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19. Januar 2021

Rachel Joyce: Miss Bensons Reise

Originell, warmherzig und spannend.

Vor Kurzem sah ich einen Cartoon, der den Januar als den Montag unter den Monaten bezeichnete. Sehr nachvollziehbar: Die Weihnachtsfreuden sind vorbei, der Baum wird abgeschmückt, es ist kalt und grau und als würde all das nicht reichen, haben wir in diesem Jahr auch noch Pandemie, hohe Inzidenzwerte und Lockdown. Meine Empfehlung: Realitätsflucht! Mit diesem zauberhaften Roman von Rachel Joyce ist sie mir bestens gelungen.


„Miss Bensons Reise“ nimmt 1950 im grauen Nachkriegs-London ihren Anfang. Und irgendwie grau wirkt auch Margery Benson: Sie ist eine 46-jährige, alleinstehende Hauswirtschaftslehrerin, die ein ziemlich freudloses Leben führt. Doch wie aus heiterem Himmel holt sie eine alte Leidenschaft wieder ein; ein früheres Hobby, vermutlich ihr einziges: Margery interessiert sich für Käfer. Und träumt seit ihrem elften Lebensjahr davon, eine goldene, nur auf Neukaledonien lebende Spezies für die Sammlung des Natural History Museum in London zu fangen. Es gibt allerdings mehrere Hürden zu überwinden: Auf Neukaledonien wird Französisch gesprochen, es liegt über 16.000 km von London entfernt (Luftlinie) und besagter goldener Käfer wurde bislang noch gar nicht entdeckt.
Trotz dieser Hindernisse und wider alle Vernunft beschließt Margery, das Abenteuer zu wagen – aber nicht alleine. Sie sucht nach einer Assistentin und muss zu ihrem Leidwesen kurzfristig auf Enid Pretty zurückgreifen, deren angeblich fließendes Französisch sich bei genauerer Betrachtung auf „Bong Schuaa“ beschränkt. Lebenskünstlerin Enid hat keinerlei Interesse an Käfern, ist mindestens 20 Jahre jünger als Margery, redet wie ein Wasserfall und besitzt einen roten Handkoffer, den sie wie ihren Augapfel hütet. Kurz: Die beiden Frauen sind alles andere als ein Match.

Vielleicht gerade deswegen ist dieser Roman über eine unerwartete Freundschaft einer der schönsten und ungewöhnlichsten, die ich in den letzten Monaten gelesen haben. Autorin Rachel Joyce hat zwei grundverschiedene, spleenige Protagonistinnen geschaffen, die einem schnell ans Herz wachsen und sich zu ihrer eigenen Überraschung doch ganz gut ergänzen. Ihr Abenteuer entwickelt sich natürlich längst nicht so wohlgeordnet, wie Margery es geplant hat – Enid Pretty bedeutet Chaos. Nicht nur wegen ihr ist „Miss Bensons Reise“ voller unerwarteter Wendungen, Komik, Dramatik und Spannung. Joyce ist außerdem ein wunderbar warmherziger Roman gelungen, der ohne jeden Kitsch auskommt. Dass es trotzdem keine reine Feelgood-Geschichte ist, macht ihn noch besser. Mit Marge und Enid nach Neukaledonien zu reisen, kann ich nur empfehlen!

Verlag: Krüger
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 30. Dezember 2020
ISBN: 978-3810522337
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

17. Oktober 2020

Amity Gaige: Unter uns das Meer

Psychogramm einer Ehe.

„Niemand hätte jemals den Ozean überquert, wenn er die Möglichkeit gehabt hätte, bei Sturm das Schiff zu verlassen.“ – dieses Zitat des Erfinders Charles F. Kettering würde die Hauptfigur dieses Buches sicher unterschreiben. Juliet und ihre Familie segeln im eigenen Boot auf dem Karibischen Meer und haben dabei nicht nur mit Unwettern zu kämpfen.

Davon berichtet „Unter uns das Meer“, der neue Roman der amerikanischen Autorin Amity Gaige. Er ist größtenteils aus zwei Perspektiven erzählt, die durch ein unterschiedliches Schriftbild geschickt voneinander abgegrenzt sind. Die beiden Protagonisten sind ein Ehepaar, das seinen mehrmonatigen Segeltörn mit zwei kleinen Kindern schildert. Der Mann, Michael, ist die treibende Kraft dahinter, seine Frau Juliet hat irgendwann nachgegeben und so steuern sie ihre Familie schließlich in einem Boot über das Karibische Meer. Doch vor Problemen lässt sich nicht davonsegeln, und Probleme haben Michael und Juliet jede Menge – miteinander, mit anderen und mit sich selbst; beide schleppen unverarbeiteten, zum Teil nie ausgesprochenen Ballast mit sich herum. Immer wieder wird außerdem deutlich, dass es Juliet in der Romangegenwart absolut nicht gut geht. Sie sitzt in einem Schrank, während sie ihren Part der Geschichte erzählt. In Michaels Schrank. Michael dagegen schildert seine Gedanken im Logbuch des Schiffes. Die Diskrepanz zwischen den beiden Perspektiven erzeugt eine unterschwellige Spannung, die Sogwirkung entwickelt. Wie das Segelboot der beiden steuert die Geschichte auf etwas zu, aber Autorin Amity Gaige lässt die Lesenden lange im Unklaren darüber, wohin die Reise geht.

Und so navigiert sie mit sicherer Hand zwischen Drama, Abenteuerroman, Familiengeschichte und Psychogramm einer Ehe hin und her. Es geht um den Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung, aber auch um den Umgang mit Ängsten und Traumata. Verschiedenste zwischenmenschliche Untiefen werden nach und nach gnadenlos ausgeleuchtet. Und immer wieder fordert das Meer volle Aufmerksamkeit und nimmt dabei keinerlei Rücksicht auf die Befindlichkeiten der Protagonisten. Ein ungewöhnlicher Roman, bei dem mir sehr lange nicht klar war, worauf er hinausläuft, der mich aber trotzdem (oder gerade deswegen?) gefesselt hat. Intelligent geschrieben und packend erzählt.

Verlag: Eichborn
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 30. September 2020
ISBN: 978-3847900511
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

25. August 2020

Sebastian Lehmann: „Mit deinem Bruder hatten wir ja Glück“

Woanders ist es auch nicht anders.

Ich bin ein großer Fan öffentlicher Bücherschränke, wobei mein heimischer SUB (= Stapel ungelesener Bücher) meist so hoch ist, dass ich mir die Mitnahme neuen Lesestoffes zu verkneifen versuche. Manchmal kann ich aber nicht widerstehen – und entdecke Bücher, auf die ich von alleine vielleicht nie gekommen wäre. Von diesem Autor hatte ich zum Beispiel noch gar nichts gehört.

 
Sebastian Lehmanns Kolumnensammlung „Mit deinem Bruder hatten wir ja Glück“ handelt von vielen kurzen Elterntelefonaten, wie sie sich überall in Deutschland abspielen könnten: Das erwachsene Kind in der fernen Großstadt wird von seinen Eltern angerufen und schon prallen die unterschiedlichen Lebenswelten aufeinander, brechen Generationenkonflikte auf oder es wird einfach mal wieder über Lieblingsthemen debattiert. In Sebastians Fall z.B. über seine Erfolglosigkeit als Comedian, seinen Vegetarismus, die fehlenden Enkelkinder und besagten Bruder. Doch auch, wenn Eltern und Sohn nicht müde werden, sich über mangelnde Ähnlichkeiten zu wundern: In Sachen Schlagfertigkeit schenken sie sich nichts. Ist doch schön, wenn man sich nach all den Jahren noch gegenseitig überraschen kann!

Ich habe mich beim Lesen sehr amüsiert. Die kurzen, pointierten Telefon-Häppchen eignen sich prima als Zwischendurch-Lektüre, und je mehr Geschichten man liest, desto mehr Evergreens lassen sich in der Eltern-Sohn-Beziehung ausmachen. Und mal ehrlich: So überspitzt das Ganze auch ist, wird doch vielen Thirtysomethings die ein oder andere Elterntelefonate-Passage leicht bekannt vorkommen – ob es nun um IT-Probleme, das Wetter oder die Weihnachtsplanung geht. Oder um den siebten Sinn, mit den einen die eigenen Eltern doch manchmal ganz unverhofft in Erstaunen versetzen. Mir hat das Buch gute Laune gemacht – genau wie die Entdeckung, dass sich viele der Telefonate auch als Podcast nachhören lassen: https://www.sebastianlehmann.net/podcast

Verlag: Goldmann
Seitenzahl: 240
Erscheinungsdatum: 15. Oktober 2018
ISBN: 978-3442159628
Preis: 9,00 € (E-Book: 8,99 €)

6. August 2020

Suzanne Collins: Die Tribute von Panem X – das Lied von Vogel und Schlange

Snow landet immer oben.

