31. August 2018

Didi Drobna: Als die Kirche den Fluss überquerte

Manche Bücher machen etwas mit einem, und dieses Buch gehört dazu. Es hat mich nachhaltig berührt und obwohl ich seinen Anfang als etwas sperrig empfunden habe und mir die Hauptfigur lange fremd blieb, war ich am Ende extrem angetan. Ein intensives Leseerlebnis und ein Roman, der die Seele berührt.


„Als die Kirche den Fluss überquerte“ ist eine in zwei Teile zerfallende Familiengeschichte. Sie kreist um die beiden tiefen Einschnitte im Leben des Ich-Erzählers Daniel, die zusammenhanglos relativ dicht aufeinanderfolgen – oder besser gesagt: Der Ich-Erzähler selbst kreist um diese zwei Ereignisse und der Leser dreht sich gezwungenermaßen mit. Während der ersten Romanhälfte fühlte ich mich teils wie auf einem Karussell, aus dem es keinen Ausstieg gab, das änderte sich dann jedoch abrupt. Aber der Reihe nach.

Zu Beginn des Buches trennen sich Daniels Eltern, scheinbar aus heiterem Himmel, was ihn schwer trifft. Der Sohn hat immense Schwierigkeiten, mit der neuen Situation klarzukommen. Die Familie scheint sein einziger Lebensinhalt zu sein: Freunde spielen keine Rolle, auch Hobbys, eine Ausbildung oder ein Studium werden nicht erwähnt. Tatsächlich hat sich mir lange nicht erschlossen, was der Protagonist den lieben langen Tag macht, und das fand ich höchst erstaunlich, ist er doch bereits zu Beginn des Buches 20 Jahre alt. Diese Altersangabe konnte ich lange nicht mit seinem Denken und Fühlen in Einklang bringen. Nicht nur aus diesem Grund blieb mir Daniel über viele Kapitel fremd – doch das änderte sich in Folge des zweiten lebensverändernden Ereignisses, das der Hauptfigur widerfährt. Daniels Mutter Lieselotte erkrankt schwer und ohne Hoffnung auf Genesung und plötzlich wurde das Gefühlschaos des Protagonisten absolut nachvollziehbar dargestellt. Hatte ich vorher das Gefühl, dass die Autorin keinen komplett stimmigen Ton traf, fuhren mir Trauer, Verzweiflung, Angst und Wut plötzlich in einer unterwarteten Intensität unter die Haut. Sprachlich steht der erste Teil dem zweiten in nichts nach, aber die Schönheit von Didi Drobnas Formulierungen konnte ich erst komplett würdigen, als ich mich nicht mehr unwillkürlich fragte, was mit dem Ich-Erzähler bloß nicht stimmt.

Was beide Teile eint, sind die kapitelweise eingefügten Anekdoten aus Daniels Kindheit, in denen er sich an Ereignisse erinnert, die ihn und die ganze Familie geprägt haben. Passend zum Buchcover ging mir der Refrain eines Popsongs der Künstlerin Pink durch den Kopf: „In our family portrait we look pretty happy, we look pretty normal, let’s go back to that.“ Daniel sehnt sich nach einer unwiderruflich vergangenen Zeit, nach der vermeintlich heilen Welt seiner Kindheit. Seine Erinnerungen waren von Beginn an packend geschildert und halfen mir anfangs über die unreife Jammergestalt hinweg, die er in der Romangegenwart abgab. Überhaupt hat Autorin Drobna ein Händchen für die Schilderung von kuriosen, tragikomischen Geschichten; so, wie sie auch Emotionen sehr greifbar in Worte fasst. Bei der Beschreibung dramatischster Krisen läuft sie zu Höchstform auf. „Als die Kirche den Fluss überquerte“ liest sich nicht einfach so weg, es hinterlässt Spuren. Am Ende war ich mit der Hauptfigur völlig versöhnt und kann mir überdies vorstellen, den Roman irgendwann noch ein zweites Mal zu lesen. Es ist ein weises Buch über Familie, Beziehungen und Gefühle und nicht nur Daniel wächst an seinen schmerzhaften Erfahrungen, sondern nimmt die Leser des Romans auch in dieser Beziehung mit.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 320
Erscheinungsdatum: 1. August 2018
ISBN: 978-3492059206
Preis: 20,00 € (E-Book: 18,99 €)

27. August 2018

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin

Gerade habe ich festgestellt, dass ich innerhalb der letzten zwölf Monate fünf dystopische Romane gelesen habe, wovon vier von deutschen Autorinnen geschrieben wurden. Erfreuen sich Dystopien momentan besonderer Beliebtheit in Deutschland? Entwickeln Frauen eher düstere Zukunftsvisionen als Männer? Oder kommt mir das alles nur so vor, weil ich sie mir unbewusst rauspicke? Auf diese Fragen habe ich bislang keine Antworten - fest steht nur, dass ich z.B. Juli Zehs "Leere Herzen" und Zoë Becks "Die Lieferantin" sehr gerne gelesen habe und sich Julia von Lucadou mit ihrem Debüt nicht dahinter verstecken muss - auch wenn es wieder ganz anders ist als die genannten Romane, aber gerade das macht ja den Reiz aus.


Wie könnte sich unsere Welt irgendwann einmal entwickeln? Autorin Julia von Lucadou gibt auf diese Frage eine ziemlich düstere Antwort. Dabei leben die, die es geschafft haben, in ihrer Dystopie „Die Hochhausspringerin“ in einer funkelnden Stadt voller strahlender Wolkenkratzer. Ihr Leben ist perfekt durchorganisiert und hocheffizient geregelt. Die Erfolgreichen gehen den Jobs nach, für die sie am besten geeignet sind, treffen die potentiellen Beziehungspartner, die ein Algorithmus für sie auswählt und betreiben zur Entspannung ein eigens auf den Einzelnen zugeschnittenes Fitness- und Meditationsprogramm. Das Leben in der Stadt könnte leicht sein – wenn man sich nach den Wünschen des Systems optimiert steuern lässt. Gerade das aber verweigert Riva, eine seit ihrer Kindheit höchst erfolgreiche Hochhausspringerin, von einem Tag auf den anderen. Sie will ihrem Hochleistungssport – Sprünge von Wolkenkratzern im Flysuit, Performances von akrobatischen Figuren im freien Fall und Wiederaufschwingen in der letzten Millisekunde vor dem Aufprall – nicht weiter nachgehen und lässt sich auch von dem drohenden Verlust ihrer Privilegien nicht umstimmen. Die Wirtschaftspsychologin Hitomi wird auf Riva angesetzt und versucht, unter anderem durch lückenlose Videoüberwachung – die in dieser schönen neuen Welt quasi zum Standard gehört – die Motive der Sportlerin zu ergründen. Sie gerät dabei mehr und mehr unter Druck, denn was Riva in ihrer Lethargie nicht zu schrecken scheint – eine Ausweisung aus der Stadt und ein Leben in den Peripherien mit all denjenigen, die es (noch) nicht geschafft haben – ist für Hitomi ein absoluter Alptraum, der jedoch wahr zu werden droht, wenn sie ihren Auftrag, Riva wieder auf Spur zu setzen, nicht erfüllt.

