25. November 2018

JP Delaney: Believe Me. Spiel Dein Spiel. Ich spiel es besser.

JP Delaneys 2017 erschienener Thriller „The Girl Before“ ist ein spannend klingender Bestseller, von dem ich bereits gehört hatte. Daher habe ich mich sehr über die Gelegenheit gefreut, ein Rezensionsexemplar von „Believe Me“ zu lesen, dem neuesten Buch des Autors, das gleichzeitig ein früheres Werk von ihm ist, mit dem Delaney jedoch nicht zufrieden war. In seiner Danksagung am Ende des Buches schreibt er, dass er durch den Erfolg von „The Girl Before“ „die Chance einer Neuauflage“ von „Believe Me“ bekam, die Urversion jedoch stark verändert hat, weil er mit ihr schon nach Erscheinen nicht mehr zufrieden war: „Ich hatte das Gefühl eine interessante Idee verschwendet zu haben, weil das Buch nicht gut genug gelungen war.“ Tja.


„Believe Me“ beginnt durchaus interessant. Die Engländerin Claire Wright besucht eine Schauspielschule in New York. Sie ist so begabt, dass sie ein Stipendium bekommen hat, das ihre Lebenshaltungskosten jedoch nicht abdeckt. Eine Arbeitserlaubnis erhält sie als Ausländerin allerdings nicht und arbeitet schließlich gegen Cash als Treuetesterin, die verheirateten Männern im Auftrag von deren Ehefrauen Avancen macht. Dabei ist sie sehr erfolgreich – außer bei Universitätsprofessor Patrick Fogler, der sie abblitzen lässt. Am nächsten Morgen wird seine Ehefrau ermordet aufgefunden. Sowohl er als auch Claire stehen zunächst unter Verdacht. Und als die Polizei der jungen Schauspielschülerin ein Angebot macht, kann sie quasi nicht ablehnen, gerät aber zunehmend in einen Interessenskonflikt, weil sie Patrick Fogler immer attraktiver findet …

Das Verhalten der Figuren erschien mir relativ bald nicht mehr besonders schlüssig. Irgendwann kam es dann jedoch zu einem Twist, der mich extrem überrascht hat. Überraschende Wendungen sind ein Markenzeichen von guten Thrillern, aber so richtig glaubwürdig erschienen mir die Geschehnisse auch danach nicht. Die Figuren wirkten zum Teil komplett verquer oder blieben plötzlich merkwürdig blass. Ereignisse, die jeden normalen Menschen extrem irritiert hätten, wurden von ihnen schnell vergessen oder abgetan. Überdies fehlte mir ein anderes Markenzeichen von guten Thrillern: Spannung. Nicht, dass es mich nicht mehr interessiert hätte, wer die Ehefrau von Patrick Fogler ermordet hat, aber den Figuren schien es zum Teil egal und ich hatte auch nicht das Gefühl, dass sie noch an einer Beantwortung dieser Frage interessiert waren.
Ein drittes Markenzeichen von guten Thrillern: die Auflösung. Ich finde, damit steht und fällt ein Buch dieses Genres und erwartete nach dem langen, müden Dahinplätschern der Handlung eine Überraschung – die auch kam und auf der ich nach wie vor herumdenke, da sie einige Geschehnisse in einem anderen Licht beleuchtet. Ich fand die Auflösung nicht schlecht und das Verhalten mancher Protagonisten erscheint mir im Nachhinein schlüssiger. Doch es ändert nichts daran, dass sich das Leseerlebnis eher belanglos gestaltete. „Believe Me“ enthielt einige faszinierende Elemente – Baudelaires Skandal-Gedichtband „Le Fleurs Du Mal“ spielt eine große Rolle, auch die Einblicke in Claires Schauspielunterricht und -verständnis fand ich gelungen. Aus dem ganzen Stoff hätte man mehr rausholen können, glaube ich – wie es wohl auch der Autor dachte, als er seine Geschichte nochmal überarbeitete. Aber in meinen Augen ist es ihm immer noch nicht gelungen. „Believe me“ ist trotz vielversprechender Ansätze nicht komplett stimmig und erst recht nicht spannend, das Gesamtkonzept krankt. Schade, ich hatte mir mehr versprochen.

Verlag: Penguin
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 10. September 2018
ISBN: 978-3328103264
Preis: 15,00 € (E-Book: 9,99 €)

11. November 2018

Daniel Kehlmann: Tyll

Dieses Buch habe ich schon vor fast zwei Wochen ausgelesen, mich bislang jedoch vor der Rezension gedrückt. Der Grund: Ich habe große Zweifel, ob meine Besprechung diesem großartigen, vielschichtigen Roman gerecht werden kann. Ich habe ihn als einzigartig empfunden und somit hat er auch eine ganz besondere Rezension verdient.


Als ich anfing, Daniel Kehlmanns „Tyll“ zu lesen, war ich noch nicht so begeistert. Ich hatte das Buch quasi unaufgefordert ausgeliehen bekommen, bin generell kein besonderer Fan historischer Romane und dass mir gesagt wurde, dieser hier hätte quasi keine Handlung, machte ihn nicht unbedingt attraktiver.