Jeder, der „Die Tribute von Panem“ gelesen oder gesehen hat, wird sich an ihn erinnern: Coriolanus Snow, den grausamen Präsidenten des Kapitols. Er ist die Hauptfigur dieses Prequels, das 64 Jahre vor Katniss Everdeens erstem Auftritt in der Arena spielt.


„Die Tribute von Panem“ ohne Katniss und Peeta – geht das? Ich war selbst überrascht, wie sehr mich Suzanne Collins Vorgeschichte „Das Lied von Vogel und Schlange“ gefesselt hat. Dieses Buch handelt von den 10. Hungerspielen und daran, dass der 18-jährige Coriolanus Snow eines Tages Präsident des Kapitols werden könnte, glaubt höchstens seine greise und leicht verwirrte Großmutter. Mit ihr und seiner Cousine Tigris lebt Coriolanus zusammen; seine Eltern, Onkel und Tante sind während des Krieges gestorben. Die drei verbliebenen Snows halten sich so gerade über Wasser, doch Geld fehlt ihnen an allen Ecken und Enden und auch Coriolanus Universitätsstudium werden sie nicht bezahlen können. Seine einzige Hoffnung ist ein Stipendium, auf das er Chancen hat, wenn sich sein Tribut gut schlägt – bei den 10. Hungerspielen von Panem.

Coriolanus ist ein Stratege – sonst bleibt ihm allerdings auch wenig übrig. Er versucht, dem Namen Snow Ehre zu machen, niemanden merken zu lassen, wie schlecht es um die einst erfolgsverwöhnte Familie steht. „Snow landet immer oben“ ist nach wie vor ihr Motto, aber die Sonnenseite des Lebens scheint in weite Ferne gerückt. In der Akademie, wo sein Schulabschluss kurz bevorsteht, ist Coriolanus erfolgreich und beliebt, doch seine Zukunft ist unsicher, und so lastet ein ziemlicher Druck auf dem jungen Mann, der immer drei Schritte vorausdenkt. „Das Lied von Vogel und Schlange“ ist aus seiner Perspektive geschrieben und als Leserin konnte ich gar nicht anders, als Verständnis für ihn aufzubringen – und ihn zu mögen. Das ist spannend, denn Snow ist durchaus eine ambivalente Figur: Auf den eigenen Vorteil bedacht, aber auch mitfühlend. Manipulativ, aber auch verzweifelt.
Sein Gegenpart ist sein eigenes Tribut: Lucy Grey, die zierliche Musikerin aus dem ärmlichen Distrikt 12, der keiner zutraut, auch nur einen Tag in der Arena zu überleben. Doch Lucy Grey ist schlau und zäh – genau wie Coriolanus. Die Begleitung dieses ungleichen, sich aber doch auf Augenhöhe begegnenden Teams macht den Reiz des Romans aus. Überhaupt lebt er von den Gegensätzen: Was ist wichtiger – Macht oder Freiheit? Liebe oder Vertrauen? Freundschaft oder Loyalität? Die Geschichte hat einige verblüffende Wendungen. Und dann sind da noch die Hungerspiele, die man ja aus der Trilogie hinreichend kennt, die aber 64 Jahre vor Katniss und Peeta noch längst nicht so entwickelt waren.
Das Ganze ergibt einen gleich dreifach spannenden Pageturner: Hungerspiele, Lucy Greys ungewisses Schicksal, Coriolanus Kampf gegen den sozialen Abstieg. Dazu das Lied vom „Hanging Tree“, Spott- und Schnattertölpel – und man ist wieder komplett in Panem. Ich kann die Verfilmung fast schon vor mir sehen und freue mich sehr darauf. Collins hat eine Vorgeschichte geschrieben, die ihrem Hauptwerk in jeder Hinsicht ebenbürtig ist. Ich hoffe, das war nicht der letzte Ausflug nach Panem!

Verlag: Oetinger
Seitenzahl: 608
Erscheinungsdatum: 19. Mai 2020
ISBN: 978-3789120022
Preis: 26,00 € (E-Book: 15,99 €)

29. Juni 2020

Karsten Dusse: Das Kind in mir will achtsam morden

Achtsamkeit meets Mafioso – Vol. 2.

Die Danksagung beschreibt dieses Buch als „Geschwisterkind. Es hat bei gleichem Genpool wie Achtsam morden seinen eigenen Charakter“. Und damit liefert der Autor gleich selbst zwei gute Gründe, diesen Roman zu lesen, denn „Achtsam morden“ war super – fand ich jedenfalls. Die Fortsetzung schafft es, nah am Erstling zu bleiben und dennoch kein Abklatsch zu sein.


Und das fasst schon ziemlich gut zusammen, warum ich mich bei „Das Kind in mir will achtsam morden“ bestens amüsiert habe. Karsten Dusse bringt Achtsamkeit und organisiertes Verbrechen erneut auf höchst unterhaltsame Weise zusammen. Zwar hat Hauptfigur Björn Diemel die Lektionen seines Achtsamkeitscoaches bereits in „Achtsam morden“ vollkommen verinnerlicht, muss jetzt allerdings feststellen, dass jemand sein neues, entspanntes, wertschätzendes Ich sabotiert: er selbst! Beziehungsweise: sein inneres Kind, das offensichtlich Heimat finden muss, was Coach Breitner natürlich in anderen Worten formuliert. Er empfiehlt Diemel eine Partnerschaftswoche mit seinem inneren Kind, um dessen Bedürfnisse verstehen zu lernen. Diese Woche hat es allerdings in sich: neben Emily, Diemels äußerem Kind, Katharina, seiner dauerverstimmten Noch-Frau und den Interims-Leitungen zweier Mafiaclans hat der Strafverteidiger zwar keine Leiche, aber dafür einen Russen im Keller. Und als der plötzlich weg ist, fangen die Probleme erst richtig an …

Was Dusse ganz wunderbar kann: Dinge auf die Spitze treiben – und darüber hinaus. Man denkt noch „er wird jetzt doch nicht …“ und dann passiert nicht nur das, sondern noch viel mehr. Dusse – und mit ihm seine Hauptfigur Björn Diemel – sind auf eine wunderbare Art und Weise komplett schmerzfrei. Das schafft immer wieder Überraschungseffekte, die irgendwo sicher absurd sind, sich aber gleichzeitig einfach wahnsinnig stimmig in die Geschichte einfügen. Diese entwickelt sich wie schon in „Achtsam morden“ mehr als kurzweilig. Dusse ist außerdem ein Meister im Aufnehmen loser Fäden und so bleiben am Ende nur wenige Fragen ungeklärt – aber genug, um mir Hoffnung zu geben, dass auch „Das Kind in mir will achtsam morden“ noch ein kleines Geschwisterchen bekommen könnte.

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 11. Mai 2020
ISBN: 978-3453424449
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

14. Juni 2020

Elizabeth Gilbert: City of Girls

Dranbleiben lohnt sich – oder: How I met your father.

Das ist bereits mein zweites Buch in Folge, in dem die Hauptfigur eine alte Dame ist. Auch hier wird rückblickend erzählt, Vivian Morris wendet sich allerdings im Gegensatz zu Madame Nan nicht an ihre Leserin bzw. ihren Leser, sondern an eine Bekannte namens Angela. Auch sonst gibt es kaum Gemeinsamkeiten zwischen den Protagonistinnen und ihren Geschichten – außer, dass das Lesen beider Romane Vergnügen bereitet.


In Elizabeth Gilberts „City of Girls“ erzählt die ca. 90-jährige New Yorkerin Vivian Morris ihr Leben nach dem „How I met your mother“-Prinzip. Sie kündigt an, von ihrer Beziehung zum Vater der danach fragenden Angela zu berichten, schildert dann jedoch erst einmal in aller Ausführlichkeit ihre Lebensgeschichte, in der dieser Mann – so viel sei verraten – längst nicht von Anfang an eine größere Rolle spielt. Vivian blickt auf ein für eine Frau aus ihrer Generation ungewöhnliches Leben zurück: Aus einer wohlhabenden WASP-Familie (weiß, angelsächsisch, protestantisch) stammend, scheint ihr Weg zwar vorgezeichnet, doch schon die erste Stufe, den Collegeabschluss, verpatzt sie mit 19 Jahren und wird daraufhin zu ihrer Tante Peg nach New York geschickt. Peg Buell besitzt ganz unkonventionell ein leicht heruntergekommenes Theater, das Lily Playhouse, in dem sich Vivian schnell heimisch fühlt – und außerdem nützlich machen kann: Als hochbegabte Hobby-Schneiderin ist sie schon bald für die Kostüme zuständig. Vivian freundet sich mit den Revuegirls an, geht aus, lernt Männer kennen und hat das Gefühl, zum ersten Mal richtig zu leben. Doch es ist der Sommer 1940; der Zweite Weltkrieg wirft auch in den USA schon seine Schatten voraus. Und unabhängig davon bringt sich Vivian noch in ganz andersartige Schwierigkeiten.