„Die Hochhausspringerin“ handelt von diesen beiden unterschiedlichen Frauen. Ihre geschilderte, in allen Bereichen durchoptimierte Realität ist quasi Beiwerk, sie wird nicht groß vorgestellt, sondern eröffnet sich dem Leser nur nach und nach durch Randbemerkungen. Gerade das fand ich extrem gelungen; zwar ist das System dadurch nicht komplett durchschaubar, aber als Leser erfährt man genug, um die Geschichte nachzuvollziehen – und sich bei dem Gedanken, dass es wirklich mal so kommen könnte, gehörig zu gruseln. Braucht Hitomi ein paar freundliche Worte, ruft sie einen „Mutterbot“ an – eine Hotline, bei der eine Computerstimme auf Wunsch die liebevollen Reaktionen einer besorgten Mutter imitiert. Trifft sie einen potentiellen Partner, folgt danach die gegenseitige Bewertung im Internet. Kommt sie übermüdet zur Arbeit, ist ihr Chef schon über die Dauer und Erholsamkeit ihres Schlafes informiert. Lucadou hat einen absoluten Überwachungsstaat entworfen – zum Wohle der Gesellschaft und zum Besten des jeweiligen optimierten Individuums. Oder?

Die Dystopie bringt zum Nachdenken: Bringt Perfektion Glück? Wie wichtig ist die Freiheit des Einzelnen? Was macht ein gelungenes Leben aus? Ich fand dieses Gedankenexperiment hochspannend und habe die Entwicklung der Protagonisten gebannt verfolgt. Es bleibt die Frage, wie gut man selbst darin wäre, sich an ein derartig lückenlos optimiertes Leben und ein rein leistungsorientiertes System anzupassen. Und die Erkenntnis, dass das gar nicht in allen Bereichen so weit weg ist, wie man hoffen würde.

Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 23. Juli 2018
ISBN: 978-3446260399
Preis: 19,00 € (E-Book: 14,99 €)

8. August 2018

Alexa Hennig von Lange: Kampfsterne

Mit ihrem Erstling „Relax“ hat Alexa Hennig von Lange die deutsche Popliteratur Ende der 1990er Jahre mitbegründet, und seitdem ist sie mir auch irgendwie ein Begriff, obwohl ich noch nie etwas von ihr gelesen hatte – es hat sich irgendwie nicht ergeben. Diesen Monat erscheint ihr neuester Roman, die Beschreibung klang vielversprechend und ich war sehr gespannt, als ich durch „Vorablesen“ die Möglichkeit bekam, ihn – wie der Name schon sagt – vor dem Erscheinungstermin zu lesen.


Die Verlagsankündigung von „Kampfsterne“ beginnt wie folgt: „1985 – Es ist ein verrückter, heißer Sommer, in dem Boris Becker Wimbledon gewinnt, vier Passagierflugzeuge innerhalb eines Monats abstürzen, alle großen Rockstars bei Life Aid für das hungernde Afrika singen und in einer Siedlung am Rand der Stadt drei Familien zu zerbrechen drohen.“
Das Buch machte mich neugierig, weil ich mehr über den verrückten, heißen Sommer 1985 erfahren wollte – ich dachte, es könnte spannend sein, mit Hilfe dieses Romans in diese Zeit einzutauchen. Boris Becker und Life Aid werden allerdings nur sehr am Rande erwähnt und über den Absturz der vier Passagierflugzeuge habe ich eigentlich gar nichts gelesen. Stattdessen kreist das Buch allein um die erwähnten drei Familien, die von außen betrachtet alles haben: ein Eigenheim im Grünen, gesunde Kinder und genügend Geld, um deren Musikstunden zu bezahlen. Glückliches Bildungsbürgertum, könnte man meinen. Aber niemand ist glücklich, das weiß der Leser aus erster Hand, lernt er doch fast alle Figuren dank der „stream of consciousness“-Technik teils besser kennen, als ihm lieb ist. Selbst Lexchen (kurz für „Alexa“, also eine Namensvetterin der Autorin), mit ihren acht Jahren das jüngste erwähnte Kind, das sich alle Mühe gibt, Glück zu verbreiten, stößt schließlich an ihre Grenzen.

Die Verkorkstheit der übrigen Kinder und Teenager ließe sich größtenteils auf normale Eifersüchteleien und die Pubertät schieben, wären da nicht ihre Eltern: Ignorant. Einsam. Verkrampft. Schwach. Überspannt. Betrogen. Missverstanden. Größenwahnsinnig. Emanzipiert. Opfer. Täter. Allesamt verlorene Seelen. Fliegende Kampfsterne, zumindest einige von ihnen. Dankenswerterweise lässt Alexa Hennig von Lange ihren Lesern trotzdem die Hoffnung, dass die heranwachsende Generation etwas glücklicher, ehrlicher und aufrechter durchs Leben gehen wird als ihre Eltern. Und vielleicht besteht sogar noch mehr Hoffnung: Am Ende des Buches gibt es gleich mehrere große Knalle, die die bestehende Siedlungsordnung in ihren Grundfesten erschüttern. Vielleicht entsteht daraus tatsächlich etwas Gutes, wer weiß das schon – vermutlich nur die Autorin, denn das Buch endet so abrupt, dass mein erster Impuls war, den Verlag anzuschreiben und nachzufragen, ob es sein kann, dass die E-Book-Version unvollständig ist.

