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30. April 2019

Beck Dorey-Stein: Good Morning, Mr. President!

Dieses Buch wollte ich allein schon wegen seines vielversprechenden Beginns lesen. Noch vor dem ersten Kapitel kommen die „Leitlinien für aufstrebende Stenographinnen“, und bereits diese sind ein Eyecatcher, denn nicht nur die deutsche Übersetzung, sondern auch das amerikanische Original ist im Jahr 2018 erschienen – gibt es heutzutage überhaupt noch Stenographinnen? Anscheinend schon, und sie haben wohl Regeln zu befolgen wie „Leise atmen oder gar nicht“ und „Leben, um zu tippen, nicht tippen, um zu leben“. Eine Seite weiter steht nur ein einziger Satz „Ich sollte keine Stenographin sein.“ Ich finde, dieser Einstieg macht große Lust auf die weitere Lektüre – vor allem, wenn man weiß, wo die Autorin als Stenographin gearbeitet hat …


Beck Dorey-Stein verrät bereits im Untertitel von „Good Morning, Mr. President!“ wo sie bis 2017 beruflich tätig war: „Meine Jahre mit Obama im Weißen Haus“. Zufällig bekommt sie 2011 als arbeitslose Mittzwanzigerin ebendort einen Job als Stenographin. Nach ihren eigenen Schilderungen ist sie damit das unterste Glied in der Nahrungskette der Präsidenten-Entourage, aber trotzdem – im Wechsel mit ihren Stenographen-Kollegen – immer vor Ort, wenn es Reden von Potus (dem President of the United States) mitzuschneiden gibt. Ob im Oval Office, in der Air Force One, auf Auslandsreisen, wenn Obama sich mit den Mächtigen dieser Welt trifft oder bei Trauerfeiern nach Terroranschlägen – Beck Dorey-Stein ist live vor Ort. Man kann sich gut vorstellen, dass ihr teils verfremdeter Bericht schon allein wegen dieses Blicks hinter die Kulissen in den USA zum Bestseller wurde. Abgesehen davon ist er auch eine kleine Hommage an Obama, die zumindest mich beim Lesen ganz wehmütig werden ließ. Aber auch wenn Potus immer wieder vorkommt, ist er doch nur eine Randfigur in Beck Dorey-Steins Memoiren. Ihr Buch dreht sich vor allem um ihr eigenes Leben im und außerhalb des „Zirkus“, um Selbstfindung und ihre Suche nach echten Freunden und wahrer Liebe.
Und insbesondere, was die Suche nach wahrer Liebe angeht, hat mich die Autorin wirklich verblüfft: Schonungslos berichtet sie, wie sie immer wieder hinfällt, sich hochrappelt, erneut hinfällt. Sie macht dabei keine wirklich gute Figur und einige Schilderungen hätte sie sich und ihren Lesern vielleicht ersparen sollen – manchmal hätte ich diese Frau schütteln mögen, die sich wider besseren Wissens immer und immer wieder mit dem falschen Typen einlässt! Zu kurz kamen mir dagegen vor allem anfangs ein paar politische Hintergründe: Wohin Beck mit der Air Force One fliegt, ist in der Regel unwichtiger als der Flug selbst, die Ausstattung des Flugzeugs wird oft detaillierter beschrieben als die Erlebnisse an den Reisezielen. Aber die Autorin sieht natürlich auch nicht viel von den Zielen bzw. macht in erster Linie einfach ihren Job, der sie an faszinierende Orte führt, aber an sich nicht unbedingt faszinierend ist. Doch im Laufe ihrer Stenographinnen-Jahre lernt sie mehr und mehr, den Kopf zu heben und hinzusehen. Und der Blick hinter die Kulissen ist sowieso spannend – auch wenn die ersten paar Seiten des Buches einen pointierteren Bericht erwarten lassen als den, der dann tatsächlich zu lesen ist.