Davor hat die von „Eat Pray Love“-Autorin Elizabeth Gilbert geschaffene Protagonistin allerdings erst einmal viel Spaß, auch bei der Vorbereitung des neuen Stücks „City of Girls“, das dem „Lily Playhouse“ zu ungewohntem Glanz verhelfen soll. Allerdings hat mir das alles zu lange gedauert. Vivians Erkundungen von New York, die Vorbereitung des Stücks … im Nachhinein machte es Sinn, dass dieser Teil ihres Lebens so ausführlich erzählt wird, aber die erste Hälfte des Romans hat durchaus Längen. Der amüsant-plaudernde Erzählton ist an und für sich kurzweilig, die Anekdoten über das Theaterleben auch und das New-York-Flair mit Händen greifbar, aber dennoch: Die Geschichte kommt lange nicht so richtig in Schwung. Umso überraschter war ich, als das Erzähltempo in der zweiten Romanhälfte plötzlich rapide anzog; inklusive unerwarteter Wendungen. Jetzt ging es mir stellenweise fast zu schnell: Figuren, an die ich mich lange gewöhnt hatte, verschwanden abrupt auf Nimmerwiedersehen. Die Ereignisse wurden dabei durchweg berührend und spannend erzählt, als hätte man sich das durch die erste Hälfte erarbeiten müssen.

„City of Girls“ baut sich langsam auf, aber das Dranbleiben lohnt sich: Die gelungene zweite entschädigt für die vorbereitende erste Hälfte. Dennoch fand ich die Gewichtung der Ereignisse in dieser Lebensgeschichte mitunter etwas erstaunlich, habe mich aber fast immer gut unterhalten gefühlt.

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 496
Erscheinungsdatum: 27. Mai 2020
ISBN: 978-3100024763
Preis: 16,99 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

5. Juni 2020

Claire Stihlé: Wie uns die Liebe fand

Viel Herz, aber kein Kitsch.

Dieses Buch ist zweifellos ein Liebesroman; um das zu erraten, reicht ein flüchtiger Blick aufs Cover. Liebesromane lese ich eher selten, aber dieser hier hatte mein Interesse geweckt, als ich feststellte, dass die von der Liebe erzählende Ich-Erzählerin bereits 92 Jahre alt ist – das ist doch mal ein ungewöhnlicher Einstieg! Madame Nan, wie sie genannt wird, blickt auf ein bewegtes Leben zurück. Wie sie und ihre vier Töchter einen Laden geschenkt bekamen und dieses Geschenk nach und nach nicht nur ihre Familie, sondern schließlich das komplette elsässische Dörfchen Bois-de-Val beeinflusste, davon handelt dieser Roman.


Claire Stihlés „Wie uns die Liebe fand“ ist eine zauberhafte Geschichte, in der es um ganz verschiedene Arten der Liebe geht: Die Liebe Madame Nans zu ihren Töchtern, zu ihrem verstorbenen Mann, zu ihren Eltern und ihrer Großmutter; um Liebe, die durch den Magen geht, die Liebe zum Elsass und nicht zuletzt ihre Liebe zum früheren Ladenbesitzer Monsieur Boberschram, der seinerseits niemanden außer seiner schon lange verstorbenen Frau zu lieben scheint. Und als wäre das nicht schon genug Liebe, stellen Madame Nans älteste Tochter Marie und deren Freund Malou auch noch „Liebesbomben“ her, die magische Verkupplungsdienste leisten. Zuviel des Guten, könnte man meinen, doch dieser Roman kommt zwar mit ganz viel Herz daher, aber ohne übertriebene Süße.

Grund dafür ist die Hauptfigur, die sich immer wieder in vertrauensvollem Ton direkt an den Leser wendet, erläutert, einordnet und ihre eigene Geschichte aus einer gewissen Distanz betrachtet. Ihr Leben ist untrennbar mit der Historie des Elsass verknüpft und so finden auch Kriegszeiten, tragische Ereignisse, Verrat und Enttäuschungen Erwähnung. „Wie uns die Liebe fand“ liest sich, als würde man mit Madame Nan auf ihrer Terrasse in Bois-de-Val sitzen und bei einem Glas Wein ihren Erzählungen lauschen. Manchmal waren sie mir einen Tick zu ausführlich und ausgeschmückt, aber alles in allem hätte ich ihr glatt noch länger zuhören können.

Verlag: Droemer
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 4. Mai 2020
ISBN: 978-3426307403
Preis: 14,99 € (E-Book: 12,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

30. April 2020

Kevin Kwan: Crazy Rich Girlfriend

Jetset, Glamour und viel Bling-Bling: unterhaltsam mit kleinen Schwächen

„Crazy Rich Asians” hatte ich im letzten Jahr mit großem Vergnügen gelesen und mir nun endlich die Fortsetzung besorgt. Als ich sie aufschlug, war ich zunächst skeptisch: Der weitverzweigte Stammbaum der männlichen Hauptfigur ist im zweiten Band nicht mehr abgedruckt – wie sollte ich so auch nur den Hauch einer Chance haben, Nick Youngs Großfamilie ansatzweise zu überblicken? Aber abgesehen davon, dass ihm hier eher eine Nebenrolle zukommt, war die Anzahl der Figuren auch insgesamt überschaubar und ich kam gut klar.


Kevin Kwans „Crazy Rich Girlfriend“ spielt wieder im Kosmos der chinesischen Superreichen. Millionen oder Milliarden, altehrwürdig oder neureich, Singapur oder Festlandchina – was hier wirklich zählt, ist eine Wissenschaft für sich. Und in diese einzutauchen, ist auch in Band zwei wieder sehr amüsant. Abermals reisen Rachel und Nick nach China – inzwischen als Ehepaar. Wie im ersten Teil soll die Familie besucht werden, diesmal allerdings Rachels: Sie hat ihren Vater gefunden und erfahren, dass sie einen jüngeren Halbbruder hat. Mit ihm und seiner vermögenden Influencer-Freundin machen die frisch Vermählten Schanghai unsicher, aber auch ein Privatjet-Trip nach Paris darf natürlich nicht fehlen. Kwan würzt die Beschreibungen von Shopping-Ausflügen, Partys und dekadenten Empfängen mit jeder Menge Glamour, Bling-Bling und Essensbeschreibungen, die einem das Wasser im Munde zusammenlaufen lassen. Tatsächlich hat mich das fast am meisten an Band eins erinnert: Die Beschreibung von allen möglichen chinesischen Delikatessen, nach deren Lektüre man gar nicht anders kann, als selbst beim Chinesen zu bestellen (ich habe einen richtigen Heißhunger auf Dim Sum entwickelt).

Aber auch in „Crazy Rich Girlfriend“ macht Reichtum nicht zwangsläufig glücklich und es gibt Neid, Intrigen und Missgunst, wenn auch nicht im gleichen Ausmaß und so perfide eingefädelt wie in Band eins. Kwan hat zwar wieder überraschende Wendungen für seine Leser parat, aber einiges leitet er auch mit dem Holzhammer ein: Ein Handlungsstrang illustriert beispielsweise so richtig schön schwarzweiß, wie Geld den Charakter verderben kann – ein Viertel der darauf verwendeten Seiten hätte diese Botschaft allerdings genauso klar rüberkommen lassen. Der Erzählstrang um Kitty Pong, einem aus Teil eins bekannten Soapsternchen, das nun mithilfe eines Coaches in der gehobenen Gesellschaft ankommen will, liest sich da weitaus erfrischender.

Insgesamt fand ich „Crazy Rich Girlfriend“ etwas vorhersehbarer als den ersten Band, was sicher auch daran lag, dass das eben schon die zweite Begegnung mit dem von Kwan beschriebenen China der Superreichen war. Allen, die „Crazy Rich Asians“ mochten, ist der Roman zu empfehlen, wobei ich ihn besser mit weniger Abstand zum ersten Teil gelesen hätte. Band drei werde ich mir auf jeden Fall bald besorgen, denn nachdem ich mir die wichtigsten familiären Verwicklungen jetzt wieder draufgeschafft habe, bin ich doch sehr gespannt, wie Kevin Kwan seine Trilogie zu Ende führen wird.