Wobei es gar nicht stimmte: „Tyll“ hat durchaus Handlung. Sie steht allerdings nicht unbedingt im Vordergrund. Der Roman liest sich mehr wie ein Zeitzeugnis, was das 2017 veröffentlichte Buch natürlich in keiner Weise ist. Aber Kehlmann verleiht seinen Figuren einen Ton und eine Sprache sowie dem ganzen Roman eine solch ungewöhnliche Atmosphäre, dass man als Leser mehr in den Dreißigjährigen Krieg eintaucht, als ich es für überhaupt möglich gehalten hätte. Dabei war mir dieser Stoff anfangs sehr fremd, mein Wissen über die damalige Zeit höchst begrenzt. Die acht langen Kapitel, aus denen sich der Roman zusammensetzt, bauen außerdem nicht chronologisch aufeinander auf, was die Lektüre anfangs etwas sperrig macht. Dennoch ist „Tyll“ zu jeder Zeit sehr gut lesbar. Doch das große Ganze zu verstehen, fällt erst einmal schwer, da auch unterschiedliche Figuren im Mittelpunkt der jeweiligen Kapitel stehen, während andere, bisherige Hauptfiguren höchstens noch einmal als Randfigur vorkommen. Auch der titelgebende „Tyll“, eine Till Eulenspiegel nachempfundene Figur, ist kaum eine Hilfe, obwohl er in jedem der Kapitel zumindest auftaucht. Dennoch bleibt er eine nebulöse Figur, mit der sich kaum warm werden lässt. Dies gilt jedoch für alle Protagonisten: Das Identifikationspotential ist außerordentlich gering. Dennoch zieht der Roman einen nach und nach in seinen Bann, was auch daran liegt, dass Kehlmann all die von ihm geschaffenen losen Ende früher oder später auf kunstvollste Art und Weise zusammenführt. Irgendwann lichtet sich der Nebel, Figuren tauchen zum wiederholten Mal auf, Verbindungen werden klar und irgendwann sogar die historischen Zusammenhänge. Wie sich alles zusammenfügte, fand ich höchst faszinierend. Was mich zudem begeisterte: Wie eine längst vergangene, höchst elende Zeit plötzlich so greifbar, so nachvollziehbar und fühlbar wurde. Kehlmann lässt verschiedenste fiktive und historische Figuren zu Wort kommen, die Perspektive der hart schuftenden Müllersfrau kommt genauso vor wie die des vermeintlich Gelehrten, die der Königin und die des Narren.

Und so ist „Tyll“ ein außergewöhnlicher Roman, der mich anfangs leicht abgeschreckt und zu seinem Ende hin richtiggehend begeistert hat – und außerdem einer, den ich glatt nochmal lesen könnte, um auch wirklich alle Zusammenhänge zu begreifen. Ich kann mich nicht erinnern, schon mal ein derartiges Buch gelesen zu haben. „Tyll“ ist große Literatur und nur zu empfehlen.

Verlag: Rowohlt
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2017
ISBN: 978-3498035679
Preis: 22,95 € (E-Book: 19,99 €)

5. November 2018

Chloe Benjamin: Die Unsterblichen

„Worte haben immer nur die Bedeutung, die man ihnen verleiht.“ Diesen Satz las ich gerade in einem eher mittelmäßigen Thriller, doch er passte noch besser zu dem Roman, den ich kurz zuvor beendet hatte. Er handelte von Worten in Form einer Prophezeiung, die das Leben von vier Geschwistern nachhaltig beeinflusst hat. Aber hätte die Prophezeiung auch diese Wirkung gehabt, wenn ihr die Kinder, die sie hörten, weniger Bedeutung zugemessen hätten?


Chloe Benjamins „Die Unsterblichen“ beginnt 1969 in der Lower East Side in New York. Die vier Kinder der Familie Gold langweilen sich in ihren Ferien und als sie von einer Wahrsagerin hören, die ihren Besuchern deren Todesdaten vorhersagt, verspricht das endlich etwas Abwechslung in die Ödnis dieses Sommers zu bringen. Sie spüren die Frau gemeinsam auf – nichtahnend, dass der Besuch jedes ihrer Leben nachhaltig beeinflussen wird: Das der vorsichtigen und vernünftigen dreizehnjährigen Varya, des selbstsicheren elfjährigen Daniel, der lebenshungrigen neunjährigen Klara und des Nesthäkchens, dem siebenjährigen Simon. Denn was bedeutet es, wenn man seinen eigenen Todestag zu kennen glaubt? Lebt man bewusster? Versucht man, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen? Konzentriert man sich aufs Leben oder aufs Überleben? Wird das Ganze zur self-fulfilling prophecy oder schafft man es dauerhaft, eine solche Prophezeiung als Humbug abzutun?

Benjamin erzählt die Lebensgeschichten der Geschwister hintereinander weg. Alle vier schlagen sehr unterschiedliche Wege ein, doch die Autorin schafft es, jedes Leben gleichermaßen nachvollziehbar zu schildern. Und so lässt sie ihre Leser in die Schwulenszene San Franciscos Ende der 1970er Jahre eintauchen, eine der Figuren von ihren ersten Bühnenerfahrungen bis nach Las Vegas begleiten, eine berufliche Sinnkrise miterleben und sich schließlich mit Primatenforschung beschäftigen. Dass diese Entwicklungen alle schlüssig scheinen und jeder dieser höchst unterschiedlichen Charaktere auf seine Weise überzeugt, fand ich beachtlich. Trotz der – nicht nur örtlichen – Entfernungen zwischen den Protagonisten, ist „Die Unsterblichen“ eine Liebeserklärung an Verbundenheit durch familiäre Bande, die bleibt, auch wenn letztere zeitweise recht locker sitzen mögen. Als sich die Autorin jedoch im letzten Teil des Buches der auf den ersten Blick unscheinbarsten Figur widmet, bekam es für mich nochmal eine andere Tiefe. Der vermeintlich übersinnliche Aspekt des Ganzen, die Prophezeiung der Wahrsagerin, verliert dabei zunehmend an Bedeutung. Vielmehr geht es um den Umgang mit Angst, mit Vergänglichkeit und die verschiedenen Konsequenzen, die sich daraus ziehen lassen. Und so besitzt „Die Unsterblichen“ auch noch eine tiefergehende Ebene und ist nicht nur eine mystisch angehauchte, intensiv erzählte Familiengeschichte, wobei es auch als solche eine berührende und lesenswerte Lektüre gewesen wäre.