Doch vielleicht gerade, weil „Good Morning, Mr. President“ doch nicht so witzig und überspitzt ist und gerade, weil die Autorin ihr desaströses Liebesleben vor dem Leser ausbreitet, wirkt sie komplett authentisch. Und auch ein bisschen, wie man sich das typische All-American Girl so vorstellt: Beck ist ein gutaussehender, sportlicher Kumpeltyp, der bestens in eine romantische Komödie mit allerlei Verwicklungen passen würde. Und wie die Heldinnen in solchen Filmen reift auch die Autorin während ihrer Jahre im Weißen Haus, sie findet wahre Freunde und weibliche role models, bekommt ein feines Gespür für den unterschiedlichen Umgang mit Macht und geht ihrer wahren Leidenschaft nach – dem Schreiben. Das Ergebnis ist dann schließlich ihr Buch, „Good Morning, Mr. President!“, das ich allen empfehlen kann, die am Blick hinter die Kulissen der Macht Spaß haben und ein gewisses Maß an Geduld mit der Autorin mitbringen, die mir als Leserin zwar ab und zu auf die Nerven gegangen ist, ihr Herz aber definitiv am rechten Fleck hat.

Verlag: Rowohlt
Seitenzahl: 480
Erscheinungsdatum: 20. November 2018
ISBN: 978-3499633522
Preis: 12,99 € (E-Book: 9,99 €)

23. April 2019

Raffaella Romagnolo: Bella Ciao

Die mir gänzlich unbekannte Netflix-Serie „Haus des Geldes“ hat das Lied „Bella Ciao“ zum offiziellen Sommerhit 2018 gemacht. „Bella Ciao“ war damit vermutlich der älteste Sommerhit aller Zeiten, denn das im letzten Jahr neu abgemischte Arbeiterlied hat eine über hundertjährige Geschichte. Bereits Anfang des 20. Jahrhunderts sangen es italienische Reispflückerinnen. Während des Zweiten Weltkriegs wurde es umgedichtet und entwickelte sich zur Hymne des Widerstands gegen den Faschismus, und in diesem Zusammenhang kam es auch in dem Roman vor, den ich als letztes gelesen habe.


Raffaella Romagnolo erwähnt das titelgebende Partisanenlied „Bella Ciao“ nur einmal namentlich in ihrem neuesten Buch, doch Partsianen gibt es dafür reichlich. Die Handlung spielt im Dorf Borgo di Dentro im ialienischen Piemont, in das die Amerikanerin Giulia Masca 1946 zurückkehrt, nachdem sie es 45 Jahre zuvor in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen hat. Giulia Masca stammt aus einfachsten Verhältnissen und hat schon als Kind in der örtlichen Seidenspinnerei gearbeitet. Wegen des Verrats einer Freundin hat sie die Heimat verlassen und in New York Glück und Wohlstand gefunden, während Europa erst vom Ersten und dann vom Zweiten Weltkrieg erschüttert wurde. Nun ist sie für eine Nacht zurückgekehrt und die Erinnerungen holen sie ein. Doch nicht nur Giulia Mascas Leben wird in Rückblicken berichtet – auch das ihrer Kindheitsfreundin Anita Leone, die Borgo die Dentro nie verlassen hat. Im Gegensatz zu Einzelkind Giulia wurde Anita in eine starke und nicht ganz so arme Großfamilie hineingeboren, die gepachtete Weinberge bewirtschaftet. Ihre Kindheit ist glücklicher als die ihrer Freundin, doch leicht hat sie es später nicht. Die Autorin schildert entbehrungsreiche, harte Arbeiterleben, die von Existenzängsten, Kriegen und Naturkatastrophen erschüttert werden, doch auch von Liebe, Zusammenhalt und Loyalität geprägt sind. Gleich an zwei Stellen hat Raffaella Romagnolo Stammbäume eingefügt, damit ihre Leser von den komplexen Beziehungsgeflechten nicht zu verwirrt sind. Ich musste nur manchmal darauf zurückgreifen: Die meisten Figuren sind gut greifbar und mit klaren Eigenheiten versehen, was es leichter macht, sich in den verschiedenen Familienverbünden einigermaßen zurechtzufinden.

