Verlag: hanserblau
Seitenzahl: 160
Erscheinungsdatum: 28. Januar 2019
ISBN: 978-3446261914
Preis: 16,00 € (E-Book: 11,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

23. Januar 2019

Thorsten Steffens: Klugscheißer Royale

Im Alltag können Klugscheißer sehr nerven, als Romanfiguren allerdings ziemlich lustig sein. Diese hier ist mir tatsächlich nach und nach ans Herz gewachsen. Und nicht nur das: Ich gestehe an dieser Stelle, dass ich trotz Germanistik im Nebenfach den semantischen Unterschied zwischen den Pluralformen „Wörter“ und „Worte“ nicht aus dem Stehgreif hätte definieren können und so sogar eventuell zu den im Buch definierten „Wör│ter-│Wor│te-│Ver│wechs│ler[n]“ gehörte. Nach der ausführlichen Erklärung des klugscheißenden Protagonisten wird mir das sicher nie mehr passieren – also auch noch was gelernt!


Ein „Klugscheißer Royale“ – das ist der Endzwanziger Timo Seidel, die Hauptfigur des nach ihm benannten Romans. Einen echten Klugscheißer zeichnet u.a. ein gesundes Selbstbewusstsein aus, welches bei Timo sogar die Mailadresse ausstrahlt, die mit „supertimo“ beginnt. Außerdem fühlt sich ein Klugscheißer seinen Mitmenschen grundsätzlich überlegen. Zu Beginn des Romans lebt Timo dieses Gefühl von nine to five beim ProTrend-Kundenservice aus, wo er als Callcenter-Mitarbeiter Reklamationen entgegennimmt – seit mehreren Jahren. Da dieser Job ihn weder ausfüllt noch fordert, beschäftigt er sich nebenbei noch als „Oswald Kolle der deutschen Sprache“ und versucht mehr oder weniger dezent, das Sprachniveau seiner Anrufer zu heben, in dem er ihre Grammatikfehler korrigiert. Dumm nur, wenn der Chef mithört, während man einen Kunden im Eifer des Gefechts als „Bezirkstrottel“ bezeichnet. Dumm auch, wenn man nach der Kündigung nach Hause fährt und feststellen muss, dass die langjährige Freundin, die einen zudem bisher mitfinanziert, gerade Kisten packt und ausziehen will.

Und das ist auch schon der Beginn dieses amüsanten Debütromans von Thorsten Steffens: Timo Seidel bekommt nach Jahren des bequemen Klugscheißens plötzlich richtig Gegenwind. Sein Leben fällt in sich zusammen und bald zeigt sich, dass sich weder der Arbeitsmarkt noch sein Kontostand vom Klugscheißen beeindrucken lassen. Aber Timo lässt sich nicht unterkriegen und ihn dabei zu begleiten, wie er versucht, dem Leben die Stirn zu bieten, macht Spaß – genau wie seine Wortschöpfungen, die er als Ich-Erzähler seinen Lesern in mundgerecht eingestreuten Wörterbuch-Artikeln darbietet: Von Brülltante bis Teilzeitgrübler.

Für mich fällt dieser Roman in die Kategorie „Das Leben eben“: Timo wird aus seiner Komfortzone hinausgeschleudert und versucht mal mehr, mal weniger erfolgreich, sein Leben wieder in den Griff zu kriegen, während der Leser ihn dabei begleitet und nach und nach Eigenschaften des Protagonisten entdeckt, die dieser selbst noch nicht kannte. Manchmal plätschert „Klugscheißer Royale“ etwas vor sich hin, ein oder zwei Nebenschauplatz hätte ich nicht unbedingt gebraucht. Aber langweilig wird „Klugscheißer Royale“ nie: Etwas „Fack ju Göthe“, etwas Coming-of-Age und tatsächlich auch noch ein paar Gedanken zum Thema Feminismus – der Roman wagt sich ab und an in Bereiche vor, die ich ihm gar nicht zugetraut hätte. Lustig ist er ab Seite eins, aber stellenweise kommt auch noch etwas Tiefgang hinzu. Und am Ende hat man den „Klugscheißer Royale“ tatsächlich liebgewonnen.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 232
Erscheinungsdatum: 1. August 2018
ISBN: 978-3492501651
Preis: 12,99 € (E-Book: 6,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar vom Piper Verlag erhalten.

11. Januar 2019

Laetitia Colombani: Der Zopf

Das folgende Buch wollte ich unbedingt lesen und wurde anfangs trotzdem nicht mit ihm warm. Ich begann es und legte es wieder weg, dann kamen mir ein, zwei andere Bücher dazwischen. Letztendlich ließ mich dieser „Fehlstart“ immer mehr zögern, weiterzulesen, was der Roman nun wirklich nicht verdient hat. Denn er ist gut! Aber nachdem ich mir nun doch ein Herz gefasst und ihn inzwischen beendet habe, kann ich auch in Worte fassen, was mich gestört hat. Und warum das Buch dennoch lesenswert ist.