Verlag: btb Verlag
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 29. Oktober 2018
ISBN: 978-3442758197
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

29. Oktober 2018

Mhairi McFarlane: Sowas kann auch nur mir passieren

Meine Chick-Lit-Phase (Wikipedia übersetzt den Begriff mit "Mädels-Literatur") habe ich weitestegehend in meinen 20ern hinter mir gelassen. Manchmal mache ich jedoch Ausnahmen, wenn ich auf eine gehörige Portion nicht zu flachen Humors hoffen kann, trotz des garantierten Happy Ends interessante Wendungen vorausahne und die Liebesgeschichte nicht zu flach und 08/15-mäßig erscheint. Ein Garant für außergewöhnlich unterhaltsame Chick-Lit ist die Engländerin Mhairi McFarlane, von der ich alle bisherigen Romane gelesen habe. Es war also klar, dass ich mir auch ihr neuestes Werk nicht entgehen lassen würde:


„Sowas kann auch nur mir passieren“ steht in Tradition seiner vier Vorgänger. Der Roman enthält die typischen Elemente, die in allen Büchern der Autorin vorkommen: Humor, emotionalen Tiefgang, das Reifen einer Persönlichkeit nicht zuletzt durch die Hilfe ihrer großartigen Freunde und eine Liebesgeschichte, die mit gewissen Irrungen und Wirrungen verbunden ist. Wobei mir gerade diese etwas zu kurz kam und mir dafür das Ende einen Tick zu rosarot war. Ansonsten wäre das Lied zum Buch allerdings Travis‘ „Why does it always rain on me?”. Hauptfigur Georgina schlittert in weiten Teilen des Romans von einer verkorksten/peinlichen/deprimierenden Situation in die nächste. Die 30-jährige Kellnerin, die eigentlich gerne Schriftstellerin werden würde, wird gleich zu Beginn des Romans als Bauernopfer gefeuert, erwischt ihren Freund mit einer anderen und als sie einen neuen Job in einem Pub ergattert, muss sie feststellen, dass einer der Manager ihre erste große Liebe war, sich jetzt jedoch nicht mal mehr an sie erinnert. McFarlanes Humor wirkt wie immer entschärfend, ihr Wortwitz macht das Ganze amüsant, aber dennoch hat die Protagonistin so viel Pech, dass es mir manchmal doch schwerfiel, weiterzulesen, weil sie mir so leidtat. Passenderweise ist über jedem Kapitel eine Regenwolke abgebildet.

Während dieser Pechvogel von Hauptfigur überaus sympathisch ist, ist ihr Gegenspieler, ihr Ex-Freund Robin, ein totaler Fiesling. Auch in McFarlanes übrigen Büchern spielen verkorkste frühere Beziehungen immer eine Rolle, doch kamen sie mir sonst nicht ganz so schwarzweiß gezeichnet vor. Noch mehr gestört hat mich jedoch die Tatsache, dass im Klappentext von „Sowas kann auch nur mir passieren“ ein den besagten Ex-Freund betreffendes Detail verraten wird, das im Buch aber erst gegen Ende des Romans herauskommt (in der E-Book-Ausgabe nach über 80%). Diesen Spoiler hätte es nicht gebraucht, lieber Knaur Verlag.
Alles in allem habe ich mich gut amüsiert und werde sicher auch beim nächsten Buch der Autorin wieder zugreifen (allerdings in der Hoffnung, dass es in Ton und Originalität stärker an ihre früheren Erfolge anknüpft). Allen, die Mhairi McFarlane noch nicht kennen, sei jedoch einer ihrer anderen vier Romane ans Herz gelegt – die waren in meinen Augen noch eine Prise humorvoller, inhaltlich runder und irgendwie ausgewogener.

Verlag: Knaur Taschenbuch
Seitenzahl: 464
Erscheinungsdatum: 2. November 2018 (E-Book: 29. Oktober 2018)
ISBN: 978-3426520765
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

21. Oktober 2018

Jane Harper: Ins Dunkel

Team-Incentives dienen der Mitarbeitermotivation und/oder -belohnung. Sie sollen die Identifikation mit dem Unternehmen steigern, die Stimmung und den Zusammenhalt im Team fördern und Anreize für die Mitarbeiter schaffe, ihr Bestes zu geben. Derartige Events können total lustig sein, manchmal ist die Stimmung aber auch etwas krampfig. So gut wie nie geraten sie aber so aus den Fugen wie in dem folgenden Thriller:


Jane Harpers „Ins Dunkel“ handelt von einem Team-Incentive, das fürchterlich schief geht. Zehn Mitarbeiter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft BaileyTennants werden, nach Geschlechtern getrennt, für vier Tage auf unterschiedlichen Trekking-Routen durch das australische Giralang-Massiv geschickt. Die Männer kommen noch vor der vereinbarten Zeit am gemeinsamen Ankunftspunkt an, doch von ihren fünf Kolleginnen fehlt jede Spur – noch stundenlang. Schließlich erreichen auch die Frauen ihr Ziel, doch sie sind in einem desolaten Zustand – und nur noch zu viert …

Wo ist Alice Russell? Davon handelt „Ins Dunkel“. Gleich der Prolog stellt klar: „Später waren sich die vier Frauen nur in zwei Dingen einig. Erstens: Niemand hatte gesehen, wie die Wildnis Alice Russell verschluckte. Und zweitens: Alice hatte eine so scharfe Zunge, dass man sich daran schneiden konnte.“

Bald sucht die örtliche Polizei nach der Vermissten, doch nicht nur die. Auch die Kollegen von der Steuerfahndung helfen bei den Ermittlungen. Denn Alice Russell sollte als geheime Informantin dazu beitragen, dunklen Machenschaften von BaileyTennants auf die Spur zu kommen. Steht ihr Verschwinden in irgendeinem Zusammenhang damit? Die Tatsache, dass vor 20 Jahren ein Massenmörder sein Unwesen im Giralang-Massiv getrieben hat, tut es ja sicherlich nicht – oder?

Autorin Harper lässt ihre Leser lange im Dunkeln tappen, während diese wiederum die zunächst noch fünf Frauen auf ihrem Trekking-Trip ins Dunkel begleiten. Kapitelweise wechseln sich die Schilderungen über den Ablauf des Trips und die Ermittlungen des Polizisten Aaron Falk und seiner Kollegin ab. Die Gruppendynamik während des Teamevents und die mühsame Suchaktion in der Romangegenwart lassen einen dabei kaum zu Atem kommen. Vieles scheint möglich, doch was ist wirklich passiert?