Wie haben mir die „Kampfsterne“ nun gefallen? Zunächst fand ich die Charaktere skurril. Dann war ich etwas enttäuscht, als ich realisierte, dass der Roman ausschließlich vom Siedlungs-Leben handelt – das restliche 1985 geht relativ spurlos an der Erzählung vorbei. Die Enttäuschung wich irgendwann der Erleichterung: Eine ganz eigene und durchaus auch eigenartige Stimmung zieht sich durch den Roman, und wenn das die Stimmung dieser Zeit auch nur ansatzweise widerspiegelt, sollte ich vielleicht froh sein, dass ich damals noch zu jung war, um sie mitzubekommen.
Tja, und dann – packte mich das Buch irgendwann doch noch. Nachdem die Protagonisten mehr als den halben Roman lang durch ihre festgefahrenen Leben dümpeln, wird ihre Welt immens durcheinandergeschüttelt. Wie sich schließlich etwas in Gang setzte, erst zögerlich, dann aber immer unaufhaltbarer – das faszinierte mich dann, denn es war richtig gut geschrieben. Und plötzlich konnte ich sogar mitfühlen. Das kam spät und war für mich um so erstaunlicher, aber jetzt sitze ich hier und bedaure, dass ich schreibe, statt noch zu lesen, dass das Buch einfach schon zu Ende ist, nachdem mir das Wohlergehen seiner schrägen Charaktere endlich am Herzen liegt. So kann’s gehen.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 20. August 2018
ISBN: 978-3832197742
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

2. August 2018

Erin Kelly: Vier.Zwei.Eins.

Ab und an gibt es für mich nichts Schöneres als einen guten Thriller. Wie man den definiert, ist natürlich Geschmackssache. Ich bin kein Fan von grauenhaften Gemetzeln, sondern interessiere mich viel mehr für die psychologische Komponente. Eine überschaubare Anzahl von Protagonisten mit vielschichtigen Charakteren, unvorhersehbare und dennoch realistische Wendungen, ein langsamer, aber stetiger Spannungsaufbau - ein Thriller mit diesen Komponenten hat das Potential, mich zu begeistern. Und so hatte ich an das folgende Buch schon aufgrund seiner Leseprobe hohe Erwartungen, die nicht enttäuscht wurden. Wer - wie ich - z.B. "Gone Girl" mochte, wird auch hier auf seine Kosten kommen.


Der auf den ersten Blick seltsame Zahlentitel dieses Romans wird im Untertitel erklärt: „Vier Menschen. Zwei Wahrheiten. Eine Lüge.“ Und tatsächlich fängt mit der schicksalhaften Begegnung von vier jungen Menschen Anfang 20 alles an: Das Pärchen Laura und Kit ist zu einem Festival nach Cornwall gereist, um dort die totale Sonnenfinsternis am 11. August 1999 zu erleben. Sonnenfinsternisse zu jagen ist Kits Hobby, er und sein Zwillingsbruder sind bereits als Kinder mit ihrem Vater quer um den Globus gereist um die spektakulären Phänomene mitzuerleben. Laura hingegen erlebt ihre erste Sonnenfinsternis und fühlt sich in ihren Grundfesten berührt. Trotz widriger Wetterbedingungen hätte es also ein wunderschöner Tag sein sollen – doch auf dem Rückweg von ihrem Aussichtspunkt wird Laura Zeugin einer Vergewaltigung. Zumindest wirkt es wie eine Vergewaltigung, obwohl der mutmaßliche Täter sofort behauptet, dass alles einvernehmlich sei. Da die Frau, Beth, das jedoch nicht bestätigt und auch sonst wie erstarrt wirkt, rufen Laura und Kit die Polizei. Die vier sehen sich im Mai 2000 vor Gericht wieder, als Zeugen, Angeklagter und Klägerin. Und das hätte eigentlich ihr letztes Aufeinandertreffen sein können, doch so ist es nicht …

Im März 2015 ist Laura schon lange mit Kit verheiratet und außerdem hochschwanger mit Zwillingen. Die beiden leben so anonym wie nur möglich in London, haben sogar ihren Nachnamen geändert. Der Grund: Die panische Angst vor Beth, die 15 Jahre zuvor als Opfer vor Gericht stand. Was ist nur passiert?

Genau diese Frage wird nach und nach geklärt. Dabei wechselt Autorin Erin Kelly zwischen zwei Zeitebenen. Kapitel, die die Geschehnisse rund um die Sonnenfinsternis 1999 und die Gerichtsverhandlung im darauffolgenden Jahr schildern, wechseln sich ab mit solchen, die erzählen, wie Kit 2015 einer weiteren Sonnenfinsternis hinterherjagt, während Laura in Sorge um ihn in London sitzt. Außerdem wechseln auch immer wieder die Perspektiven: Mal schildert Laura die Erlebnisse, mal Kit. Manchmal sind kombinierte Zeit- und Erzählerwechsel ja verwirrend, aber Autorin Kelly verwebt alles so geschickt, dass die ständigen Brüche fast unmerklich geschehen und den Lesefluss überhaupt nicht stören, sondern bereichern: Es baut sich immer größere Spannung auf. „Vier.Zwei.Eins.“ wird nicht als Thriller, sondern als Roman bezeichnet, doch Nervenkitzel ist durch die erstaunliche Vielzahl von unvorhersehbaren und dennoch glaubhaften Wendungen garantiert. Meisterhaft beschreibt Kelly, wie eine Lüge in eine Abwärtsspirale voller weiterer Unwahrheiten führen kann und es letztlich keinen Ausweg aus der eigenen Schuld mehr gibt. Immer wieder wurden Situationen geschildert, bei denen ich mich unwillkürlich fragte, wie ich an Stelle der Figuren gehandelt hätte. „Vier.Zwei.Eins.“ handelt von Licht und Schatten, doch schwarzweiß ist die Geschichte bei Weitem nicht.

Gegliedert ist dieses feine Erzählkonstrukt wie die fünf Phasen einer totalen Sonnenfinsternis: Erster Kontakt, Zweiter Kontakt, Totalität, Dritter Kontakt und Vierter Kontakt. Das ist nicht nur wegen Sonnenfinsternisjäger Kit wunderbar passend, sondern auch, weil es ebenfalls um Kontakte zwischen Menschen geht bzw. die Angst davor. Nicht nur die Sonne, sondern auch die Gemüter einiger Protagonisten scheinen sich im Laufe des Romans zu verdunkeln. Doch werden sie sich im Zuge des vierten Kontakts – der Mond verdeckt die Sonne nicht mehr – auch wieder lichten? Ich kann nur empfehlen, das selbst herauszufinden.