„Der Zopf“ hat einen schlichten Titel und ein in seiner Farbgestaltung edel wirkendes Cover. Der Debütroman der Französin Laetitia Colombani gibt einen kleinen Einblick in die Leben von drei Frauen, die auf den ersten Blick nichts zu verbinden scheint: Die Inderin Smita gehört zu den unberührbaren Dalits und führt wie ihre Vorfahren ein Leben in totaler Armut. Sarah in Montreal ist eine erfolgreiche Anwältin und Giulia auf Sizilien arbeitet in der Perückenmacherei ihres Vaters. Eigentlich scheinen sich Smita, Sarah und Giulia auf vorgezeichneten Wegen zu befinden, doch dann passiert etwas. Die als gegeben angenommene Ordnung in ihren Leben wird erschüttert und plötzlich müssen bzw. wollen sie etwas verändern. Als Leser begleitet man alle drei dabei, einzelne Kapitel zu jeder der Frauen wechseln sich ab. Diese sind kurz, „Der Zopf“ umfasst keine 300 Seiten und so entwickelt sich die Handlung nicht behutsam, sondern Schlag auf Schlag. Gefühlt bin ich nur so durch das Buch geflogen – und hatte trotzdem Probleme, am Ball zu bleiben, denn die Welten von Smita, Sarah und Giulia weisen keinerlei Gemeinsamkeiten auf und es hat mich gestört, immer schon nach ein paar Seiten wieder herausgerissen und auf einen anderen Kontinent versetzt zu werden. Trotzdem sind diese schnellen, brutalen Wechsel auch eine große Stärke des Romans: Durch die Nebeneinanderstellung der drei Leben wird deutlich, wie verschieden die Lebensbedingungen auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch sind. Giulias Alltag auf Sizilien wirkt in Teilen so behütet und traditionell, dass es mich richtiggehend irritierte, als sie plötzlich etwas im Internet recherchierte – bis dahin kam er mir eher wie vor dessen Erfindung angesiedelt vor. Smitas Lebenstraum ist, dass ihre Tochter lesen und schreiben lernen soll, um nicht wie sie und die restliche Familie als Analphabetin zu enden – man wünscht sich, ihre Geschichte würde in einer längst überwundenen Zeit spielen, aber nein, auch das ist Gegenwart. Bei Sarah, der 40-jährigen Kanadierin, kommt man dagegen nicht in die Verlegenheit, sie gedanklich einer anderen Zeit zuordnen zu wollen: Diese Protagonistin ist die Verkörperung einer modernen Frau in einem Industrieland, hat sie doch in einer renommierten Anwaltskanzlei die gläserne Decke durchstoßen und scheint auf der Zielgeraden, die erste weibliche Partnerin zu werden. Dass sie jedoch bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich und einen Tagesvater für ihre drei Kinder engagiert hat, kam mir doch etwas klischeehaft vor.

Es ist der rote Faden des Romans und eine schöne Idee, dass diese Frauen, die sich – so viel kann verraten werden – nie begegnen, dennoch etwas verbindet. Allerdings hätte ich mir etwas mehr Ausgestaltung gewünscht. „Der Zopf“ liest sich intensiv, Autorin Colombani hätte den Einzelschicksalen aber durchaus noch mehr Raum geben können. So wird sie dem Potential ihres Romans in meinen Augen nicht ganz gerecht. Doch vielleicht hatte sie beim Schreiben auch bereits ein anderes Medium im Sinn: Laetitia Colombani ist Schauspielerin und Regisseurin. Verfilmt kann ich mir diesen inhaltlich verknappten Roman bestens vorstellen und bin gespannt – die Rechte sind bereits vergeben, es ist also davon auszugehen, dass „Der Zopf“ auch irgendwann ins Kino kommt.

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 21. März 2018
ISBN: 978-3103973518
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

5. Januar 2019

Shari Lapena: The couple next door

Eigentlich hatte ich für die Feiertage noch eine dritte weihnachtliche Rezension geplant, doch trotz des vielversprechenden Titels enttäuschte mich „Sieben Kilo in drei Tagen“ so, dass mir die Lust verging, darüber zu schreiben. Stattdessen entschied ich mich nach diesem Missgriff für einen Thriller als Gegenprogramm. Wie die meisten Thriller und Krimis, die ich lese, war er relativ unblutig und hatte es dennoch in sich.