„Ins Dunkel“ ist ein atmosphärisch dichter, immens gekonnt geschriebener Thriller, den ich in kürzester Zeit verschlungen habe. Es ist bereits das zweite Buch, in dem Jane Harper ihren Federal Agent Aaron Falk ermitteln lässt. Dabei lässt es sich bestens ohne Vorkenntnisse lesen, macht aber großen Appetit auf ihren Erstling. Harper konzentriert sich auf eine noch überschaubare Anzahl von Figuren, in deren Seelenleben sie einige Einblicke gibt. Die Charakterstudien werden von Kapitel zu Kapitel komplexer und verlieren sich doch nicht in irrelevanten Details. Die psychische Ausnahmesituation der verirrten Frauen ist fast am eigenen Leib zu spüren, die Spannung flacht zu keinem Zeitpunkt ab. Jedem Thriller-Liebhaber nur zu empfehlen – vielleicht aber nicht gerade als Lektüre während eines Wanderwochenendes oder Team-Incentives. Wobei das den Abenteuer-Faktor sicherlich erhöhen würde.

Verlag: Rowohlt Taschenbuch
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 24. Juli 2018
ISBN: 978-3499274732
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

14. Oktober 2018

Andreas Eschbach: NSA

Von diesem Autor hatte ich noch nie zuvor etwas gelesen, mehrere seiner Titel waren mir aber trotzdem ein Begriff. Er hat viele Bestseller geschrieben, einige stehen auch im Romanregal, weil mein Mann sie gekauft und gelesen hat. Ich nicht, mir erschienen sie thematisch immer etwas zu abgedreht. Aber dann habe ich auf der Plattform "Lesejury" des Bastei Lübbe Verlags in den neuesten Roman des Autors reingelesen. Nicht, dass die Geschichte dieses Buches nicht abgedreht wäre - im Gegenteil - , aber sie hat mich sofort dermaßen gepackt, dass ich mich sehr gefreut habe, als ich das Buch im Rahmen einer Leserunde lesen durfte. Und darum geht es:



Was wäre, wenn …


… es im Dritten Reich bereits ein überall verfügbares Internet sowie Big Data gegeben hätte? Ein gruseliger Gedanke, dem sich Autor Andreas Eschbach in seinem neuen Roman „NSA“ auf 796 Seiten widmet – wobei es ihm gar nicht so sehr um die Frage ging, was dann damals passiert wäre. Im Rahmen der Leserunde stellte Eschbach klar, dass ihn vielmehr folgende Überlegung bewegt hat: „Was wäre, wenn heute, da es all das gibt, noch einmal ein solches Regime an die Macht käme?“ Die Antwort, die der Autor in seinem Roman gibt, ist immens verstörend.

„NSA“ beginnt im Februar 1942. Deutschland befindet sich im Krieg, doch das ist nicht der Grund, warum sich das Nationale Sicherheits-Amt (kurz: NSA) in Weimar im Ausnahmezustand befindet. An diesem Tag besucht der zweitmächtigste Mann des Reiches, Heinrich Himmler, die Behörde, um sich ein Bild von ihren Möglichkeiten zu machen. Falls er nicht von der Nützlichkeit des Amtes überzeugt werden kann, droht die Schließung, was für die männlichen Angestellten ohne Zweifel einen Einberufungsbefehl zur Folge hätte. Doch die Mitarbeiter sind vorbereitet, Himmler die Möglichkeiten von Big Data vor Augen zu führen. Und Big Data ist in dieser alternativen Vergangenheit tatsächlich noch weiter als heute, im Jahr 2018: So lassen sich zum Beispiel alle Einkäufe, die eine Person getätigt hat, lückenlos nachvollziehen – zumindest seit dem 1.07.1933, dem Tag, an dem das Bargeld in dem Deutschland dieser Alternativweltgeschichte abgeschafft wurde. Seitdem zahlen alle Bürger mit Geldkarte oder dem sich seit 1934 sprunghaft verbreitenden Volkstelephon (sic!). Über das man übrigens auch ins sogenannte Weltnetz gehen, etwas ins Deutsche Forum schreiben oder Elektropost versenden kann.
Die totale Vernetzung und Überwachung bietet ungeahnte Möglichkeiten. Zum Beispiel wird vor Himmlers Augen live der Frage nachgegangen, ob ein signifikant überdurchschnittlicher Kalorienverbrauch kein Hinweis darauf sein könnte, dass in einem Haus mehr Menschen leben, als offiziell bekannt …

Nach einer eindrücklichen Vorstellung des Nationalen Sicherheits-Amtes und dessen Möglichkeiten nimmt Andreas Eschbach seine Leser dann erst einmal in eine noch ein paar Jahre weiter zurückliegende Vergangenheit mit. Die beiden Hauptfiguren des Romans, Helene Bodenkamp und Eugen Lettke, werden von Kindesbeinen an vorgestellt. Sie, Arzttochter aus gutem Hause, deren beste Freundin jüdische Wurzeln hat und er, stets auf den eigenen Vorteil bedachter Sohn eines Kriegshelden des Ersten Weltkriegs, sind sehr unterschiedliche Charaktere. Ihre Wege kreuzen sich im NSA, wo sie als hochtalentierte Programmstrickerin und er als Analyst eingestellt werden