Verlag: Kein & Aber
Seitenzahl: 576
Erscheinungsdatum: 12. November 2019
ISBN: 978-3036958057
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

29. März 2020

Anna Hope: Was wir sind

Wenn nichts bleibt, wie es war.

In den ersten Kapiteln dieses Romans fällt folgender Satz: „Du solltest an Deinen Freundschaften festhalten […]. An den Frauen. Am Ende werden nur sie für Dich da sein.“ Doch das Festhalten an Freundschaften, auch oder gerade langjährigen Freundschaften, ist nicht immer einfach. Meist freundet man sich während einer ähnlichen Lebenssituation an, wenn man in räumlicher Nähe zueinander wohnt und zumindest teilweise ähnliche Interessen verfolgt. Aber was passiert, wenn sich diese Parameter ändern?


Davon handelt „Was wir sind“, der dritte Roman der britischen Autorin Anna Hope. Ihre drei Hauptfiguren Hannah, Lissa, Cate kennen sich aus Schule und Studium. Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf das Jahr 2004, als die drei 29-Jährigen gemeinsam in einer WG in London wohnen, das Wochenende und den Frühling genießen, im Park liegen, Wein trinken und den Tag vertrödeln. Doch schon sechs Jahre später sind die Weichen ganz anders gestellt: Cate hat eine Familie gegründet und ist nach Canterbury gezogen. Hannah und ihr Freund Nathan versuchen, ein Baby zu bekommen. Und Schauspielerin Lissa realisiert, dass sie ihren beruflichen Zenit mit Mitte 30 schon überschritten haben könnte.

Anna Hope räumt jeder der drei Figuren gleichermaßen Platz ein, alle Frauen kommen selbst zu Wort und berichten von ihren Erlebnissen. Zwischendurch gibt es Rückblicke, die von ihrem Kennenlernen, von Wendepunkten in ihren Leben und ihren Beziehungen zueinander erzählen. Der Roman heißt „Was wir sind“, doch was sie sind, ist Hannah, Lissa und Cate gar nicht immer so klar. Denn selbst, wenn man seinen Platz im Leben gefunden zu haben glaubt, muss dieser nicht für alle Zeiten sicher sein.

Die drei Protagonistinnen sind sehr unterschiedlich, doch Anna Hope schafft es, sie den Lesern gleich nah kommen zu lassen. Berührend dargestellt werden auch die inneren Nöte, die jede der Figuren hat – obwohl sie alle Leben führen, die Außenstehende als erfolgreich, angekommen und beneidenswert beurteilen könnten. Tatsächlich beneiden Hannah, Lissa und Cate sogar einander, und auch das ist nachvollziehbar: Was einer Freundin wichtig ist, fällt der anderen vielleicht mühelos in den Schoß, was die eine sich erkämpfen muss, bedeutet der anderen wenig. Doch wie viel Diskrepanz und Distanz hält ihre Freundschaft aus?

Der Roman liest sich schnell und intensiv und hat mir aufgrund seiner abwechslungsreichen Darstellungen und der Tiefe der Figuren gut gefallen. „Was wir sind“ ist keine Feelgood-Lektüre, sondern bittersüß und stellenweise durchaus unter die Haut gehend.

Verlag: Hanser
Seitenzahl: 368
Erscheinungsdatum: 17. Februar 2020
ISBN: 978-3446265639
Preis: 22,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

26. Januar 2020

Thorsten Steffens: Klugscheißer Deluxe

In den letzten Tagen gab’s für mich ein Wiederlesen mit einer Romanfigur, die ich bereits letztes Jahr kennengelernt hatte: Timo Seidel, bereits aus und als „Klugscheißer Royale“ bekannt, mausert sich jetzt sogar zum „Klugscheißer Deluxe“.


Thorsten Steffens zweiter Roman schließt relativ nahtlos an den ersten an, wobei die Ausgangslage sich leicht verändert hat: Während Hauptfigur Timo Seidel seinem fundierten Wissen im ersten Buch zunächst freien Lauf lässt, gibt er sich in „Klugscheißer Deluxe“ alle Mühe, es nicht sofort heraus zu posaunen. Da Timo ein Ich-Erzähler ist, erfährt der Leser aber trotzdem sämtliche seiner besserwisserischen Gedanken, ohne die mir auch etwas gefehlt hätte. Auch die eingestreuten Wörterbuch-Artikel sind wieder mit von der Partie: Von A wie „Ampeldrücker“ bis V wie „Vokabelvernehmung“ erläutert Timo ungefragt seine ureigensten Wortschöpfungen, aber auch Fremdwörter wie z.B. „phonatorisch“.

Außerdem gibt’s ein Wiedersehen mit Figuren aus „Klugscheißer Royale“: Timo unterrichtet immer noch als Aushilfslehrer an der Abendschule, wo er von der Direktorin Frau Penner gefördert und seiner Kollegin Barbara bekämpft wird. Er ist nach wie vor ein passionierter Aushilfslehrer und beginnt nun sogar ein Lehramtsstudium. Das Unileben bringt ungeahnte Herausforderungen, exzentrische Dozenten und neue Freundschaften mit sich und Timo versucht, Lernen und Lehren unter einen Hut zu bringen und bekommt schließlich unerwartete familiäre Unterstützung.

Dennoch ist in „Klugscheißer Deluxe“ nicht ganz so viel los wie im Vorgängerbuch. Timos Leben läuft in überschaubaren Bahnen und würde man diesen Roman verfilmen, bräuchte man eigentlich nur drei verschiedene Settings: Wohnung, Uni, Abendschule. Die Geschichte plätschert unterhaltsam vor sich hin, ohne größere Höhen und Tiefen. Die Erlebnisse des sympathischen Klugscheißers lesen sich vergnüglich, doch ich hätte mir trotzdem etwas mehr Tempo gewünscht. Überrascht hat mich dann der Epilog mit einem Ereignis, das Thorsten Steffens nicht auserzählt hat. Schade – hier wäre vielleicht noch mehr Potential drin gewesen. Ob Klugscheißer Timo wohl noch ein drittes Mal in Erscheinung treten wird?

Verlag: Piper
Seitenzahl: 270
Erscheinungsdatum E-Book: 2. Dezember 2019
Erscheinungsdatum Taschenbuch: 2. Juni 2020
ISBN: 978-3492502801
Preis: 10,00 € (E-Book: 6,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.

19. Januar 2020

Karsten Dusse: Achtsam morden

Originelle Idee, genial ausgeführt.

Zu diesem Buch hätte ich schon aus einem einzigen Grund nie von allein gegriffen: Auf dem Cover ist Blut abgebildet, und ich mag weder Splatter-Krimis noch -Thriller. Zum Glück habe ich diesem „entschleunigten Kriminalroman“ aufgrund einer persönlichen Empfehlung doch eine Chance gegeben und schon die Rückseite machte mich neugierig: Man hält nicht alle Tage ein Buch in den Händen, das von Jan Böhmermann und Martina Hill empfohlen wird.


Karsten Dusses Debüt „Achtsam Morden“ bringt Achtsamkeitstraining mit Auftragsmord zwischen zwei Buchdeckel, was nicht nur gut funktioniert, sondern genial. Wobei der Autor, der außerdem Anwalt ist und für verschiedene Fernsehformate schreibt, seine Leser nicht zu mehr Achtsamkeit erziehen will – glaube ich zumindest. Seiner durch und durch gestressten Hauptfigur Björn Diemel verhilft die Achtsamkeit allerdings zu völlig neuer Lebensqualität. Der Enddreißiger steht vor den Scherben seines Lebens: Seine Ehe geht den Bach runter, seine zweijährige Tochter sieht er vor lauter Arbeit kaum, sein Beruf als Strafanwalt einer großen Kanzlei stresst ihn – was nicht zuletzt daran liegt, dass sein einziger Klient ein launischer Mafioso ist – und auf einen beruflichen Aufstieg zum Partner kann er auch nicht mehr hoffen, da er durch die Arbeit für ebendiesen Klienten zu einem „Bäh-Anwalt“ geworden ist. Kurz: Diemel sieht keine Möglichkeit, das Tempo seines selbstgezimmerten Hamsterrads auch nur zu verlangsamen – geschweige denn, auszusteigen. Auf der Suche nach Hilfe klingelt er bei Achtsamkeitscoach Joscha Breitner. Und der sensibilisiert Diemel fortan für die eigenen Grundbedürfnisse und zeigt ihm Möglichkeiten, achtsamer mit sich und seinen Mitmenschen umzugehen. Das klappt zunächst auch, allerdings stellt sich bald heraus, dass Diemels Umfeld von Leuten wimmelt, die weder sein digitales Fasten gutheißen noch ihn auf seiner Zeitinsel in Ruhe lassen wollen. Und wenn man sich dann auch noch den Namen von Diemels Tochter Emily partout nicht merken kann, kann dessen um neue Gelassenheit bemühter Geduldsfaden schon einmal reißen. Womit wir wieder beim Buchtitel wären …