Verlag: FISCHER Scherz
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum Printausgabe: 22. August 2018
Erscheinungsdatum E-Book: 23. Mai 2018
ISBN: 978-3651025714
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

26. Juli 2018

Christopher Wilson: Guten Morgen, Genosse Elefant

Nachdem insbesondere der letzte Roman, den ich gelesen hatte, schwere Kost war, hatte ich das Bedürfnis, mich als nächstes in etwas Leichteres zu vertiefen. Auf den zweiten Blick wäre das nachfolgende Buch vermutlich ungeeignet gewesen - handelt es doch bei genauerer Betrachtung vom blutigen Ende der stalinistischen Ära. Auf den ersten Blick erkennt man jedoch bereits am Cover, dass es (auch) in die Kategorie Humor fällt und die salopp-lustige Sprache verführte mich sofort zum Weiterlesen.


So nah wie in „Guten Morgen, Genosse Elefant“ kommt man Ich-Erzählern selten, dieser hier spricht einen sogar immer wieder an. Im Jahr der Romanhandlung, 1953, ist Juri Zipit zwölfeinhalb Jahre alt. Er ist ein äußerst ungewöhnlicher Zwölfjähriger, was nicht zuletzt daran liegt, dass er mit sechs Jahren von einem Milchwagen angefahren wurde und vor eine Straßenbahn fiel, die ihn dann noch überfuhr. Sein Gehirn hat dabei leichten Schaden genommen, unter anderem leidet der Protagonist an mit Furchtlosigkeit gepaarter Impulsivität und sagt eigentlich immer, was ihm gerade in den Sinn kommt – nicht die beste Überlebensstrategie im Russland der 1950er Jahre. Beim Unfall keinen Schaden genommen hat hingegen Juris Gesicht, dass anscheinend reine Herzenswärme ausstrahlt und andere Menschen dazu bringt, Juri ihre Geheimnisse anzuvertrauen – worauf dieser allerdings gut verzichten könnte.
Unser ungewöhnlicher Romanheld lebt im Moskauer Zoo, da sein Vater dort der Chefveterinär ist. Und als solcher wird der Tierarzt eines nachts zu Genossen Elefant gerufen – womit allerdings kein Dickhäuter im Zoo gemeint ist. Sein neuer Patient, den einer seiner Minister als elefantenähnlich, nämlich „überaus mächtig, sehr weise und auch sehr freundlich, falls er nicht gerade sehr wütend wird“ beschreibt, entpuppt sich als Stalin höchstpersönlich. Der Diktator hat gerade einen leichten Schlaganfall hinter sich, will davon aber nichts hören. Juris Vater fällt durch seine Diagnose sogleich in Ungnade – aber Juri, mit seinem Engelsgesicht, wird als neuester Vorkoster des „Gärtners des menschlichen Glücks“ auserwählt. Der sogenannte Stählerne leidet nämlich unter der Angst, vergiftet zu werden – und diese ist nicht unberechtigt, hoffen doch eine Menge Menschen auf das Ableben des „Architekten der Freude“ …

Was ist „Guten Morgen, Genosse Elefant“ nun für ein Buch? Komödie, Satire? Ein historischer Roman? Ein Schlüsselroman? Von allem etwas, würde ich sagen. Juri versichert seinen Lesern: „Das was ich erzähle, ist alles wahr. Absolut, komplett, total wahr. Fast. Bis auf die paar Kleinigkeiten, die ich ändere. Ändern muss. Aber nur, was Zeiten angeht. Orte, Namen und Ereignisse.“
Unser Erzähler nimmt sich also die größte schriftstellerische Freiheit überhaupt heraus – und doch reicht es, sich auf Wikipedia das Kapitel zu Stalins letzten Wochen durchzulesen um große Parallelen zu erkennen, Namen zu entschlüsseln etc.

Worin Autor Christopher Wilson allerdings das größte Geschick beweist, ist die Darstellung des Schrecklichen durch die Augen eines Kindes, dem Angst und Verzweiflung krankheitsbedingt fremd sind. Er lässt seinen Juri dessen Beobachtungen auf solch eine kurios-komische Art und Weise schildern, dass sich selbst das Furchtbarste erträglich lesen lässt. Und trotzdem bleibt klar, dass es das Furchtbarste ist, dass Juri in seiner Sonderstellung nur der Hofnarr ist, der das für jeden anderen Unerträgliche erträglich darstellt. Und so liest sich der Roman locker-flockig, ohne eine seichte Lektüre zu sein. Je mehr man über die stalinistische Ära weiß, desto mehr kann man dabei vermutlich rauslesen. „Guten Morgen, Genosse Elefant“ hat eine größere Tiefe, als der erste Blick enthüllt. Der enthaltene Humor ist quasi der Zucker im Kuchen, er macht die Bitternis des Ganzen durchgängig bittersüß.

Gerne hätte ich noch herausgefunden, wie Christopher Wilson auf die Idee kam, dieses Buch zu schreiben. Er scheint Engländer zu sein, hat die Psychologie des Humors ergründet und kreatives Schreiben unterrichtet. Vielleicht wollte er mit seinem Roman demonstrieren, wie Humor alles erträglicher gestalten kann. In jedem Fall hat er mit Juri einen Helden geschaffen, den seine Leser sofort ins Herz schließen und so schnell nicht wieder vergessen werden.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 16. August 2018
ISBN: 978-3462050769
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

20. Juli 2018

Lize Spit: Und es schmilzt

Dieser erste und bisher einzige Roman der flämischen Autorin Lize Spit (Jahrgang 1988) war 2016 ein Bestseller in Belgien und den Niederlanden, es wurden 160.000 Exemplare verkauft. Kein Wunder, dass der S. Fischer Verlag ihn als Spitzentitel in sein Herbstprogramm 2017 aufgenommen hatte. Zur Ankündigung verwendete er folgenden vielversprechenden Slogan: „Ein Buch, das alles gibt und alles verlangt“. Der generelle Hype sowie diese Ankündigung machten mich neugierig – was würde das Buch mir geben, was von mir verlangen? Mit relativ hohen Erwartungen begann ich die Lektüre dieses optisch sehr schönen Romans mit grünem Schnitt.