„The couple next door“ beginnt mit dem Alptraum aller Eltern: Anne und Marco verbringen den Abend auf der Dinnerparty ihrer Nachbarn, während ihr Baby Cora zu Hause schläft. Sie haben ein Babyfon dabei und schauen alle halbe Stunde abwechselnd nach ihrer Tochter. Doch als sie nach Mitternacht in ihr Haus zurückkehren, steht die Haustür offen – und die Wiege ist leer …

Der Thriller ist dicht erzählt, die Anzahl der handelnden Figuren überschaubar. Immer wieder werden die Gedanken der verzweifelten Eltern geschildert, vor allem die Mutter steht komplett neben sich, während ihr Mann mit allen Mitteln versucht, zu funktionieren. Dass der ermittelnde Detective nicht auszuschließen scheint, dass die beiden mit dem Verschwinden ihres Babys zu tun haben könnten, verstört sie zusätzlich. Angst und Schlafmangel lassen die Nerven bei Anne und Marco bald komplett blank liegen – nachvollziehbar. Doch dann nimmt „The couple next door“ ein paar unerwartete Wendungen und plötzlich ist vieles anders, als es auf den ersten Blick schien. „People are capable of almost anything“ steht bereits auf dem Cover.

Manche der Plot-Twists erahnte ich, andere nicht. Am Ende waren es für meinen Geschmack ein, zwei Verstrickungen zu viel, was einem spannenden Leseerlebnis jedoch keinen Abbruch tat. „The couple next door“ ist ein packender Pageturner und lässt sich in kürzester Zeit weglesen – auch auf Englisch. Die Sätze sind kurz; ich las in ein paar deutschen Rezensionen, dass der einfache Stil einige Leser gestört hat, doch zumindest im Englischen wirkte er stimmig auf mich, wird doch meist die Perspektive der Eltern geschildert, zu deren Zustand das Denken komplexer Schachtelsätze kaum passen würde. Stellenweise hat der Thriller durchaus kleine Längen, die jedoch die Ohnmacht von Anne und Marco umso greifbarer machen. Die Auflösung des Ganzen hatte in meinen Augen kleine Schwächen, im Großen und Ganzen ist der oft kammerspielartig wirkende Thriller jedoch mehr als solide.

Verlag: Bantam Press
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 14. Juli 2016
ISBN: 978-0593077399
Preis: 15,50 € (E-Book: 6,45 €)

20. Dezember 2018

Francesca Hornak: Sieben Tage wir

Weihnachten ist bekannterweise das Fest der Liebe und der Familie. Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass „Sieben Tage wir“ immer die beste aller Ideen ist. Eine Woche im Kreis der Familie kann auch anstrengend werden – vor allem, wenn es keinerlei Möglichkeiten gibt, sich mal für ein paar Stündchen auszuklinken. Dennoch geht es in meinem zweiten Weihnachtsbuch dieser Saison wesentlich harmonischer zu als in "Hercule Poirot's Christmas" - ich denke, ich kann an dieser Stelle verraten, dass immerhin kein Familienmitglied ermordet wird!


Francesca Hornak schildert in „Sieben Tage wir“, wie sich eine Familie zwischen Weihnachten und Silvester quasi gegenseitig ausgeliefert ist – es gibt nämlich kein Entkommen, für niemanden: Zum ersten Mal seit Jahren feiert die 32-jährige Ärztin Olivia Birch wieder mit Eltern und Schwester das Fest der Liebe. Nicht komplett freiwillig: Die passionierte Ärztin hat gerade einen mehrmonatigen Einsatz im westafrikanischen Liberia hinter sich. Dort grassiert eine in ihren verheerenden Auswirkungen mit Ebola vergleichbare Epidemie und Olivia gehört zu einem Team ausländischer Ärzte, die unter größten Vorsichtsmaßnahmen Erkrankte behandeln. Doch kurz vor Weihnachten wird sie im Zuge eines Schichtwechsels nach Hause geschickt, hat sich dort jedoch sieben Tage unter Hausarrest zu begeben, um das Ansteckungsrisiko zu minimieren. Kontakt zu anderen Menschen ist erlaubt, sofern diese die Quarantäne teilen. Und so hat das Weihnachtsfest für Olivia, ihre jüngere Schwester Phoebe und ihre Eltern auch ein bisschen was von Isolationshaft. Relativ früh wird klar, dass das anstrengend werden könnte: Mutter Emma will ihre heimgekehrte Tochter mal so richtig verwöhnen, aber lieber keine die Weihnachtsstimmung verderbenden Geschichten aus Liberia hören. Die Schwestern halten sich gegenseitig für arrogant bzw. oberflächlich, der Vater geht dem Rest der Familie so gut es geht aus dem Weg. Außerdem hat er ein Geheimnis vor seinen Lieben – doch er ist längst nicht der Einzige, der in dieser Familie etwas verschweigt.