„Achtsam morden“ ist auf eine extrem gute Weise skurril, originell und überraschend. Und zugegebenermaßen auch etwas blutig, was mich in dem Kontext aber kein bisschen gestört hat (sagen wir so: Bei der Verfilmung würde ich sicher nicht unbedingt die komplette Zeit hinsehen, aber lesend ging’s). Die ungewöhnliche Handlung ergibt sich komplett logisch, Björn Diemels Seelenleben wie auch das der anderen Figuren wirkt durchaus nachvollziehbar und dann hat das Ganze auch noch einen ganz eigenen, hintergründigen Humor. Jedem Kapitel ist eine Achtsamkeitslehre vorangestellt, auf die sich Diemel im jeweiligen Abschnitt besinnt. Und obwohl man annehmen könnte, dass sich Achtsamkeit und Kriminalroman nur mit der Brechstange zusammenbringen lassen, schafft Dusse das derart spielend und organisch, dass man sofort süchtig nach diesem neuen Genre wird. Im Mai 2020 erscheint die Fortsetzung „Das Kind in mir will achtsam morden“ – den Ratgeber, der hier beim Titel Pate gestanden hat, kennt man von den Bestsellerlisten. Und ich kann die Veröffentlichung kaum erwarten. Das Kind in mir will weiterlesen!

Verlag: Heyne
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 10. Juni 2019
ISBN: 978-3453439689
Preis: 9,99 € (E-Book: 9,99 €)

5. Januar 2020

Liane Moriarty: Neun Fremde

Perfekte Unterhaltung

Mein Lesejahr 2020 habe ich mit einem Roman begonnen, der noch viel besser ist, als ich gehofft hatte. Das Setting hatte mich zwar gleich angesprochen, erschien mir aber trotzdem nicht besonders innovativ: „Neun Fremde“ kommen an einem Ort zusammen, an dem sie nichts Böses erwarten – aber dann nimmt ihr Aufenthalt eine unvorhersehbare Wendung und plötzlich sehen sie sich einer Situation ausgeliefert, mit der sie nicht gerechnet haben … das kennt man z.B. aus Agatha Christies „Und dann gabs keines mehr“; auch Shari Lapenas „Der zehnte Gast“ und Arno Strobels „Offline“, das noch auf meiner Leseliste steht, basieren auf dieser Idee. Vermutlich deswegen ging ich trotz des Ferienstimmung verbreitenden Covers davon aus, dass sich dieser Roman zu einem Krimi oder Thriller entwickeln würde – und lag damit falsch, wobei durchaus Spannung aufkommt und ich den Roman kaum noch aus der Hand legen wollte.


Liane Moriartys „Neun Fremde“ sind sich gar nicht alle fremd. Unter ihnen sind Vater, Mutter, Tochter sowie ein junges Pärchen. Sie und die vier anderen finden sich in einem teuren Wellness-Resort namens Tranquillum House wieder, wo sie durch ein sogenanntes „Cleansing“ Entspannung, Gewichtsabnahme, inneren Frieden oder die Rettung ihrer Ehe erreichen wollen. Der Leiterin des Resorts, Masha, sind die genannten Ziele allerdings allesamt zu klein und weltlich: Sie plant die totale Transformation ihrer Gäste zu gesünderen, weiseren und edleren Menschen – ein ehrgeiziges Vorhaben für einen zehntägigen Aufenthalt. Zusätzlich erschwert wird ihre Zielerreichung dadurch, dass die Gäste gar keine Transformation anstreben, aber von persönlichen Befindlichkeiten lässt sich eine Frau wie Masha nicht ausbremsen.

Die Autorin lässt alle wichtigen Figuren zu Wort kommen: Die „neun Fremden“, die der Leser schnell ziemlich gut kennenlernt, Masha und ihre beiden Wellness-Berater Yao und Delilah sind alle einzelne Erzähler von Kapiteln, die mit ihren jeweiligen Namen überschrieben sind. 12 Protagonisten also! Das könnte konfus werden. Oder öde oder zu kleinteilig. Wird es aber nicht, denn Moriarty ist eine begnadete Figurenentwicklerin. Sie haucht ihren Protagonisten so viel Leben und Persönlichkeit ein, dass mich wirklich alle gleichermaßen interessiert haben. Und nach und nach kommt man auch hinter die Geheimnisse, die viele dieser 12 Unikate haben. Aber auch nicht alle, und so wirken die Enthüllungen kein bisschen gekünstelt.
Meine Lieblingsfigur war Frances, eine über 50-Jährige Liebesroman-Autorin, bei der es karrieretechnisch nicht mehr läuft und die kürzlich außerdem auf einen Heiratsschwindler reingefallen ist. Doch auch der Scheidungsanwalt Lars, die schönheitsoperierte Jessica und die verbissen wirkende Hebamme Heather machen den Roman zu dem, was er ist: ein außerordentliches Lesevergnügen mit 12 amüsant geschilderten Charakterstudien, immer wieder hervorblitzendem Humor, etwas Nervenkitzel und einer Fülle von überraschenden Wendungen. „Neun Fremde“ ist richtig gute Unterhaltung ohne irgendwelche Abstriche.

Verlag: Diana
Seitenzahl: 528
Erscheinungsdatum: 26. August 2019
ISBN: 978-3453292345
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

17. Dezember 2019

Jojo Moyes: Mein Herz in zwei Welten

Gelungener Abschluss.

In dieser Adventszeit habe ich es schlichtweg verpasst, mir schön weihnachtlich angehauchte Lektüre zu besorgen. Stattdessen hänge ich seit Wochen in einem staubigen Südstaatenroman fest, den ich auf jeden Fall rezensieren werde, sobald ich ihn endlich beendet habe – nicht, weil er so lesenswert wäre, sondern weil ich das Gefühl habe, ihn mir gerade hart zu erarbeiten. Ende November las ich noch ein Buch ganz anderen Kalibers, da flog ich quasi durch die Seiten und die Lektüre hat mich stellenweise sehr berührt, obwohl ich nicht allzu viel erwartet hatte. „Ein ganzes halbes Jahr“ fand ich großartig, „Ein ganz neues Leben“ war eben die Fortsetzung, in der man die Hauptfigur durch eine verzweifelte Zeit begleitete. Jetzt noch ein dritter Band – musste das überhaupt sein?


Jojo Moyes entführt ihre Leser in „Mein Herz in zwei Welten“ wieder in das Leben von Louisa Clark, die zu Beginn des Buches ihren neuen Job als private Assistentin in Manhattan antritt, für den sie sich bereits am Ende von "Ein ganz neues Leben" entschieden hatte. Ihre Londoner Wohnung, ihre liebenswert schrullige Familie und ihren neuen Freund Sam hat sie zurückgelassen, um für die reiche Familie Gopnik zu arbeiten, bzw. für Agnes Gopnik – die zweite, noch relativ neue und deutlich jüngere Ehefrau von Mr. Gopnik, die von der erwachsenen Tochter des Hausherren verachtet und von der Haushälterin gehasst wird. Mrs Gopnik betrachtet Louisa bald als persönlichen Rettungsanker und beste Freundin – wobei Louisa sehr schnell klar wird, dass diese „Freundschaft“ eine absolute Einbahnstraße ist. Sie versucht, alles unter einen Hut zu bekommen: Die glamourösen Events, Agnes Eskapaden, ihre eigene Sehnsucht nach Sam. Stellenweise fühlte ich mich ein bisschen an „Der Teufel trägt Prada“ erinnert.
Aber dann nimmt der Roman eine unerwartete Wendung. Louisa findet nach und nach zu ihrem alten Selbst zurück bzw. zu dem Selbst, das Will in ihr gesehen hat, als Louisa noch gar nicht wusste, was in ihr steckt. Das war schön zu lesen und spannt irgendwie auch einen Bogen zum ersten Buch. Jojo Moyes kann Emotionen nachvollziehbar und echt schildern, ohne dass es je kitschig oder rührselig wird. Egal ob Haupt- oder Nebenfiguren: Alle Charaktere wirken greifbar und lebendig, sie schildert sie ausnahmslos authentisch. Damit hat sie mich wieder begeistert und ich habe „Mein Herz in zwei Welten“ sehr zufrieden beendet. Mir erscheint die Geschichte jetzt wirklich auserzählt, aber sollte die Autorin Louisa noch ein viertes Buch widmen, werde ich vermutlich trotzdem nicht widerstehen können.