Der Roman zeichnet das Leben der Protagonisten nach und so findet man sich als Leser wie nebenbei in einer Art alternativem Dritten Reich wieder, das gleichzeitig fremd und vertraut wirkt. Bekannte Namen wie die von Anne Frank, den Geschwistern Scholl und Josef Mengele tauchen auf, doch der Kontext ist teils verändert, das Geschehen nimmt einen anderen Verlauf. Die Romanlektüre fühlt sich an, als hätte Eschbach die bekannten Fakten mit den heutigen technischen Möglichkeiten in eine Rührschüssel gegeben und alles kräftig durchgemixt. Dann fügt er noch eine ordentliche Prise „worst case“ hinzu. Heraus kommt ein Roman, der es in sich hat, weil er sich nachvollziehbar liest und das Gedankenexperiment immer weiter auf die Spitze treibt. Die Handlung nimmt mehr und mehr an Fahrt auf. Immer, wenn man sich an die verstörenden Gegebenheiten halbwegs gewöhnt hat, setzt der Autor noch einen drauf – und noch einen, und noch einen. Mitunter ist es schwer auszuhalten – gerade weil das Ganze so glaubwürdig scheint. Die beschriebene Technik und was sie ermöglicht, das ganze fiktionale Konstrukt ist immens durchdacht. Eschbach schont weder seine Figuren noch seine Leser. Mir war bis zum Ende nicht klar, wo das alles hinführen würde und nach dem Romanende musste ich erst einmal wieder zu mir finden. „NSA“ ist eine ganz klare Warnung vor dem Unvorstellbaren – das nach der Lektüre gar nicht mehr so unvorstellbar scheint, weil der Autor die existierende Vergangenheit mit bereits mehr oder weniger existierender und angewandter Technologie verknüpft hat. Bedenkt man, dass er eigentlich verdeutlichen wollte, was wäre, wenn ein derartiges Regime heute an die Macht käme, wird aus der Alternative History fast eine Dystopie. In jedem Fall hallt die Geschichte nach und sensibilisiert in Bezug auf den Umgang mit Daten. Keine Feelgood-Lektüre, aber eine, die das Zeug hat, die eigene Perspektive zu verändern und den Blick zu schärfen – durch eine furchtbare Ahnung davon, dass vermutlich nichts undenkbar oder unmöglich ist.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 800
Erscheinungsdatum: 28. September 2018
ISBN: 978-3785726259
Preis: 22,90 € (E-Book: 16,99 €)

9. Oktober 2018

Katja Lange-Müller: Drehtür

Am Mittwoch beginnt die Frankfurter Buchmesse! Leider wieder ohne mich. Aus der Ferne habe ich aber natürlich verfolgt, wer gestern den Deutschen Buchpreis 2018 erhalten hat: Nicht Maxim Biller und seine „Sechs Koffer“, sondern Inger-Maria Mahlke mit "Archipel". Diesen rückwärts erzählten Roman habe ich bislang nicht gelesen, hoffe aber, das bald nachholen zu können.

Trotzdem bin ich am vergangenen Wochenende noch halbwegs in der Buchpreis-Thematik geblieben mit der Lektüre eines Buches, das immerhin auf der Longlist stand – allerdings schon 2016. Nachdem es in diesem Sommer im Taschenbuch erschienen ist, hatte ich zugegriffen.


Eine „Drehtür“ spielt eine wesentliche Rolle in dem gleichnamigen Roman von Katja Lange-Müller. Würde man ihn als Theaterstück inszenieren oder gar verfilmen, wäre sie der bedeutendste Teil der Kulisse. Denn Hauptfigur Asta Arnold bewegt sich kaum von ebendieser Drehtür weg, die sie aus dem Gebäude des Münchener Flughafens zu einem Aschenbecher geführt hat, wo sie nun eine Camel nach der anderen raucht. Die Ich-Erzählerin kommt gerade aus Nicaragua, wo sie als Krankenschwester für eine internationale Hilfsorganisation gearbeitet hat, bis sie ihre Arbeitgeber mit einem One-Way-Ticket nach Deutschland in den unfreiwilligen Ruhestand schickten. Da steht die Gestrandete nun und kommt irgendwie nicht mehr vom Fleck. Was bleibt der ewigen Helferin noch, wenn ihre Hilfe nicht mehr erwünscht ist? Asta Arnold raucht und lässt ihren Gedanken freien Lauf; und so liest sich der gesamte Roman wie ein einziger Stream of Consciousness. Immer wieder fallen der Protagonistin Reisende, im Flughafen Angestellte und einmal sogar eine Katze ins Auge, die in ihr Erinnerungen an frühere Wegbegleiter auslösen – teils so starke Erinnerungen, dass sie glaubt oder glauben will, vielleicht sogar diese alten Bekannten selbst am Münchener Flughafen zu sehen. Doch sie spricht keinen von ihnen an, stattdessen raucht sie und denkt an vergangene Zeiten. Einige ihrer Erinnerungen sind so ausführlich, dass sie fast Kurzgeschichtencharakter haben, andere bleiben Fragmente. Sie führen zu nichts, außer zu neuen Beobachtungen und neuen Geschichten. Asta Arnold blickt auf ein bewegtes Leben zurück, das man als Leser doch nur sehr auszugsweise kennenlernt, weil sie an das, was ihr nicht genehm ist, nur kurz oder gar nicht denken mag, eventuelle Zusammenhänge für sich behält. Und obwohl die Figur dadurch nicht komplett erfassbar wird, wächst sie einem irgendwie ans Herz und man wünscht sich fast, man könnte sie von dieser Drehtür wegführen, in der Hoffnung, das könnte Asta dazu bringen, nach vorne zu blicken. Denn wie die Tür kreist die Protagonistin seit ihrer Ankunft am Flughafen nur um sich selbst, ohne Ziel. Ob sie den Absprung schließlich schafft, sei hier nicht verraten.

„Drehtür“ ist in einem saloppen, trotzig-starken Ton geschrieben, durch den man sofort eine Beziehung mit der aus Nicaragua Entlassenen aufbaut. Man taucht mit ihr in ihre Erinnerungen ein und am Ende auch wieder daraus hervor. Nach der Lektüre fragte ich mich leicht desorientiert, was das jetzt war und kann diese Frage kaum beantworten. Aber ich habe Asta Arnold gerne Gesellschaft an ihrer Drehtür geleistet und werde an die ein oder andere ihrer Anekdoten sicher noch einmal zurückdenken.

Verlag: FISCHER Taschenbuch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 11. August 2016 (Hardcover-Ausgabe)
ISBN: 978-3596298891
Preis: 11,00 € (E-Book: 10,99 €)

5. Oktober 2018

Maxim Biller: Sechs Koffer

In drei Tagen (am Montag, den 8.10.) wird bereits der Deutsche Buchpreis 2018 verliehen. Ich habe keinen Favoriten für den Preis, allerdings habe ich leider auch nur eines der Bücher von der diesjährigen Shortlist gelesen. Dieses war für mich jedoch schon einmal nicht der beste deutschsprachige Roman des Jahres. Es ist zwar virtuos geschrieben, hat mich aber seltsam kalt gelassen.