Das Gemütlichkeit heraufbeschwörende Cover von „Sieben Tage wir“ scheint einen kuscheligen Weihnachtsroman anzukündigen und in weiten Teilen ist das Buch auch eine Feelgood-Lektüre. Es menschelt unentwegt, die Familienmitglieder kommen sich näher und gehen wieder auf Distanz zueinander, ein unerwarteter Besucher wirbelt die Woche zusätzlich durcheinander – teilweise wirkt es, als wären die Protagonisten zusammen in einer Schneekugel eingeschlossen, die kräftig durchgeschüttelt wird. Trotz Quarantäne passiert so viel, dass kaum Zeit bleibt, darüber nachzudenken, ob der Zufall nicht doch etwas zu oft zuschlägt. Der Roman liest sich fast von allein, die höchst unterschiedlichen Charaktere sind allesamt stimmig ausgestaltet und ich habe bald mit jedem von ihnen mitgefiebert. Und musste irgendwann die Erfahrung machen, dass auch in einem Weihnachtsroman nicht alles eitel Sonnenschein ist – damit hat mich die Autorin dann doch kalt erwischt. „Sieben Tage wir“ ist eine schöne Feiertagslektüre – ohne Kitsch und Schmalz, aber mit viel Herz und einer Botschaft, die wiederum zu Weihnachten passt: Auch wenn man sich voneinander entfernt hat, kann man wieder zusammenrücken.

Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 12. Oktober 2018
ISBN: 978-3548290898
Preis: 13,00 € (E-Book: 9,99 €)

14. Dezember 2018

Agatha Christie: Hercule Poirot's Christmas

Bücher mit Weihnachtsbezug sind die perfekte Lektüre für die Adventszeit. Wenn „Christmas“ schon im Titel vorkommt, kann nichts mehr schiefgehen, sollte man meinen … steht allerdings außerdem noch der Autorenname „Agatha Christie“ auf dem Cover, lässt das bereits erahnen, dass es nicht zwangsläufig besinnlich wird. Die Autorin selbst kündigt in ihrer Widmung quasi an, es krachen zu lassen. Sie hat sie an ihren Schwager gerichtet, der offensichtlich ein großer Fan ihrer Werke war, sie aber gleichzeitig zunehmend blutleer fand – im wahrsten Sinne des Wortes, denn Christie schrieb ihm: „You yearned for a good, violent murder with lots of blood.“ Den wollte sie ihm mit diesem Krimi bescheren und stellte ihrem Text auch noch ein Zitat aus „Macbeth“ voran, das nichts Gutes verheißt. Na dann: frohe Weihnachten!


Ich war also vorgewarnt, dass „Hercule Poirot‘s Christmas“ mir eher Gänsehaut als Wärme ums Herz einbringen würde – aber da ich Agatha Christies Krimis sehr gerne lese, war das kein Hinderungsgrund. Und so vertiefte ich mich in die Weihnachtsvorbereitungen auf dem britischen Anwesen Gorston Hall, wo eine Familienzusammenkunft ansteht: Der greise Patriarch Simon Lee versammelt zum Fest der Liebe seine vier Söhne mit ihren Ehefrauen (sofern vorhanden) um sich, außerdem hat er sein einziges Enkelkind eingeladen. Als Überraschungsgast findet sich noch der Sohn eines früheren Geschäftspartners ein. Die Stimmung ist nicht ganz so gut, doch darauf legt es der alte Mann auch nicht an, im Gegenteil: Er hat einen ziemlich seltsamen Humor und zieht sein eigenes, kleines Vergnügen daraus, seine Familienangehörigen zu demütigen – wissend, dass die sich das zähneknirschend gefallen lassen werden, um ihr Erbe nicht zu gefährden. Und so hat eigentlich fast jeder von Simon Lees Nachkommen ein Motiv, als der Fiesling noch vor Beginn der eigentlichen Feierlichkeiten ermordet aufgefunden wird – aber „Whodunit“? Wer war’s?

Agatha Christie hat das Rad nicht neu erfunden. Letztes Jahr im Dezember las ich den Krimi einer Zeitgenossin, „Geheimnis in Rot“ von Mavis Doriel Hay, der zwei Jahre vor dem 1938 erschienenen „Hercule Porot’s Christmas“ publiziert worden war und genau die gleiche Ausgangssituation hat: Das ungenießbare Familienoberhaupt ist ermordet worden, fast jeder hätte gute Gründe. Aber gerade Weihnachten ist ja auch ein Fest der Traditionen, und so stört es gar nicht, dass einem die Grundidee dieses Weihnachtskrimis nicht unbedingt originell vorkommt. Agatha Christie wäre nicht die Queen of Crime, wenn sie ihrem Werk nicht wieder eine ganz besondere, ziemlich unvorhersehbare eigene Note verliehen hätte – ein 08/15-Krimi ist es keinesfalls. Ich habe sehr gerne (und wie so oft erfolglos) mitgerätselt, wer Simon Lee umgebracht hat. In weihnachtliche Stimmung hat mich das nicht unbedingt versetzt, die Lektüre hat aber wie immer großen Spaß gemacht. Und auch wenn die Mengen geflossenen Blutes für einen Christie-Krimi tatsächlich überdurchschnittlich sind, gehört er dennoch verlässlich in die Kategorie „Cosy Crime“. Klare Dezember-Empfehlung!