Obwohl von Anfang an klar ist, dass die Handlung von „Und es schmilzt“ in Belgien angesiedelt ist, musste ich mir das immer wieder in Erinnerung rufen – ich hatte nämlich fortlaufend das Gefühl, einen skandinavischen Roman zu lesen, der irgendwo spielt, wo das Land spärlich besiedelt ist, die Tage kurz und die Menschen schweigsam und in sich gekehrt sind. Die Atmosphäre ist von Anfang an von einer kaum wahrnehmbaren Düsternis geprägt, obwohl noch gar nichts Düsteres passiert ist. Die Autorin Lize Spit kann ohne Frage schreiben, sie weiß, wie man eine Dramaturgie aufbaut und legt die Psyche ihrer Hauptfigur nach und nach auf herzzerreißende Weise offen. Generell hat mich die Darstellung ihrer weiblichen Protagonisten dabei stärker überzeugt als die der männlichen, die mir insbesondere gegen Ende des Romans unglaubwürdig gefühlskalt und passiv vorkamen.

Was hat das Buch nun von mir verlangt? Auf den ersten 100 Seiten: vor allem einen langen Atem. Als Leser erlebt man „Und es schmilzt“ aus Sicht von Protagonistin Eva. Es geht um den Sommer 2002, in dem sie 13 oder 14 ist – und um die Jetzt-Zeit, während der sie ungefähr doppelt so alt sein dürfte. Die erwachsene Eva reist das erste Mal seit vielen Jahren in ihr Heimatdorf Bovenmeer. Sie ist dort zu einer Feier eingeladen und fährt nach längerem inneren Ringen hin, einen großen Eisklotz in ihrem Gepäck.

Der Romansommer 2002 beginnt träge, wie auch der Tag der großen Feier, wie auch die Kapitel zu beiden Handlungssträngen. Doch irgendwann scheinen die kleinen, zunächst bedeutungslos wirkenden Ereignisse eine gefährliche Abwärtsspirale zu entwickeln, aus der der Ausstieg zwar möglich erscheint – aber findet er auch wirklich statt? Die Handlung schreitet schneller voran, die Anzahl verstörender Details nimmt zu, alles in allem ist das Gelesene immer schwerer zu ertragen, ab irgendeinem Punkt musste ich mich regelrecht zwingen, um weiterzulesen. Eva erfährt in diesem Sommer mehrere Formen von unglaublichen Verletzungen und unglaublichem Verrat. Eigentlich ein empathisches Mädchen mit einem funktionierenden inneren moralischen Kompass, hat sie eine große Schwäche: ihre emotionale Bedürftigkeit. Eva will gesehen, geliebt und gebraucht werden und hat von ihrer Familie dahingehend wenig zu erwarten: Das Interesse ihrer Eltern gilt in erster Linie dem Alkohol, ihren Kindern stehen sie dagegen mit einer Mischung aus Überforderung, Gleichgültigkeit und gelegentlicher Grausamkeit gegenüber. Der große Bruder flüchtet sich in sein naturwissenschaftliches Interesse, die kleine Schwester in Zwangsneurosen. Evas Überlebensstrategie sind ihre Freundschaften. Aber kann sie so den toxischen Sommer 2002 überstehen?

Ausführlicher kann ich auf den Inhalt dieses Romans kaum eingehen, ohne zu viel zu verraten. Abverlangt hat er mir beim Lesen tatsächlich außer einem langen Atem noch einiges mehr, „ein Buch, das alles verlangt“ kann man von mir aus so stehen lassen. Aber hat mir „Und es schmilzt“ auch etwas gegeben – außer einem Kopfkino, das ich hoffentlich eines Tages wieder vergessen werde? Ich weiß es nicht. Sicher bin ich mir dagegen, dass ich diesen Roman weder verschenken noch empfehlen werde. Trotzdem bleibt für mich die Frage nach dem Warum. Soll „Und es schmilzt“ mit seinen schonungslosen Schilderungen schocken? Die Abgründe der menschlichen Natur aufzeigen? Warnen, genauer hinzusehen? All das tut der Roman. Ist das ein Gewinn, eine Bereicherung für seine Leser? Ich bin mir da nicht so sicher.

Verlag: S. Fischer Verlag
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 24. August 2017
ISBN: 978-3103972825
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €).
Der Roman erscheint am 24. Oktober 2018 im Taschenbuch für 12,00 €.

10. Juli 2018

Meg Wolitzer: Das weibliche Prinzip

Von Meg Wolitzer hatte ich noch nie gehört, dabei hat sie schon etliche Romane geschrieben, von denen zwei auch verfilmt wurden. Mehrere ihrer Bücher standen auf der New-York-Times-Bestsellerliste und auch einen deutschen SPIEGEL-Bestseller kann sie bereits vorweisen. Ihre Themen scheinen immer zwischenmenschliche Beziehungen sowie deren Abgründe zu sein - worüber ich im Allgemeinen durchaus gerne lesen.


Mit diesem Roman hatte ich anfangs dennoch ein bisschen zu kämpfen. Alles an ihm schien sperrig: Der Beginn, die Charaktere, die Handlung. Autorin Meg Wolitzers Art, Dinge zu beschreiben, fand ich jedoch von Anfang an ansprechend – in „Das weibliche Prinzip“ gibt es weise Sätze wie „Beziehungen waren ein Luxus, den sich nur Menschen leisten konnten, die nicht in einer Krise steckten“. Oder: „Ich denke manchmal, dass Introvertierte, die sich beigebracht haben, extrovertiert zu sein, die effektivsten Menschen der Welt sind.“ Ich habe mir einige interessante Gedanken markiert, doch manchmal wirkte der Stil der Autorin auch etwas überladen auf mich.