Maxim Billers „Sechs Koffer“ ist ein schmales Bändchen von ungefähr 200 Seiten, die der Autor bestens nutzt. Er fächert in seinem Roman eine Familiengeschichte auf, in die der Leser 1965 ein- und 2016 wieder aussteigt. Der Ich-Erzähler ist 1960 in Russland geboren und verbringt seine frühe Kindheit in Prag, bevor seine Familie 1970 nach Westdeutschland zieht. Die Parallelen zu seinem Schöpfer Maxim Biller sind offensichtlich: Beide sind im gleichen Jahr geboren (Biller allerdings in Prag), beide sind Kinder russisch-jüdischer Eltern und beide kommen im Alter von 10 Jahren in die BRD. Selbst die Namen der Mutter und Schwester sind gleich (Rada und Elena/Jelena). Trotzdem ist der Roman nicht autobiografisch, Biller selbst stellt in seinem Einzelportrait für den Deutschen Buchpreis klar, dass er Fakten und Fiktion wild durcheinandergewirbelt hat: „Dagegen ist […] ein Eintopf nichts […] und ich kann Ihnen nur eins sagen: Die meisten Sachen, die in diesem Buch erzählt werden, sind komplett erfunden.“

Und so bleibt zumindest zu hoffen, dass Billers eigener Opa nicht 1960 in der Sowjetunion hingerichtet wurde, wie der seines Ich-Erzählers. Dieser verdächtigt ein enges Familienmitglied, den Großvater denunziert zu haben – bzw. werden nach und nach sogar mehrere Familienmitglieder verdächtigt. Wie nebenbei wird die Großfamilie knapp porträtiert: Neben dem Vater, der Mutter und der Schwester gibt es noch drei Onkel und eine angeheiratete Tante. Im Hintergrund spielen sich kleinere Erlebnisse rund ums Erwachsenwerden ab. Das Ganze ist gut lesbar, sprachlich schön erzählt und vom Ton her meist reduziert-lakonisch. Berührt hat mich der Text jedoch kaum. Wirklich mitfühlen konnte ich mit keiner der relativ blass bleibenden Figuren, ich fand zwar einige von ihnen durchaus interessant, aber nicht so nahbar, dass mich ihr Wohl und Wehe irgendwie bewegt hätten. So ähnlich ging es mir auch mit Biller, wenn ich ihn früher in der Sendung „Das Literarische Quartett“ sah, wo „Sechs Koffer“ übrigens am 10. August 2018 besprochen wurde.
Nachdem ich den Roman gelesen hatte, habe ich mir die Sendung angeschaut und teile den Wunsch der Autorin Sasha Marianna Salzmann, die zu Gast war: „Ich würde mir wünschen, dass ich mich in die Figuren hineinversetzen kann.“ Thea Dorn ergänzt später: „Maxim Biller geht dem unendlichen Schmerzpotential, das in dieser Geschichte steckt, nicht wirklich nach.“ Beides geht für mich Hand in Hand: Dadurch, dass bei den Figuren anscheinend nur an der Oberfläche gekratzt wird, bleibt die Erzählung ziemlich emotionslos, obwohl es angesichts der Handlung und Protagonisten so viel mehr Möglichkeiten gegeben hätte.

Stellenweise habe ich mich gewundert, welche belanglosen Anekdoten in diesen kurzen Text Einzug fanden – die flüchtige Zugbekanntschaft mit Hormonstau zum Beispiel, der unbedeutende Kuss der Cousine. Handlungsstränge von offensichtlich größerer Bedeutung wurden dagegen nicht auserzählt. Wie durch Zeiten und Orte gejagt wird, kann als kunstvoll bezeichnet werden, aber mehr wäre an dieser Stelle tatsächlich mehr gewesen, finde ich. Ich hatte mir auf jeden Fall mehr versprochen, nachdem ich Biller als scharfen Kritiker kennengelernt hatte. Aber, um hier doch tatsächlich mal Dr. Eckart von Hirschhausen zu zitieren: „Der Wegweiser muss den Weg nicht mitgehen“ … Die „Sechs Koffer“ sind kein schlechtes Büchlein, hinterlassen aber keinen bleibenden Eindruck bei mir. Ob sie wohl am kommenden Montag den wichtigsten Literaturpreis Deutschlands gewinnen werden? Ich bin sehr gespannt.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 208
Erscheinungsdatum: 8. August 2018
ISBN: 978-3462050868
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

28. September 2018

Agatha Christie: And then there were none

Diesen absoluten Klassiker habe ich vor ca. 18 Jahren schon einmal gelesen – damals allerdings auf Deutsch und noch unter dem Titel „Zehn kleine Negerlein“. Als „Ten little Niggers“ wurde der Roman im Jahr 1939 in England erstveröffentlicht, doch schon als er 1940 in den USA erschien, wählte man als Titel „And then there were none“ – laut Wikipedia „mit Rücksicht auf die afroamerikanische Bevölkerung“, was mich positiv überrascht hat: Ich hätte gar nicht gedacht, dass damals schon sprachliche Rücksicht genommen wurde. Ab 1985 wurde der amerikanische Titel auch in Großbritannien verwendet.
Die Titelhistorie im deutschsprachigen Raum liest sich fast diametral: Die deutsche Erstveröffentlichung geschah unter dem Titel „Letztes Weekend“ im Jahr 1944, doch ab 1982 wurde der Krimi unter dem Titel „Zehn kleine Negerlein“ veröffentlicht. Während man sich also in den 1980er Jahren überall im englischsprachigen Raum vom Originaltitel verabschiedete, wurde er im deutschsprachigen Raum erst eingeführt. 2003 stieg man dann auch hierzulande auf „Und dann gabs keines mehr“ um.
Sowohl alter als auch neuer Titel verweisen auf einen Abzählreim, der in diesem Krimi eine bedeutende Rolle spielt – in der aktuellen englischen Ausgabe ist allerdings von „Ten little soldiers“ die Rede.