Verlag: Harper
Seitenzahl: 282
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 26. September 2013 (Erstausgabe: 1938)
ISBN: 978-0007527540
Preis: 7,49 € (E-Book: 6,99 €)

8. Dezember 2018

Care Santos: Als das Leben vor uns lag

Dieses Buch handelt von fünf Freundinnen, aber eigentlich ist es kein Buch über Freundschaft, sondern eines über zwischenmenschliche Beziehungen aller Art, den Umgang mit Veränderungen, über Mut und Emanzipation und das Spanien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ganz schön viele Themen, von denen einige mehr angerissen als auserzählt werden. Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde der Buchcommunity "Lesejury" gerne gelesen.


Man sieht sich bekanntermaßen immer zweimal im Leben, und das erste Mal war in diesem Fall "Als das Leben vor uns lag". Mit "uns" sind die Protagonistinnen des Romans gemeint, die ehemaligen Internatsschülerinnen Olga, Marta, Lolita, Nina und Julia, die das letzte Mal im Alter von ca. 14 Jahren zusammensaßen. Es war der Abschiedsabend, bevor die Zwillinge Olga und Marta das Internat verließen. Doch an diesem Abend ist etwas geschehen, das Leben von einem der Mädchen nahm eine unumkehrbare Wendung. Inzwischen sind die früheren Freundinnen Mitte 40, eine von ihnen initiiert ein Wiedersehen und alle sagen zu. Doch sind sie auch alle so glücklich und erfolgreich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat?

Die spanisch-katalanische Autorin Care Santos hat einen in Barcelona angesiedelten Roman geschrieben, dessen Haupthandlung an zwei Abenden stattfindet – in den Jahren 1950 und 1981. In der Zwischenzeit hat sich natürlich viel getan – im Leben der Protagonistinnen wie auch in der spanischen Politik. Das Land ist ein anderes, aus den fünf Mädchen von damals sind gestandene Frauen geworden, die einiges erlebt haben. Eine von ihnen stellt fest: „Das Leben ist immer riskant, wie ein reißender Strom. Es gibt Menschen, die glücklich und zufrieden am Ufer entlanggehen und die Verwüstungen im Leben der anderen betrachten, und es gibt andere, die ins Wasser fallen und von der Strömung mitgerissen werden. Manche kommen nicht heil raus. Andere […] können sich an irgendetwas festhalten oder an irgendjemandem.“ Am beschriebenen Abend des Jahres 1981 kommt nach und nach ans Licht, zu welcher Kategorie jede der einzelnen Frauen gehört. Und schließlich wird auch über die Katastrophe des Jahres 1950 gesprochen, die vier von ihnen relativ gut verdrängt hatten.

Die Autorin schafft es, jeder ihrer fünf Protagonistinnen gerecht zu werden. Sie hat sehr unterschiedliche Charaktere erschaffen, von denen keiner ins Klischee abrutscht. Anhand der von den Frauen berichteten Erlebnisse lässt sich der Wandel Spaniens miterleben wie auch ein Stück weibliche Emanzipationsgeschichte. Gleichzeitig wartet Care Santos mit einigen überraschenden Wendungen auf. Herausgekommen ist ein kurzweiliger Roman über Beziehungen, Vergebung und die verschiedenen Arten von Liebe. Und die tröstliche Erkenntnis, dass das Leben zwar nicht mehr komplett vor den Frauen liegt, aber auch mit Mitte 40 noch voller neuer Möglichkeiten sein kann.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 30. November 2018
ISBN: 978-3404177516
Preis: 10,00 € (E-Book: 8,99 €)

2. Dezember 2018

John Jay Osborn: Liebe ist die beste Therapie

Wenn man diesen Buchtitel hört, erwartet man fast automatisch einen schmalzigen Liebesroman. Das Cover beruhigt dann jedoch: So schmalzig kann er nicht sein, sonst wäre er nicht im Diogenes Verlag erschienen. Abgesehen davon hat das Coverbild so gar nichts Kitschiges: Ein Mann und eine Frau entfernen sich voneinander, er scheinbar entschlossenen Schrittes, sieh etwas langsamer, doch auch unbeirrbar wirkend. Beide sehen etwas verloren aus und ihre Schatten sind länger als sie selbst.


„Liebe ist die beste Therapie“ ist der neueste Roman des 73-jährigen amerikanischen Anwalts und Jura-Professors John Jay Osborn. Er wirkt allerdings wie von einem Paartherapeuten verfasst, basierend auf dessen kumulierten Erfahrungen. Das Buch ist tatsächlich nicht mehr oder weniger als die Schilderung einer Paartherapie, einziger Schauplatz ist das Sprechzimmer von Sandy, der Therapeutin. Die 31 Kapitel schildern ihre Sitzungen mit Charlotte und Steve, die sich getrennt haben, aber herausfinden wollen, ob ihre Ehe noch eine Zukunft hat. Meist kommen die beiden zusammen zu Sandy, manchmal sitzt aber auch nur einer von ihnen vor der Therapeutin.