Und dann sprang der Funke doch noch über. Rückblickend denke ich, dass das geschah, nachdem der größte Coming-of-Age-Teil überstanden war. Natürlich verhalten sich die Hauptfigur und ihre Freunde mit Anfang/Mitte 20 noch nicht ganz erwachsen, aber die Irrungen und Wirrungen, die Schulabschluss und Universitätsbeginn mit sich bringen, waren irgendwann überstanden – für sie und für mich.
„Das weibliche Prinzip“ handelt von der ehrgeizigen Greer Kadetsky, die zu Beginn des Buches ihr Studium am Ryland College beginnt, nachdem ihre Eltern ihre Anmeldung in Yale vermasselt haben. Während ihre Jugendliebe Cory nach Princeton geht und ihm die Welt von nun an zu Füßen zu liegen scheint, fühlt sich Greers neues Leben im Vergleich zunächst minderwertig an – zumindest für sie selbst. Doch sie findet bald Freunde am Ryland College und obwohl die Dichte an interessanten Abendveranstaltungen natürlich nicht mit der in Princeton mithalten kann, hört Greer an ihrer Hochschule einen Vortrag, der ihr Leben verändern wird: Den der Feministin Faith Frank. Diese Figur, die zu Beginn des Romans Mitte 60 ist, habe ich mir als eine Art Alice Schwarzer vorgestellt: bekannte Feministin und Bestsellerautorin mit eigener Zeitschrift, die ihre erfolgreichste Zeit bereits hinter sich hat. Im Roman ist Faith Frank immer noch eine Galionsfigur der Frauenbewegung, der man gerne zuhört, doch die Auflagenzahlen ihres Magazins „Bloomer“ sinken und andere Feministinnen mit radikaleren Ansichten erhalten inzwischen mehr Aufmerksamkeit als sie. Dennoch ist Faith Franks Vortrag für Greer eine Art Erweckungserlebnis, der ihr Leben nachhaltig prägt – nicht zuletzt, weil sie danach noch ein kurzes Gespräch mit der Rednerin führen kann und sich nach dem Studium bei „Bloomer“ bewirbt.

Greer wird nach und nach eine begeisterte Feministin und bleibt dabei eine glühende Bewunderin Faith Franks. Doch nach ihrem Abschluss am Ryland College, wenn der Leser sie durch die ersten Jahre ihres Arbeitslebens begleitet, muss die Hauptfigur entdecken, dass man zwar für das Wohl der Frauen im Allgemeinen kämpfen kann, das jedoch nicht bedeutet, dass man sich den eigenen Freundinnen immer loyal und fair gegenüber verhält. Was macht erfolgreicher – Kompromisslosigkeit oder Abwägen? Greer lernt, kämpft und muss sich schließlich selbst behaupten – und das regt zum Nachdenken an. Wichtige Nebenrollen spielen neben Faith Frank Greers Freundin Zee und Cory, der mit Princeton das große Los gezogen zu haben schien. Aber: „Er würde immer ein Mensch sein, der nicht weglief, sondern half“ – wieder so ein starker Wolitzer-Satz von der Art, wie sie in diesem Roman massenhaft zu finden sind. Schon für diese Art von Beschreibungen lohnt es sich, „Das weibliche Prinzip“ zu lesen.
Die Selbstfindung der Protagonisten mitzuerleben sowie kapitelweise auch mal hinter die Fassade von Faith Frank und anderen Figuren blicken zu können, riss mich nach dem ersten Buchdrittel doch mit. Die Charaktere in diesem komplexen Romankonstrukt sind außergewöhnlich vielschichtig. Autorin Meg Wolitzer macht es ihren Lesern nicht immer leicht, doch die Lektüre lohnt sich. „Das weibliche Prinzip“ bietet jede Menge gedankliche Anregungen, nicht nur über Bedeutung und Entwicklung des Feminismus in der heutigen Zeit, sondern auch darüber, was wirklich wichtig im Leben ist.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 496
Erscheinungsdatum: 16. Juli 2018
ISBN: 978-3832198985
Preis: 24,00 € (E-Book: 18,99 €)

28. Juni 2018

Kristine Bilkau: Eine Liebe, in Gedanken

Vor einigen Tagen las ich auf der Seite boersenblatt.net eine Kolumne zum Thema Buchcover, die mich so amüsiert hat, dass ich sie hier verlinken möchte. Die Journalistin Constanze Kleis beschreibt darin das Buchcover-Phänomen "Frauen, die aufs Wasser starren". "Frauen, die aufs Wasser starren" sind scheinbar gerade auf Buchtiteln en vogue, weswegen eine gewisse Häufung festzustellen ist. Da ich mich momentan frustrierend wenig in deutschen Buchhandlungen aufhalte, war mir diese Mode noch nicht bewusst aufgefallen - mit der Nase darauf gestoßen stellte ich aber fest, dass selbst ich innerhalb der letzten zwei Monate zwei Bücher gelesen habe, auf deren Covern Frauen aufs Wasser starren.


Über Verena Carls "Die Lichter unter uns" hatte ich bereits geschrieben. Letzte Woche habe ich nun Kristine Bilkaus "Eine Liebe, in Gedanken" gelesen. Die Bücher haben einen gewissen melancholischen Grundton gemeinsam, den das Covermotiv bereits widerspiegelt. Das ist aber auch schon ihre einzige Ähnlichkeit miteinander.

In "Eine Liebe, in Gedanken" räumt eine Tochter nach dem Tod ihrer verstorbenen Mutter deren Wohnung aus. Die namenlose Erzählerin findet alte Briefe und Fotos und verliert sich in Gedanken an das Leben der ruhelosen Antonia. Diese hatte mit Anfang 20 – lange vor der Geburt der Tochter – ihre große Liebe in Edgar gefunden. Die Erzählerin trägt zusammen, was sie über die Liebesgeschichte von Antonia und Edgar weiß. Und so erstehen die 1960er Jahre in „Eine Liebe, in Gedanken“ noch einmal auf. Antonia wächst einem dabei schnell ans Herz, diese beherzte, freiheitsliebende junge Frau, die gleichzeitig bereit ist, sich voll und ganz den Bedürfnissen ihres Edgars unterzuordnen. Gerade weil sie sich für eine traditionelle Versorgungsehe zu modern fühlt, stellt sie keine Forderungen an ihren Liebsten. Doch was will, was plant der grüblerische, vorsichtige Edgar eigentlich?

„Eine Liebe, in Gedanken“ war für mich anders als erwartet. Die Mutter-Tochter-Beziehung zwischen Antonia und der Erzählerin wird eher indirekt beleuchtet, im Zentrum steht Antonias Liebe zu Edgar. Nacherzählt wird die Liebesgeschichte zwar von der Tochter, die hier jedoch fast als allwissende Erzählerin auftritt, bis sie gegen Ende des Buches wieder aus dem Schatten der Geschichte ihrer Mutter heraustritt. Und eigene Erfahrungen macht, die wie ein Nachhall erscheinen. So ermöglicht sie sich selbst wie dem Leser ein größeres Verständnis für Antonias Geschichte, ein größeres Verständnis vielleicht auch für Antonia. Es scheint fast, als würde die Erzählerin sich nach dem Tod der Mutter mehr auf deren Wünsche und Sehnsüchte einlassen können als zu ihren Lebzeiten. Dieser melancholische Roman nimmt damit ein versöhnliches Ende.