„And then there were none“ gilt als erfolgreichster Krimi aller Zeiten, laut Wikipedia wurden 100 Millionen Exemplare verkauft. Ich würde ihn jedem empfehlen, der noch nichts von der Queen of Crime gelesen hat, aber zumindest einmal in ihr umfangreiches Werk hineinschnuppern will. Hier gibt es keine Miss Marple, keinen Hercule Poirot, keine Anspielungen auf ältere Werke, nur einen meisterhaft konstruierten Fall mit einer glasklaren Ausgangssituation und einer schlüssigen, aber meiner Meinung nach unmöglich zu erratenden Auflösung. Obwohl Agatha Christie „And then there were none“ bereits vor 80 Jahren geschrieben hat, hat die Geschichte nichts von ihrer Spannung eingebüßt. Die Grundidee ist so einfach wie fesselnd: Zehn einander unbekannte Menschen werden unter verschiedenen Vorwänden in eine Luxusvilla auf einer kleinen, einsamen Insel gelockt. Nach dem ersten Abendessen findet die gute Stimmung ein jähes Ende: Eine zuerst nicht zuordbare Stimme verliest zehn Anklagen – jeder der Anwesenden wird mit einem ungesühnten Tötungsdelikt in Verbindung gebracht. Schock und Empörung sind groß, man ist sich schnell einig, die Insel am nächsten Morgen wieder verlassen zu wollen. Doch ein Sturm zieht auf und schon einer der Anwesenden wird nicht mal mehr diesen ersten Abend überleben …

Beim Wiederentdecken des Krimis musste ich an einen anderen denken, den ich vor ein paar Monaten gelesen habe. Die Autorin hat sich eventuell sogar von Agatha Christie inspirieren lassen; sie schilderte ein Klassentreffen in einer abgelegenen Hütte im Wald, bei der gleich mehrere der ehemaligen Klassenkameraden nach und nach ermordet werden. Dieser Krimi hatte mich ziemlich enttäuscht: Er war verworren, überladen und die Auflösung am Ende einfach billig. Der Unterschied zu „And then there were none“ ist wie Tag und Nacht: Agatha Christie geht sehr reduziert vor. Die Anzahl der handelnden Figuren ist überschaubar, über das Leben der einzelnen Protagonisten erfährt man nur so viel wie nötig. Auch der Schauplatz ist schnell beschrieben, selbst der unbekannte Mörder macht seine Absichten relativ deutlich klar. Und dennoch tappt man als Leser komplett im Dunkeln – bis zur Auflösung. Diese ist höchst raffiniert, schlüssig durchdacht und glaubwürdig. Und dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass man von alleine darauf kommen kann – ganz großes Kino! Dessen war sich auch die Autorin bewusst; der englischen E-Book-Ausgabe ist eine Notiz von ihr vorangestellt: „I had written this book because it was so difficult to do that the idea had fascinated me. […] I wrote the book after a tremendous amount of planning, and I was pleased with what I had made of it. It was clear, straightforward, baffling, and yet had a perfectly straightforward explanation […] It was well received and reviewed, but the person who was really pleased with it was myself, for I knew better than any critic how difficult it had been.”

“And then there were none” war Agatha Christies 26. Krimi. Sie schrieb ihn also mit großer Erfahrung und ihre Einschätzung des Textes zeugt von einem gesunden Selbstbewusstsein. Ich kann nur sagen: zu Recht!

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 400
Erscheinungsdatum dieser Ausgabe: 3. März 2003, der Krimi an sich erschien jedoch am 6. November 1939 erstmals.
ISBN: 978-0007136834
Preis: 5,99 € (E-Book: 5,99 €)

24. September 2018

Rachel Khong: Das Jahr, in dem Dad ein Steak bügelte

Als wirklichen Nachteil von E-Books empfinde ich nach wie vor den Verlust der Haptik und die auf Readern in der Regel öde wirkende Darstellung von Buchcovern. Beim folgenden Titel fehlte das Cover sogar komplett, was eventuell daran lag, dass ich die Buchdatei nicht gekauft, sondern als Leseexemplar zur Rezension bekommen habe. In jedem Fall ist es schade, denn das Buch hat einen sehr farbenfrohen, fröhlichen Titel, was auf dem Handy zumindest ansatzweise rauskommt.


„Das Jahr, in dem Dad ein Steak bügelte“ erzählt genau das, was der Titel verspricht: Das Jahr im Leben der 30-jährigen Kalifornierin Ruth, in dem sie noch einmal zu Hause einzieht, und in dem ihr Vater schließlich versucht, auf ungewöhnliche Art und Weise ein Steak zuzubereiten. Grund dafür ist, dass er sich an die herkömmliche Zubereitungsart zumindest in diesem Moment nicht mehr erinnert. Ruths Vater, ein ca. 60 Jahre alter, erfolgreicher Geschichtsprofessor, ist an Alzheimer erkrankt. Als ihre Mutter sie an Weihnachten bittet, das nächste Jahr noch einmal zu Hause einzuziehen, hat die Tochter gerade den Boden unter den Füßen verloren; ihr Verlobter hat sie verlassen. Nach eigenem Empfinden sitzt sie im „Boot der Unverheirateten, Karrierelosen. Das eher eine Art Kanu ist.“ Sie braucht einen Neuanfang und kommt dem Wunsch ihrer Mutter nach. Das Jahr in ihrem Elternhaus beschreibt sie in knappen, tagebuchartigen Einträgen. Rachel Khongs Stil fand ich dabei sehr besonders: Sie lässt ihre Ruth fragmentarisch erzählen, in lakonischer Kürze teilt sie kleine Episoden aus ihrem Alltag mit. Sie beschreibt ihre Erlebnisse sachlich und kurz, viele Einträge umfassen maximal eine Seite. Und trotzdem schwingen Tragik, aber auch Komik, Trauer und Freude bei jeder Schilderung leise mit. Es geht dabei längst nicht nur um die Krankheit des Vaters, es geht um Familie, Liebe, Freundschaft, begangene Fehler und die Verarbeitung von unwiderruflich Vergangenem. Ihr reduzierter Stil hindert Rachel Khong in keinster Weise daran, ein ganzes Spektrum von Gefühlen auszudrücken, das hat mir sehr gefallen. Ruth ist keine ganz unsperrige Protagonistin, sie hat eine Reihe von mehr oder weniger liebenswerten Marotten, unter anderem sammelt sie Mandeln, die ungewöhnlich geformt sind und unnützes Wissen. Sie hat einen ungewöhnlichen Blick auf die Dinge: „Ich sah mir das Steak an und stellte fest, wie wunderbar du es angebraten hattest. Ich briet die andere Seite in einer Pfanne und dann salzten und aßen wir es.“