Verlag: Wunderlich
Seitenzahl: 592
Erscheinungsdatum: 23. Januar 2018
ISBN: 978-3805251068
Preis: 22,95 € (Taschenbuch: 12,- €, E-Book: 9,99 €)

30. Oktober 2019

Bernhard Aichner: Der Fund

Grandioser Pageturner voller Wahnwitz

Dieser Thriller ist ein echtes Juwel. Das Cover sieht unscheinbar aus, doch in dem gelben Buchblock verbergen sich jede Menge Wahnwitz und Originalität. Der Erzählstil ist komplett ungewöhnlich. Kurz gesagt: Bereits nach wenigen Seiten bekam ich eine Ahnung vom Potential dieser Geschichte, die mich dann auch postwendend süchtig werden ließ.


„Der Fund“, um den es in dem gleichnamigen Thriller von Bernhard Aichner geht, wird von Supermarktverkäuferin Rita gemacht. Die unscheinbare und unbescholtene Mittfünfzigerin hat etwas entdeckt und entwendet – eine Entscheidung mit tödlichen Folgen: Bereits zu Beginn des Buches ist klar, dass Rita eines unnatürlichen Todes gestorben ist. Aber was ist bloß passiert?

Das fragt sich auch ein männlicher Ermittler, über den sonst absolut nichts zu erfahren ist. Kapitel mit wörtlicher Rede – der Ermittler fragt, die oder der Befragte antworten – wechseln sich mit Rückblenden aus Ritas Leben ab. Die Kapitel sind kurz, der Erzählstil temporeich und die vielen Befragungen ergeben jede Menge Puzzlestücke – einzelne Anekdoten, von denen viele nicht zusammenhängen. Oder doch?

Die Ausgangssituation von „Der Fund“ ist so simpel wie der Plot einzigartig. Überdies ist Bernhard Aichner ein Meister des Menschlichen – er schildert Ängste, Sehnsüchte, Abgründe und Leidenschaften so lebendig, dass man die Figuren richtiggehend vor sich sieht. Und wann immer man denkt, man hätte die Geschichte endlich durschaut, vollführt der Autor eine 180 Grad-Wendung, die nicht vorhersehbar war und alle Ideen zum Einsturz bringt. Ein ungewöhnlicher, grandios erzählter Pageturner, der etwas wagt und alles gewinnt. Ich bin immer noch begeistert.

Verlag: btb Verlag
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 30. September 2019
ISBN: 978-3442757831
Preis: 20,00 € (E-Book: 14,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

31. Juli 2019

Anna Moretti: Effi liest

Schon der Titel dieses Buches ist ein Eyecatcher, weil er an einen fast gleichlautenden, sehr viel älteren Gesellschaftsroman denken lässt und dadurch eine ordentliche Portion Humor verrät. Auch das überaus liebliche Cover bestätigt den Eindruck: Diese Lektüre wird vergnüglich.


Anna Morettis „Effi liest“ erinnert anfangs an Emmy von Rhodens 1885 erschienenes Buch „Der Trotzkopf“. „Effi Briest“ wurde 10 Jahre später veröffentlicht und um diese Zeit spielt auch „Effi liest“. Morettis Effi – eigentlich Elena Sophie von Burow – langweilt sich seit Jahren in einem feinen Mädchenpensionat. Ein bei einem Ausflug gefundenes Buch verspricht Abwechslung, doch noch bevor sie eine Chance hat, mehr als einen kurzen Blick hineinzuwerfen, wird sie von ihrer gestrengen Lehrerein Fräulein Grimaud erwischt – und in der Folge aus dem Internat geschmissen. Ein hoher Preis dafür, dass Effi nur ein paar Seiten überflogen hat. Sie wird zu ihrem Vater nach Berlin zurückgeschickt, der mit ihr einen Deal vereinbart: Er fragt bei der Universität an, ob seine wissbegierige Tochter eine Sondergenehmigung als Studentin bekommt. Dafür muss diese sich jedoch Latein beibringen (sollte sie daran scheitern, ist der Universitätsbesuch erledigt – der Vater scheint darauf zu hoffen) und sich von ihrer Tante Auguste in „Frauenfragen“ unterrichten lassen – „Kleider, Blumen, Einladungen, Dankesschreiben“. „Effi liest“ verdeutlicht mindestens so gut wie Fontanes Original, was das ausklingende 19. Jahrhundert für Frauen der höheren Schichten und im heiratsfähigen Alter bereithielt.

Eine weitere Hauptfigur ist der junge Arzt Max von Waldau, den Effi bereits auf ihrer Rückfahrt nach Berlin kennenlernt. Am Ende jedes Kapitels ist ein Brief von ihm an seinen jüngeren Bruder abgedruckt, der zum einen die männliche, zum anderen die medizinische Sicht dieser Zeit widerspiegelt – wobei vor allem letztere heute sehr abenteuerlich anmutet. Und als Effi nicht nur liest, sondern auch niest, weckt sie auch noch von Waldaus berufliches Interesse. Das Ganze könnte sehr komisch sein, wären die im Folgenden geschilderten Behandlungsmethoden nicht tatsächlich historisch belegt. Überhaupt beschreibt Moretti die damalige Zeit fundiert und detailliert, aber eben auch immer mit einem Augenzwinkern. Zur Einordnung hat sie ihrem Roman einen Abriss über gesellschaftliche und medizinische Ereignisse im 19. Jahrhundert vorangestellt. Dabei erwähnt sie auch mehrere während dieser Zeit erschienene Romane, die das gleiche Muster aufweisen: eine Frau begeht Ehebruch, was jeweils tödlich endet. „Effi liest“ geht dagegen nicht tödlich aus, so viel kann schon mal verraten werden. Nach einem etwas längeren Einstieg gewinnt der Roman mehr und mehr an Fahrt, der Stil ist sehr lebendig, was nicht wundert, wird doch aus Effis Perspektive erzählt. Das Ende kommt dann fast ein bisschen schnell – während sich der Beginn etwas zieht (was wohl auch am eher unspektakulären Pensionatsleben liegt), hätte ich mir den Schluss etwas ausführlicher gewünscht.

„Effi liest“ ist eine leichte und unterhaltsame Lektüre mit einem historisch fundierten Kern, der einen hier und da durchaus ins Stocken geraten lässt. Als Leserin habe ich nicht nur einmal Dankbarkeit dafür empfunden, erst viele Jahrzehnte später geboren worden zu sein.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 352
Erscheinungsdatum: 31. Juli 2019
ISBN: 978-3785726525
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses E-Book als Rezensionsexemplar erhalten.

24. Juni 2019

Helmut Krausser: Trennungen. Verbrennungen

Manche Romane plätschern einfach nur munter vor sich hin und sind trotzdem grandiose Kompositionen – oder gerade deswegen? Helmut Krausser kann ich jedem empfehlen, der auf der Suche nach etwas wohlformulierter und vergnüglicher Ablenkung ist. Der Mann kann schreiben und greift mit großer Leichtigkeit alle Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins auf.


In „Trennungen. Verbrennungen“ entwirft Krausser einen locker-flockigen Reigen aus verschiedenen Personen, die in unterschiedlichsten Beziehungen zueinanderstehen. Im Zentrum des Ganzen steht ein wohlhabendes, in Wannsee lebendes Ehepaar: Archäologieprofessor Fred Reitlinger und seine Frau Nora, die in regelmäßigen Abständen Soireen organisieren, zu denen auch zwei besonders hoffnungsvolle Studenten eingeladen werden, Gerd und Leopold. Ersterer ist mit der kapriziösen Sonja liiert, deren Eltern für die ihrer Tochter zugedachte Zukunft finanzielle Anreize setzen. Zweiterer läuft an einem unglückseligen Tag der Tochter der Reitlingers über den Weg, die gegen alles und jeden rebelliert. Ihr Bruder Ansgar, ihre Freundin Caro, deren Affäre Petar – sie alle sind in ein komplexes Beziehungsgeflecht verwickelt und es kommt zu „Trennungen. Verbrennungen“, aber auch, um einen anderen Romantitel Kraussers zu zitieren, zu „Einsamkeit und Sex und Mitleid“. All dem lesend beizuwohnen, macht einfach Spaß. Kraussers plaudernder Erzählton, der das Leben und seine Abgründe beschreibt, ohne es sonderlich ernst zu nehmen, macht dieses Leseerlebnis sehr vergnüglich. „Trennungen. Verbrennungen“ lässt sich in einem Rutsch durchlesen und kennt weder Längen noch unnötige Aufregungen. Krausser scheut vor keiner möglichen Verwicklung zurück, wodurch es den ein oder anderen Überraschungsmoment gibt. Dabei behält er durchgehend seinen spöttisch-wohlwollenden Blick auf alles Menschliche. Ein Roman wie eine Oase der amüsanten Gelassenheit.