Sandy sagt Steve bereits in seiner ersten Einzelsitzung, dass die Chance, seine Ehe zu retten, bei 1:1000 liegt. Dass Liebe die beste Therapie ist, würde diese Therapeutin sicherlich nicht unterschreiben, „Liebe allein reicht nicht“ oder „Kommunikation ist die beste Therapie“ träfe den Kern dieses Buches schon eher, klänge als Titel aber zugegebenermaßen nicht besonders vielversprechend. Apropos Versprechen: Der Verlag wirbt auf der Umschlagrückseite damit, dass der Roman „Ihre Beziehung mehr verändern könnte als jede Paartherapie“. Kann das Buch das halten? Ich glaube nicht. Dabei ist es durchaus interessant, Charlotte und Steve lesend zu begleiten. Einem Laien wie mir schienen Sandys Methoden zum Teil unorthodox, sie hatte ab und an einen verblüffenden Blick auf die Dinge, stellte öfters Fragen, die mich (und auch die beiden Protagonisten) überraschten und hielt wenig von Regeln und Absprachen. Glücklicherweise macht Osborn dem Leser zumindest einen Teil ihrer Gedanken zugänglich, so dass ich während der Lektüre ein gewisses Verständnis dafür entwickelte, auf was es Sandy ankam – oft genug tappte ich jedoch auch genauso im Dunkeln wie der untreue Ehemann Steve. Gerne hätte ich noch mehr über die Therapeutin erfahren, es gab einige neugierig machende Anspielungen auf ihr Leben außerhalb ihres Sprechzimmers, aber dabei blieb es leider. „Liebe ist die beste Therapie“ hätte das Potential gehabt, ein vielschichtiger und auch unterhaltsamer Roman zu werden, konzentriert sich aber eisern auf das, was innerhalb der vier Wände des Sprechzimmers beredet wird. Das macht den Roman sicherlich einzigartig – aber auch etwas spröde.

Wie hat mir das Buch nun gefallen? Als sehr ungewöhnliches Lektüreerlebnis hat es durchaus einen gewissen Reiz, keine Frage. Groß bewegt hat es mich allerdings nicht und Spannung kam auch keine auf. Ich will nicht ausschließen, dass der Roman seinen Lesern unterbewusst hilft, ihre Antennen für zwischenmenschliche Kommunikation zu verbessern. Dass er jedoch lebensverändernd wirken kann, glaube ich kaum.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 24. Oktober 2018
ISBN: 978-3257070439
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

25. November 2018

JP Delaney: Believe Me. Spiel Dein Spiel. Ich spiel es besser.

JP Delaneys 2017 erschienener Thriller „The Girl Before“ ist ein spannend klingender Bestseller, von dem ich bereits gehört hatte. Daher habe ich mich sehr über die Gelegenheit gefreut, ein Rezensionsexemplar von „Believe Me“ zu lesen, dem neuesten Buch des Autors, das gleichzeitig ein früheres Werk von ihm ist, mit dem Delaney jedoch nicht zufrieden war. In seiner Danksagung am Ende des Buches schreibt er, dass er durch den Erfolg von „The Girl Before“ „die Chance einer Neuauflage“ von „Believe Me“ bekam, die Urversion jedoch stark verändert hat, weil er mit ihr schon nach Erscheinen nicht mehr zufrieden war: „Ich hatte das Gefühl eine interessante Idee verschwendet zu haben, weil das Buch nicht gut genug gelungen war.“ Tja.


„Believe Me“ beginnt durchaus interessant. Die Engländerin Claire Wright besucht eine Schauspielschule in New York. Sie ist so begabt, dass sie ein Stipendium bekommen hat, das ihre Lebenshaltungskosten jedoch nicht abdeckt. Eine Arbeitserlaubnis erhält sie als Ausländerin allerdings nicht und arbeitet schließlich gegen Cash als Treuetesterin, die verheirateten Männern im Auftrag von deren Ehefrauen Avancen macht. Dabei ist sie sehr erfolgreich – außer bei Universitätsprofessor Patrick Fogler, der sie abblitzen lässt. Am nächsten Morgen wird seine Ehefrau ermordet aufgefunden. Sowohl er als auch Claire stehen zunächst unter Verdacht. Und als die Polizei der jungen Schauspielschülerin ein Angebot macht, kann sie quasi nicht ablehnen, gerät aber zunehmend in einen Interessenskonflikt, weil sie Patrick Fogler immer attraktiver findet …