Hervorzuheben ist Bilkaus behutsame Sprache, mit der sie vorsichtig-zurückhaltend Gedanken, Gefühle und Erinnerungen schildert. Dabei sitzt jedes Wort. Der Roman kommt ohne Längen aus, erzählt, was nötig ist, mehr aber auch nicht. Ich habe den knappen Stil der Autorin als besonders berührend empfunden, er lässt genug Spielraum, um ihren präzisen Formulierungen nachzuschmecken. Die geschilderte Zeit war mir fremd, wurde mir aber nach und nach sehr nahegebracht. Am Ende dieser leisen Geschichte konnte ich wie die Erzählerin meinen Frieden mit ihr machen. Ein intensives Leseerlebnis und ein Roman, der seine Leser auch fordert: „Eine Liebe, in Gedanken“ ist zwar kein dickes Buch, aber trotzdem auch keins, das sich einfach so wegliest. Man braucht etwas Zeit sowie die Bereitschaft, sich stimmungsmäßig voll und ganz darauf einzulassen. Und muss am Ende aushalten, dass sich nicht alles zufriedenstellend aufklären lässt – wie im richtigen Leben. Vermutlich bleibt „Eine Liebe, in Gedanken“ gerade deswegen im Gedächtnis.

Verlag: Luchterhand Literaturverlag
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 12. März 2018
ISBN: 978-3630875187
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

12. Juni 2018

Hala Alyan: Häuser aus Sand

Hier ein weiteres Buch aus der Serie "Cover, deren Schönheit beim E-Book so gar nicht rauskommt". Trotzdem sei lobend erwähnt, dass gerade der DuMont Verlag oft wunderschöne Cover für seine Romane gestalten lässt. Ich hatte letzte Woche die Printausgabe von "Was man von hier aus sehen kann" in den Händen und fand auch diese optisch sehr gelungen. Ansonsten haben die beiden Bücher aber nichts gemein, außer dass ich sie beide sehr gerne gelesen habe.


In „Häuser aus Sand“ begleitet der Leser Palästinenserin Alia durch fünf Jahrzehnte: 1963 steht sie kurz vor ihrer Hochzeit mit ihrer Jugendliebe Atef, 2014 ist sie eine alte Frau, die ein ruheloses Leben hinter sich hat. Alia hat ihre frühe Kindheit in Jaffa verbracht, in Nablus die Zeit bis zu ihrem ersten Ehejahr, ihre Kinder sind in Kuweit zur Welt gekommen und als diese aus dem Haus waren, ist sie nach Amman gezogen. Alle Umzüge eint, dass diese nicht freiwillig geschahen, sondern aus Flucht oder Vertreibung resultierten. Und so scheint Alia immer nur in vergänglichen „Häusern aus Sand“ gewohnt zu haben – eine Beduinin wider Willen. Auch wenn sie sich nirgends mehr so heimisch fühlte wie in Nablus, ist ihr Leben erfüllt. Der Leser erlebt es auszugsweise mit – mal aus Alias Sicht, mal aus der verschiedener Familienmitglieder. Mit jedem neuen Kapitel wechselt die Perspektive, gleichzeitig gibt es einen Zeitsprung, mal um ein Jahr, mal um zehn. So entfaltet sich nach und nach eine komplexe Familiengeschichte, in der geliebt, gestritten und getrauert wird. Kinder werden erwachsen, Menschen kommen sich näher und entfernen sich voneinander, hadern oder schließen Frieden mit sich selbst. Autorin Alyan hat ein kunstvolles Gefüge geschaffen und macht das Leben der Familie Yacoub quasi im Zeitraffer erfahrbar. Vor meinem inneren Auge entstanden dabei Bilder von Orten, die ich bislang höchstens aus den Nachrichten kannte. Nun rieche ich beim Gedanken an Jaffa schon fast den Duft sonnengereifter Orangen und kann mir die sengende Hitze in Kuweit so ansatzweise vorstellen wie das quirlige Großstadtleben in Beirut.

Auch wenn Alia und ihre Familie immer wieder umziehen müssen, handelt „Häuser aus Sand“ längst nicht nur von räumlichen Veränderungen. Es geht auch um Generationskonflikte, den Bruch mit Traditionen und die Rückbesinnung auf Werte. Schon Alias Kinder entwickeln sich so unterschiedlich, dass sie selbst nur staunen kann. Der Verlust von Traditionen, Ritualen und auch Bindungen scheint durch die häufigen Ortswechsel begünstigt. Doch auch wenn die einzelnen Familienmitglieder zum Teil über tausende Kilometer verstreut voneinander leben, wenn sie im Alltag kaum mehr arabisch sprechen und ihr gegenwärtiges Leben keinerlei Rückschlüsse auf ihre eigentlichen Wurzeln mehr zulässt, muss das laut Alyan nicht den kompletten Heimatverlust bedeuten. Denn Heimat ist nicht zwangsweise an einen Ort gebunden, auch Familie kann Heimat sein, so unähnlich sich ihre Mitglieder auch sein mögen. So der Tenor von „Häuser aus Sand“ - und das ist nur einer der tröstlichen Gedanken, die ich aus diesem sprachlich schönen und inhaltlich nachdenklich machenden Roman mitgenommen habe.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 396
Erscheinungsdatum: 18. Juni 2018
ISBN: 978-3832198558
Preis: 24,00 € (E-Book: 19,99 €)

6. Juni 2018

Marie Reiners: Frauen, die Bärbel heißen

In meiner letzten Rezension habe ich das Cover des besprochenen Buches sehr hervorgehoben. Dieses dagegen wäre mir in einer Buchhandlung eventuell nicht weiter aufgefallen bzw. hätte mich nicht unbedingt nach dem Roman greifen lassen - zwei sich unterhaltende Raben vor dem Fernseher? Nachdem ich inzwischen so manches über Hauptfigur Bärbel erfahren habe, empfinde ich es allerdings durchaus als passend. Und glaube nicht, dass sich die Raben wirklich noch unterhalten können ...