Verlag: Berlin Verlag
Seitenzahl: 256
Erscheinungsdatum: 19. März 2019
ISBN: 978-3827013934
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)

9. Mai 2019

Kevin Kwan: Crazy Rich Asians

Wenn ich in ein Buch hineinblättere und als erstes einen Stammbaum sehe, schreckt mich das – je nach Länge des Stammbaums – manchmal ab. Wenn der Stammbaum drei komplette Familienzweige mit alleine 21 Ehepaaren umfasst (plus Kinder, erwachsene Unverheiratete und deren Lebensgefährten, falls vorhanden), überlege ich mir gut, ob ich diesen Roman wirklich lesen will. Wenn zum Stammbaum aber dann auch noch Fußnoten vermerkt sind, wie „Das kommt davon, wenn man sich in Argentinien liften lässt“ und „Plant gerade, mit seinem geliebten Kindermädchen davonzulaufen und an der Karaoke-WM in Manila teilzunehmen“ ist es offensichtlich um mich geschehen, denn ab diesem Zeitpunkt war mir klar, dass ich dieses hübsche pinke Buch gerne lesen würde, das in den USA monatelang auf der Bestsellerliste stand und in 30 Sprachen übersetzt wurde. Wenn es ein Autor schafft, in seinem 576 Seiten umfassenden Roman noch vor dem Titelblatt Humor unterzubringen, muss man ihm doch eine Chance geben – oder?


Doch weder der Stammbaum noch die Seitenzahl hatten mich gewarnt: Während der Lektüre dieses Buches bekam ich mehr und mehr den Eindruck, im Grunde genommen bettelarm zu sein – und gleichzeitig Hunger auf asiatisches Essen. Mit diesen Nebenwirkungen ist definitiv zu rechnen, wenn man Kevin Kwans Debüt „Crazy Rich Asians“ liest. Es handelt, wie der Name schon sagt von „verrückten, stinkreichen Asiaten, deren Leben sich nur ums Geldausgeben, Geldvergleichen und Geldverstecken dreht, die mit ihrem Geld protzen und deswegen anderer Leute Leben ruinieren“. Das ist zumindest das bittere Fazit von Hauptfigur Rachel, die in den USA aufgewachsen ist und mit ihrem Freund Nicholas Young zu einer Hochzeit in seine Heimat fliegt – nichtahnend, dass Nicks Familie zu den reichsten Singapurs gehört und er dort wie ein heißbegehrter Kronprinz behandelt wird, als beste Partie, die frau machen kann. Bevor Rachel die Lage auch nur ansatzweise durchschaut hat, findet sie sich in einem Haifischbecken zwischen arroganten Jugendfreundinnen, herablassenden Verwandten und einer scheinheiligen Schwiegermutter in spe wieder. Wobei Rachel und Nick noch nicht mal übers Heiraten gesprochen haben, doch mindestens Teile der Singapurer Elite sind sich einig, dass diese unwürdige Amerikanerin unbekannter Abstimmung es natürlich nur auf die Ehe mit einem der reichsten Junggesellen Asiens abgesehen haben kann. Und dass sie ihr Ziel erreicht, muss selbstverständlich mit allen Mitteln verhindert werden …

Kevin Kwan entführt seine Leser in die Welt der asiatischen Superreichen, inklusive Redewendungen auf Mandarin und jeder Menge Fußnoten, die dem nicht-asiatischen Leser einige Erklärungen liefern. Und so hat er mir einen völlig unbekannten, aber durchaus faszinierenden Kosmos erschlossen. Es geht nicht nur um Rachel und Nick, sondern auch um andere Familienmitglieder, die unterschiedliche Lebensstile und Interessen verfolgen; und so bleiben die „Crazy Rich Asians“ nicht so stereotyp, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Die Beschreibung von Luxusmarken, Hotels, Privatjets und asiatischen Köstlichkeiten ist dabei ziemlich ausführlich geraten, wird aber durch amüsante und bitterböse Kommentare stets aufgelockert. Als ich zwischenzeitlich feststellte, nur den ersten Band einer Trilogie in den Händen zu halten, war ich leicht irritiert – würde die Geschichte wirklich Stoff für drei Bände hergeben? Inzwischen kann ich mir das durchaus vorstellen und wüsste überdies sehr gerne, wie es mit den Youngs, Shangs und T’Siens weitergeht. Außerdem las ich irgendwann, dass das Buch sogar verfilmt wurde – als billiger Hollywood-Klamauk, schon den Trailer fand ich abschreckend. Er wird diesem komplexen Culture-Clash-Roman nicht gerecht, indem nicht nur unterschiedliche Kulturen und Wertvorstellungen, sondern auch Generationen auf höchst amüsante, aber auch ab und an nachdenklich machende Weise immer wieder aufeinanderprallen.

Verlag: Kein & Aber
Seitenzahl: 576
Erscheinungsdatum: 13. Mai 2019
ISBN: 978-3036957975
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

30. April 2019

Beck Dorey-Stein: Good Morning, Mr. President!

Dieses Buch wollte ich allein schon wegen seines vielversprechenden Beginns lesen. Noch vor dem ersten Kapitel kommen die „Leitlinien für aufstrebende Stenographinnen“, und bereits diese sind ein Eyecatcher, denn nicht nur die deutsche Übersetzung, sondern auch das amerikanische Original ist im Jahr 2018 erschienen – gibt es heutzutage überhaupt noch Stenographinnen? Anscheinend schon, und sie haben wohl Regeln zu befolgen wie „Leise atmen oder gar nicht“ und „Leben, um zu tippen, nicht tippen, um zu leben“. Eine Seite weiter steht nur ein einziger Satz „Ich sollte keine Stenographin sein.“ Ich finde, dieser Einstieg macht große Lust auf die weitere Lektüre – vor allem, wenn man weiß, wo die Autorin als Stenographin gearbeitet hat …


Beck Dorey-Stein verrät bereits im Untertitel von „Good Morning, Mr. President!“ wo sie bis 2017 beruflich tätig war: „Meine Jahre mit Obama im Weißen Haus“. Zufällig bekommt sie 2011 als arbeitslose Mittzwanzigerin ebendort einen Job als Stenographin. Nach ihren eigenen Schilderungen ist sie damit das unterste Glied in der Nahrungskette der Präsidenten-Entourage, aber trotzdem – im Wechsel mit ihren Stenographen-Kollegen – immer vor Ort, wenn es Reden von Potus (dem President of the United States) mitzuschneiden gibt. Ob im Oval Office, in der Air Force One, auf Auslandsreisen, wenn Obama sich mit den Mächtigen dieser Welt trifft oder bei Trauerfeiern nach Terroranschlägen – Beck Dorey-Stein ist live vor Ort. Man kann sich gut vorstellen, dass ihr teils verfremdeter Bericht schon allein wegen dieses Blicks hinter die Kulissen in den USA zum Bestseller wurde. Abgesehen davon ist er auch eine kleine Hommage an Obama, die zumindest mich beim Lesen ganz wehmütig werden ließ. Aber auch wenn Potus immer wieder vorkommt, ist er doch nur eine Randfigur in Beck Dorey-Steins Memoiren. Ihr Buch dreht sich vor allem um ihr eigenes Leben im und außerhalb des „Zirkus“, um Selbstfindung und ihre Suche nach echten Freunden und wahrer Liebe.
Und insbesondere, was die Suche nach wahrer Liebe angeht, hat mich die Autorin wirklich verblüfft: Schonungslos berichtet sie, wie sie immer wieder hinfällt, sich hochrappelt, erneut hinfällt. Sie macht dabei keine wirklich gute Figur und einige Schilderungen hätte sie sich und ihren Lesern vielleicht ersparen sollen – manchmal hätte ich diese Frau schütteln mögen, die sich wider besseren Wissens immer und immer wieder mit dem falschen Typen einlässt! Zu kurz kamen mir dagegen vor allem anfangs ein paar politische Hintergründe: Wohin Beck mit der Air Force One fliegt, ist in der Regel unwichtiger als der Flug selbst, die Ausstattung des Flugzeugs wird oft detaillierter beschrieben als die Erlebnisse an den Reisezielen. Aber die Autorin sieht natürlich auch nicht viel von den Zielen bzw. macht in erster Linie einfach ihren Job, der sie an faszinierende Orte führt, aber an sich nicht unbedingt faszinierend ist. Doch im Laufe ihrer Stenographinnen-Jahre lernt sie mehr und mehr, den Kopf zu heben und hinzusehen. Und der Blick hinter die Kulissen ist sowieso spannend – auch wenn die ersten paar Seiten des Buches einen pointierteren Bericht erwarten lassen als den, der dann tatsächlich zu lesen ist.