Das Verhalten der Figuren erschien mir relativ bald nicht mehr besonders schlüssig. Irgendwann kam es dann jedoch zu einem Twist, der mich extrem überrascht hat. Überraschende Wendungen sind ein Markenzeichen von guten Thrillern, aber so richtig glaubwürdig erschienen mir die Geschehnisse auch danach nicht. Die Figuren wirkten zum Teil komplett verquer oder blieben plötzlich merkwürdig blass. Ereignisse, die jeden normalen Menschen extrem irritiert hätten, wurden von ihnen schnell vergessen oder abgetan. Überdies fehlte mir ein anderes Markenzeichen von guten Thrillern: Spannung. Nicht, dass es mich nicht mehr interessiert hätte, wer die Ehefrau von Patrick Fogler ermordet hat, aber den Figuren schien es zum Teil egal und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass sie noch an einer Beantwortung dieser Frage interessiert waren.
Ein drittes Markenzeichen von guten Thrillern: die Auflösung. Ich finde, damit steht und fällt ein Buch dieses Genres und erwartete nach dem langen, müden Dahinplätschern der Handlung eine Überraschung – die auch kam und auf der ich nach wie vor herumdenke, da sie einige Geschehnisse in einem anderen Licht beleuchtet. Ich fand die Auflösung nicht schlecht und das Verhalten mancher Protagonisten erscheint mir im Nachhinein schlüssiger. Doch es ändert nichts daran, dass sich das Leseerlebnis eher belanglos gestaltete. „Believe Me“ enthielt einige faszinierende Elemente – Baudelaires Skandal-Gedichtband „Le Fleurs Du Mal“ spielt eine große Rolle, auch die Einblicke in Claires Schauspielunterricht und -verständnis fand ich gelungen. Aus dem ganzen Stoff hätte man mehr rausholen können, glaube ich – wie es wohl auch der Autor dachte, als er seine Geschichte nochmal überarbeitete. Aber in meinen Augen ist es ihm immer noch nicht gelungen. „Believe me“ ist trotz vielversprechender Ansätze nicht komplett stimmig und erst recht nicht spannend, das Gesamtkonzept krankt. Schade, ich hatte mir mehr versprochen.

Verlag: Penguin
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 10. September 2018
ISBN: 978-3328103264
Preis: 15,00 € (E-Book: 9,99 €)

11. November 2018

Daniel Kehlmann: Tyll

Dieses Buch habe ich schon vor fast zwei Wochen ausgelesen, mich bislang jedoch vor der Rezension gedrückt. Der Grund: Ich habe große Zweifel, ob meine Besprechung diesem großartigen, vielschichtigen Roman gerecht werden kann. Ich habe ihn als einzigartig empfunden und somit hat er auch eine ganz besondere Rezension verdient.


Als ich anfing, Daniel Kehlmanns „Tyll“ zu lesen, war ich noch nicht so begeistert. Ich hatte das Buch quasi unaufgefordert ausgeliehen bekommen, bin generell kein besonderer Fan historischer Romane und dass mir gesagt wurde, dieser hier hätte quasi keine Handlung, machte ihn nicht unbedingt attraktiver.

Wobei es gar nicht stimmte: „Tyll“ hat durchaus Handlung. Sie steht allerdings nicht unbedingt im Vordergrund. Der Roman liest sich mehr wie ein Zeitzeugnis, was das 2017 veröffentlichte Buch natürlich in keiner Weise ist. Aber Kehlmann verleiht seinen Figuren einen Ton und eine Sprache sowie dem ganzen Roman eine solch ungewöhnliche Atmosphäre, dass man als Leser mehr in den Dreißigjährigen Krieg eintaucht, als ich es für überhaupt möglich gehalten hätte. Dabei war mir dieser Stoff anfangs sehr fremd, mein Wissen über die damalige Zeit höchst begrenzt. Die acht langen Kapitel, aus denen sich der Roman zusammensetzt, bauen außerdem nicht chronologisch aufeinander auf, was die Lektüre anfangs etwas sperrig macht. Dennoch ist „Tyll“ zu jeder Zeit sehr gut lesbar. Doch das große Ganze zu verstehen, fällt erst einmal schwer, da auch unterschiedliche Figuren im Mittelpunkt der jeweiligen Kapitel stehen, während andere, bisherige Hauptfiguren höchstens noch einmal als Randfigur vorkommen. Auch der titelgebende „Tyll“, eine Till Eulenspiegel nachempfundene Figur, ist kaum eine Hilfe, obwohl er in jedem der Kapitel zumindest auftaucht. Dennoch bleibt er eine nebulöse Figur, mit der sich kaum warm werden lässt. Dies gilt jedoch für alle Protagonisten: Das Identifikationspotential ist außerordentlich gering. Dennoch zieht der Roman einen nach und nach in seinen Bann, was auch daran liegt, dass Kehlmann all die von ihm geschaffenen losen Ende früher oder später auf kunstvollste Art und Weise zusammenführt. Irgendwann lichtet sich der Nebel, Figuren tauchen zum wiederholten Mal auf, Verbindungen werden klar und irgendwann sogar die historischen Zusammenhänge. Wie sich alles zusammenfügte, fand ich höchst faszinierend. Was mich zudem begeisterte: Wie eine längst vergangene, höchst elende Zeit plötzlich so greifbar, so nachvollziehbar und fühlbar wurde. Kehlmann lässt verschiedenste fiktive und historische Figuren zu Wort kommen, die Perspektive der hart schuftenden Müllersfrau kommt genauso vor wie die des vermeintlich Gelehrten, die der Königin und die des Narren.