„Frauen, die Bärbel heißen“ – mit denen hat Drehbuchautorin Marie Reiners schon Erfahrung, ist sie doch Schöpferin der großartigen Krimiserie „Mord mit Aussicht“, in der es ebenfalls eine Bärbel gibt. Diese hat allerdings wenig Ähnlichkeiten mit der Hauptfigur in Reiners erstem Roman: Die 54-jährige Bärbel Böttcher ist eine arbeitslose Tierpräparatorin, die mit ihrer Hündin Frieda sehr zurückgezogen lebt und damit durchaus zufrieden ist. Als sie beim Gassigehen eine Leiche findet, wird ihr Leben jedoch gehörig durcheinandergewirbelt – die Polizei befragt sie, ein Reporter lauert ihr auf und schließlich steht auch noch die Ehefrau des Opfers vor ihrer Tür und greift zu ziemlich rabiaten Methoden, als Bärbel sie abzuwimmeln versucht. Dabei möchte Bärbel doch einfach nur Tartar essen und Shoppingsendungen gucken. Doch wie heißt es schon bei Schiller: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt. Wobei Bärbels Nachbar nicht das Problem ist – auch wenn er sie im weiteren Verlauf des Buches als „sonderbar“, „psychisch gestört“ und „unheimlich“ beschreibt. Und Eigenbrötlerin Bärbel ganz und gar nicht zu den Frömmsten gezählt werden kann, aber immerhin nach dem Motto „leben und leben lassen“ zu handeln versucht – vor allem aus Eigeninteresse, sie will schließlich einfach nur ihre Ruhe.

Als Dermoplastikern hat Hauptfigur Bärbel – wie auch ihre Hündin Frieda – keine Scheu vor Körperflüssigkeiten jeglicher Art und ist auch wenig zimperlich. Die Ich-Erzählerin hat mich immer wieder überrascht – positiv, den kompletten Roman hindurch jagt ein unvorhersehbares Ereignis das nächste, und zwar auf herrlich schräge Art und Weise. „Frauen, die Bärbel heißen“ ist ein bisschen Krimi, ein bisschen Charakterstudie und vor allem skurril. Trotzdem ist es Reiners gelungen, ihre Romanhandlung irgendwie gar nicht so abwegig erscheinen zu lassen. Ein paar schöne Seitenhiebe gegen das öffentlich-rechtliche Fernsehen, mit dem die Autorin langjährige Erfahrungen hat, gibt’s obendrauf. Ich habe mich bei der Lektüre fortlaufend amüsiert und Bärbel am Ende nur ungern ziehen lassen. Allerdings hoffe ich auf eine Fortsetzung, denn die Geschichte scheint mir noch lange nicht auserzählt – eigentlich fängt sie gerade erst so richtig an. „Frauen, die Bärbel heißen“ sind offensichtlich immer für Überraschungen gut!

Verlag: FISCHER Scherz
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 8. März 2018
ISBN: 978-3651025233
Preis: 16,99 € (E-Book: 14,99 €)

28. Mai 2018

Natalie Buchholz: Der rote Swimmingpool

Cover wirken auf einem E-Book-Reader naturgemäß etwas trist, werden sie doch nur in Graustufen angezeigt. Meist ist mir das egal, aber manche Bücher sehen so farbenfroh aus, dass ich das Originalcover doch noch einmal daneben stellen muss. Hier spiegelt schon die satte rote Farbe das dekadente Sommergefühl des Romans wieder. Man sieht außerdem, dass hier etwas in Bewegung geraten ist - und fängt man dann an zu lesen, stellt man fest, dass das nicht nur auf das Wasser des abgebildeten roten Swimmpingpools zutrifft.


„Der rote Swimmingpool“ ist ein sommerlich leichter Coming-of-Age-Roman, in dem der Leser Hauptfigur Adam durch Höhen und Tiefen begleitet. Dabei gibt es zwei parallele Handlungsstränge; Vergangenheit – hauptsächlich die Monate vor Adams 18. Geburtstag – und Gegenwart – irgendwann im Laufe seines 19. Lebensjahres – wechseln sich kapitelweise ab. Adams Erwachsenwerden und Selbstfindung sind ein holpriger Prozess, nachhaltig gestört von der für ihn aus heiterem Himmel kommenden Trennung seiner Eltern, die doch immer ein Vorzeigepaar gewesen waren: Seine Mutter eine extravagante Französin, sein Vater ein erfolgreicher Unternehmensberater, der seiner Frau einen rotgekachelten Swimmingpool in den Garten bauen ließ, nachdem sie die französische Küste so vermisste. Doch plötzlich ist alles vorbei, Adam versteht die Welt nicht mehr und niemand will sie ihm erklären.
Während das Unheil in der Vergangenheit seinen Lauf nimmt, gibt es für Adam in der Romangegenwart Hoffnung: Er lernt Tina kennen und scheint sich zum ersten Mal zu verlieben. Dumm nur, dass sein bester Freund Tom ebenfalls ein Auge auf sie geworfen hat …

Autorin Natalie Buchholz hat die Geschichte geschickt konstruiert. Die beiden Handlungsstränge gleichen sich zeitlich immer mehr an, bis der Leser schließlich erfährt, welche Ereignisse der Vergangenheit zur Gegenwart geführt haben. Das ist gut gemacht und steigert die Spannung in diesem Roman, in dem ab und an auch die Zeit stillzustehen scheint: Wenn die Mutter ihre Bahnen durch den Pool zieht oder Adam mit seinen Freunden am See abhängt, kann man die Atmosphäre eines wolkenlosen, trägen Sommertages, an dem niemand etwas von einem will, quasi mit Händen greifen. Adam wächst dem Leser ans Herz, seine inneren Kämpfe sind nachvollziehbar, man leidet fast mit. Etwas blass bleiben dagegen seine Eltern, die für Adams Verwirrung und Orientierungslosigkeit verantwortlich sind. Aber auch das ist gut dargestellt: Anfangs noch die Helden seiner Kindheit, gelangt Adam schließlich zur Erkenntnis, dass seine Eltern auch nur Menschen sind – und dabei vielleicht sogar besonders fehlbare Exemplare.

Ich habe „Der rote Swimmingpool“ gerne gelesen. Dabei brauchte ich ein paar Kapitel, um wirklich in die Geschichte mit ihren beiden Zeitsträngen hineinzufinden, aber danach konnte ich das Buch kaum mehr aus der Hand legen. Eine leichte, aber doch anrührende und nachdenklich machende Lektüre – ob nun an einem heißen Sommertag an einem roten Swimmingpool gelesen oder nicht.

Verlag: Hanser Berlin
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 14. Mai 2018
ISBN: 978-3446259096
Preis: 19,00 € (E-Book: 14,99 €)