Doch vielleicht gerade, weil „Good Morning, Mr. President“ doch nicht so witzig und überspitzt ist und gerade, weil die Autorin ihr desaströses Liebesleben vor dem Leser ausbreitet, wirkt sie komplett authentisch. Und auch ein bisschen, wie man sich das typische All-American Girl so vorstellt: Beck ist ein gutaussehender, sportlicher Kumpeltyp, der bestens in eine romantische Komödie mit allerlei Verwicklungen passen würde. Und wie die Heldinnen in solchen Filmen reift auch die Autorin während ihrer Jahre im Weißen Haus, sie findet wahre Freunde und weibliche role models, bekommt ein feines Gespür für den unterschiedlichen Umgang mit Macht und geht ihrer wahren Leidenschaft nach – dem Schreiben. Das Ergebnis ist dann schließlich ihr Buch, „Good Morning, Mr. President!“, das ich allen empfehlen kann, die am Blick hinter die Kulissen der Macht Spaß haben und ein gewisses Maß an Geduld mit der Autorin mitbringen, die mir als Leserin zwar ab und zu auf die Nerven gegangen ist, ihr Herz aber definitiv am rechten Fleck hat.

Verlag: Rowohlt
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 20. November 2018
ISBN: 978-3499633522
Preis: 12,99 € (E-Book: 9,99 €)

8. April 2019

Joël Dicker: Das Verschwinden der Stephanie Mailer

Joël Dicker gehört zu meinen Lieblingsautoren. Er hat bislang drei Romane geschrieben, die ich alle verschlungen habe und herausragend fand. „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ war noch ein Spontankauf, der mir eine halbe schlaflose Nacht bescherte, als ich einfach nicht mehr aufhören konnte, zu lesen. „Die Geschichte der Baltimores“ kaufte ich mir dann direkt nach Erscheinen und freute mich über das Wiedersehen mit Protagonist Marcus Goldman. Und als jetzt „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ erschien, habe ich meine bei „Vorablesen“ gesammelten Punkte ohne Zögern eingesetzt, um ein Rezensionsexemplar zu ergattern. Und was soll ich sagen? Ich wurde nicht enttäuscht!


„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ spielt in Orphea, einer beschaulichen Kleinstadt an der amerikanischen Ostküste. Alljährlicher Höhepunkt des öffentlichen Lebens ist ein Theaterfestival, das in der Romangegenwart im Jahr 2014 bereits 20-jähriges Jubiläum feiern soll. Mindestens halbvergessen scheinen die Ereignisse vom Premierenabend des ersten Festivals 1994: Damals wurden vier Einwohner Orpheas erschossen, unter ihnen die Familie des damaligen Bürgermeisters. Zwei junge Polizisten der State Police konnten den Fall nach mehrmonatiger Arbeit lösen. Einer von ihnen, Jesse Rosenberg, feiert zu Beginn des Romans gerade sein Ausscheiden aus dem Polizeidienst, als ihn eine Journalistin anspricht, die ihm auf den Kopf zusagt, dass er damals in Orphea den Falschen verhaftet hätte. Rosenberg nimmt die geheimnistuerische Stephanie Mailer zunächst nicht ernst, doch nur ein paar Tage später wird die junge Frau als vermisst gemeldet. Hat sie eventuell wirklich etwas herausgefunden – und wohin ist sie verschwunden?

„Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ ist vieles: hochspannend, unterhaltsam, tragisch, begeisternd und voller Leben. Joël Dicker führt seine Leser durch einen dichten Roman voller Perspektivwechsel, Rückblenden und wahnwitziger Wendungen. Doch selbst Entwicklungen, die mir überdreht vorkamen, bekamen irgendwann einen Sinn, wurden nachvollziehbar und fügten sich wie Puzzlestücke in den Gesamtkontext ein. Dieser Autor ist einfach ein Meister seines Fachs: Er hat ein unfassbares Talent, Protagonisten und Schauplätze lebendig werden zu lassen und ein großartiges Gespür für die richtige Dosis. Trotz vieler Details und einer Fülle handelnder Personen bleibt „Das Verschwinden der Stephanie Mailer“ wundervoll lesbar und auf die Haupthandlung fokussiert. Überdies macht der Roman regelrecht süchtig. Es ist wie bei einem Esel, der einer Mohrrübe hinterherläuft: Als Leser fühlt man sich der Lösung der Romanrätsel stets nah und lässt sich von Dicker willig auf jede neue Fährte mitnehmen, was die 672 Seiten im Nu verfliegen lässt. Wenn doch die Wartezeit auf das nächste Buch des Autors nur auch so schnell verginge!

Als Trost für alle, die wie ich nun wieder warten: Seit dem 1.04. ist exklusiv auf tvnow.de „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ zu sehen – als Serie, mit Patrick Dempsey in der Hauptrolle. Ich habe noch keine Folge gesehen, werde das aber als Joël Dicker-Fan natürlich bald nachholen.

Verlag: Piper
Seitenzahl: 672
Erscheinungsdatum: 2. April 2019
ISBN: 978-3492059398
Preis: 25,00 € (E-Book: 18,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

31. März 2019

Susanne Hasenstab: Irgendwo zwischen Liebe und Musterhaus

Der Titel dieses Romans lässt auf einen beliebigen Frauenroman schließen, die Farbgebung des Covers ist nicht mein Fall. Aber der Klappentext klang so, dass ich dachte, das Buch könnte trotzdem ganz amüsant werden, auch wenn es vermutlich etwas 08/15 sein würde. Großer Irrtum!


Also nicht, dass „Irgendwo zwischen Liebe und Musterhaus“ amüsant ist – das ist kein Irrtum, ich habe mich bestens amüsiert. Aber das Buch ist bei Weitem kein Frauenroman von der Stange, eher das Gegenteil, es liest sich sehr erfrischend. Die Autorin Susanne Hasenstab erfasst Menschen und ihre Schwächen und Verhaltensweisen ganz genau und proträtiert gnadenlos Typen, die man aus dem Alltag kennt. Das ist sehr witzig, manchmal auch böse, doch weil Hasenstabs Ich-Erzählerin Katja genügend eigene Probleme hat, bleibt sie trotzdem sympathisch. Katja ist zwar mit einem scharfen, sezierenden Blick auf ihre Umgebung ausgestattet, erhebt sich aber dabei nicht über andere. Die 31-jährige dümpelt als Teilzeitangestellte der Gratis-Zeitung ihres Heimatortes durchs Leben und weiß eigentlich nicht, was sie will. Im Gegensatz zu ihrem Umfeld: Langzeitfreund Jonas will ein Eigenheim und Familie, der Bürokollege Herr Böhmann jeden Mittag woanders essen gehen, Katjas Mutter will Enkel, Freundin Inga sucht nach irgendeiner Art von Erleuchtung und Borke, Lebensgefährte von letzterer, bereist zielstrebig „die Welt des Hochprozentigen“. Katja scheint die einzige zu sein, die keinen wirklichen Plan hat. Zwar ist ihr im Grunde ihres Herzens bewusst, was sie nicht will, aber: „Was bleibt, wenn ich die Optionen Haus, Heirat, Kinder und Karriere allesamt ausschlage?“ Zwischen Besichtigungsterminen, einer aus dem Ruder laufenden Geburtstagsfeier und zwei wirren Kleinkunstabenden bleibt allerdings kaum Zeit, dieser Frage nachzugehen. Doch manchmal schließen sich ja bekanntlich auch Türen, während sich andere dafür öffnen.
Susanne Hasenstab hat ein echtes Händchen für die Ausgestaltung absurder Situationen, in die jeder rutschen könnte. Ich hatte ganz unverhofft großen Spaß beim Lesen und werde mir den Namen dieser Autorin ganz sicher merken.

Verlag: Limes Verlag
Seitenzahl: 416
Erscheinungsdatum: 25. März 2019
ISBN: 978-3809027010
Preis: 20,00 € (E-Book: 13,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.