Und so ist „Tyll“ ein außergewöhnlicher Roman, der mich anfangs leicht abgeschreckt und zu seinem Ende hin richtiggehend begeistert hat – und außerdem einer, den ich glatt nochmal lesen könnte, um auch wirklich alle Zusammenhänge zu begreifen. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal ein derartiges Buch gelesen zu haben. „Tyll“ ist große Literatur und nur zu empfehlen.

Verlag: Rowohlt
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2017
ISBN: 978-3498035679
Preis: 22,95 € (E-Book: 19,99 €)

5. November 2018

Chloe Benjamin: Die Unsterblichen

„Worte haben immer nur die Bedeutung, die man ihnen verleiht.“ Diesen Satz las ich gerade in einem eher mittelmäßigen Thriller, doch er passte noch besser zu dem Roman, den ich kurz zuvor beendet hatte. Er handelte von Worten in Form einer Prophezeiung, die das Leben von vier Geschwistern nachhaltig beeinflusst hat. Aber hätte die Prophezeiung auch diese Wirkung gehabt, wenn ihr die Kinder, die sie hörten, weniger Bedeutung zugemessen hätten?


Chloe Benjamins „Die Unsterblichen“ beginnt 1969 in der Lower East Side in New York. Die vier Kinder der Familie Gold langweilen sich in ihren Ferien und als sie von einer Wahrsagerin hören, die ihren Besuchern deren Todesdaten vorhersagt, verspricht das endlich etwas Abwechslung in die Ödnis dieses Sommers zu bringen. Sie spüren die Frau gemeinsam auf – nichtahnend, dass der Besuch jedes ihrer Leben nachhaltig beeinflussen wird: Das der vorsichtigen und vernünftigen dreizehnjährigen Varya, des selbstsicheren elfjährigen Daniel, der lebenshungrigen neunjährigen Klara und des Nesthäkchens, dem siebenjährigen Simon. Denn was bedeutet es, wenn man seinen eigenen Todestag zu kennen glaubt? Lebt man bewusster? Versucht man, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen? Konzentriert man sich aufs Leben oder aufs Überleben? Wird das Ganze zur self-fulfilling prophecy oder schafft man es dauerhaft, eine solche Prophezeiung als Humbug abzutun?

Benjamin erzählt die Lebensgeschichten der Geschwister hintereinander weg. Alle vier schlagen sehr unterschiedliche Wege ein, doch die Autorin schafft es, jedes Leben gleichermaßen nachvollziehbar zu schildern. Und so lässt sie ihre Leser in die Schwulenszene San Franciscos Ende der 1970er Jahre eintauchen, eine der Figuren von ihren ersten Bühnenerfahrungen bis nach Las Vegas begleiten, eine berufliche Sinnkrise miterleben und sich schließlich mit Primatenforschung beschäftigen. Dass diese Entwicklungen alle schlüssig scheinen und jeder dieser höchst unterschiedlichen Charaktere auf seine Weise überzeugt, fand ich beachtlich. Trotz der – nicht nur örtlichen – Entfernungen zwischen den Protagonisten, ist „Die Unsterblichen“ eine Liebeserklärung an Verbundenheit durch familiäre Bande, die bleibt, auch wenn letztere zeitweise recht locker sitzen mögen. Als sich die Autorin jedoch im letzten Teil des Buches der auf den ersten Blick unscheinbarsten Figur widmet, bekam es für mich nochmal eine andere Tiefe. Der vermeintlich übersinnliche Aspekt des Ganzen, die Prophezeiung der Wahrsagerin, verliert dabei zunehmend an Bedeutung. Vielmehr geht es um den Umgang mit Angst, mit Vergänglichkeit und die verschiedenen Konsequenzen, die sich daraus ziehen lassen. Und so besitzt „Die Unsterblichen“ auch noch eine tiefergehende Ebene und ist nicht nur eine mystisch angehauchte, intensiv erzählte Familiengeschichte, wobei es auch als solche eine berührende und lesenswerte Lektüre gewesen wäre.

Verlag: btb Verlag
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 29. Oktober 2018
ISBN: 978-3442758197
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)