Auch wenn sie – wie sämtliche Romangeschehnisse – nicht detailliert beschrieben werden, schimmern die schweren Momente durchaus durch. Doch Khong lässt ihre Ich-Erzählerin nie ihre Leichtigkeit verlieren. Und so liest sich auch dieser Roman zwar durchgängig leicht, berührt dabei aber trotzdem tief. Ein schönes Buch.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 7. September 2018
ISBN: 978-3462049725
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

19. September 2018

Lukas Rietzschel: Mit der Faust in die Welt schlagen

Meist lese ich Romane, weil mich der Klappentext anspricht und die Handlung interessiert. Ein anderer Grund kann sein, dass ich den Autor bereits kenne und schätze. Manchmal ist auch das Cover ausschlaggebend. Bei diesem Buch hier gab es jedoch einen anderen Auslöser: Ich hatte das Gefühl, ich sollte lesen, was die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung als den „Ost-Roman des Moments“ und der stern als einen „der besten und wichtigsten Romane des Jahres“ bezeichnet hat. Ich hoffte, es würde mir helfen, zu verstehen; eine Antwort darauf zu finden, wer solche Menschen sein können, was sie geprägt hat: sich abgehängt fühlende „besorgte Bürger“, AFD-Wähler, hasserfüllte Rechtsextremisten.


Lukas Rietzschels Debüt „Mit der Faust in die Welt schlagen“ handelt vom Leben der sächsischen Familie Zschornack und schildert das Heranwachsen der Söhne Philipp und Tobias. Die Handlung beginnt im Jahr 2000 auf einer Baustelle, auf der gerade das neue Eigenheim der Zschornacks gebaut wird. Tobias ist ungefähr fünf Jahre alt, Philipp geht bereits in die Grundschule, der Vater arbeitet als Elektriker, die Mutter als Krankenschwester. Diese Ausgangssituation wirkt eigentlich hoffnungsvoll, und doch schwingt bereits auf jeder Seite eine gewisse Trostlosigkeit mit, die sich durch den gesamten Roman zieht. Eine Trostlosigkeit, die auch die Kinder schon zu spüren und in sich aufzunehmen scheinen. Die stillgelegte und langsam verfallende Ziegelesse in der Nachbarschaft. Arbeiter mit Ausbildungen, die nichts mehr wert sind. Das abschätzige Gerede über die Sorben, deren Sprache man nicht versteht. Der Kollege des Vaters, dessen Frau allein in den Westen gezogen ist und über den sich das Gerücht hält, er wäre Stasi-Spitzel gewesen.

Die Coming-of-Age-Geschichte von Philipp und Tobias zieht sich in drei großen Zeitabschnitten bis ins Jahr 2015. Kindheit und Jugend werden in einer losen Abfolge vor allem kleinerer Ereignisse geschildert. Sie verlaufen weder besonders glücklich noch besonders unglücklich; es gibt steife Familienfeiern und Misserfolge in der Schule – so weit, so normal. Prägend scheint jedoch eine gewisse Sprachlosigkeit in der Familie zu sein, die sich durch alle Generationen zieht. Die Großeltern schweigen, die Eltern schweigen. Die Kinder schweigen irgendwann auch, nachdem ihre Fragen zu lange unbeantwortet geblieben sind. In der Familie Zschornack wird über den Alltag gesprochen, aber nicht über die Vergangenheit. Nicht über Gefühle, nicht über Perspektiven, nicht über Zukunftsträume. Letztere gibt es wohl gar nicht; die Eltern scheinen schon vor langer Zeit resigniert zu haben und diese Resignation unbewusst an beide Kinder weiterzugeben. Man fühlt sich klein, man macht sich klein. Für die Söhne funktioniert das irgendwann nicht mehr.

Rietzschel, 1994 in Ostsachsen geboren und damit ungefähr im gleichen Alter wie seine Protagonisten, macht in seinem Erstling Macht- und Mutlosigkeit greifbar. Beides scheint sich von einer Generation auf die andere zu übertragen. Einige Figuren begehren dagegen auf, was aber nicht bedeutet, dass sie sich aktiv um ein besseres Leben bemühen. Stattdessen reift der Wunsch, „Mit der Faust in die Welt schlagen“ zu wollen. Es wird plausibel dargestellt, wie manche Jugendliche ihr Ventil finden: sich zusammenrotten, Stärke durch Einschüchterung Schwächerer demonstrieren. Andere flüchten sich in Alkohol und Drogen, das Glück scheint es nur im verhassten Westen zu geben, wo die Gutmenschen leben, die man nicht kennt und auch nicht kennenlernen will. Die Wut wächst, wenn man sich ungeliebt und vergessen fühlt. Der Hass auf das Fremde ist endlich ein Gefühl, über das man reden kann; die Fremden sind Menschen, denen man sich endlich mal überlegen fühlt. Es liest sich bedrückend in seiner Nachvollziehbarkeit.

Ich habe in diesem Roman nach dem einen Punkt gesucht, der der Wendepunkt war – der, an dem die Dinge hätten anders verlaufen können, wenn vielleicht ein, zwei Parameter anders geartet gewesen wären. Ich konnte ihn nicht finden. „Mit der Faust in die Welt schlagen“ lässt mich daher teils ratlos zurück. Und doch habe ich Einblicke in Denkweisen bekommen, die mir unbekannt waren, habe eine bessere Idee davon erhalten, was Trost-, Macht-, Mut- und Perspektivlosigkeit mit einem machen können. Lukas Rietschel hat einen Roman geschrieben, der nicht wertet, der keine Lösungen aufzeigt, der es dem Leser nicht leicht macht. Aber er klingt nach.

Verlag: Ullstein
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 7. September 2018
ISBN: 978-3550050664
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)