„Bella Ciao“ ist nicht immer ganz einfach zu lesen. Nicht so sehr wegen der Fülle an Protagonisten, auch nicht wegen der immerhin fast ein halbes Jahrhundert umfassenden, umrissenen italienischen Geschichte: Was mir etwas zugesetzt hat, sind Beschreibungen von Elend und Leid. Als Leser zieht man mit den Figuren in Schlachten, die in den meisten Familiensagas nicht so detailliert beschrieben werden. Beim Lesen war ich mehr als einmal froh, 100 Jahre nach den Hauptfiguren geboren worden zu sein. Doch „Bella Ciao“ ist auch einer dieser Romane, die einem eine ganz neue, in meinem Fall unbekannte Welt eröffnen, die man nicht mehr vergisst. Die Autorin schreibt mit viel Einfühlungsvermögen und schafft so komplexe Entwicklungen, in denen Menschen über sich hinauswachsen und auch Gut und Böse nicht immer klar zu trennen sind. Ich empfehle, sich etwas Zeit für „Bella Ciao“ zu nehmen – es ist kein Buch, bei dem es reicht, jeden Abend vor dem Einschlafen ein paar Seiten zu lesen. Doch wem es möglich ist, sich von Raffaella Romagnolo nach Borgo di Dentro mitnehmen zu lassen, der wird mit einem intensiven Leseerlebnis belohnt und weder Giulia Masca noch die Familie Leone schnell vergessen können.

Verlag: Diogenes
Seitenzahl: 528
Erscheinungsdatum: 20. März 2019
ISBN: 978-3257070620
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

Ich habe dieses Buch als Leseexemplar erhalten.

Allen Lesern einen schönen Welttag des Buches!

19. März 2019

Marlene Fleißig: Bestimmt schön im Sommer

Anfangs gefiel mir das farbenfrohe, stimmungsvolle Cover dieses Buches sehr und auch der leicht melancholisch anmutende Titel sprach mich an. Auch nach der ersten Romanhälfte war ich noch guter Dinge. Vieles fand – und finde – ich recht gelungen: Den Ton der Geschichte, den sarkastischen Blick der in sich gekehrt wirkenden Hauptfigur, den Schreibstil der Autorin.


Marlene Fleißig scheint in ihrem Romandebüt „Bestimmt schön im Sommer“ verschiedene Fragmente zusammenzusetzen; es wirkt mitunter fast tagebuchartig aus der Sicht von Ich-Erzählerin Maria geschrieben. Maria springt von einer Anekdote zur nächsten, was kein Wunder ist, denn es kommen viele Erinnerungen hoch, als sie zum ersten Mal ihre Eltern in Galicien besucht, nachdem sie nach dem Tod ihrer Schwester Adela vor einigen Jahren regelrecht nach Deutschland geflüchtet ist. Fern von der Heimat hat sie sich einigermaßen eingerichtet, scheint jetzt jedoch an einem Wendepunkt zu stehen: Ihr Freund ist weg und mit ihm die meisten Möbel, einen ihrer beiden Jobs hat sie ebenfalls verloren. Geblieben ist ihr nur ein Hund mit chronischen Magenproblemen und ihre Freundin Eno, die jedoch vor allem mit sich selbst beschäftigt ist. Aber selbst sie drängt Maria, sich der Vergangenheit zu stellen, und irgendwann fährt diese auch tatsächlich nach Galicien, in einer Nacht- und Nebel-Aktion, die ihrer abschiedslosen Auswanderung vor ein paar Jahren fast ähnelt. Klar, dass sie innerlich in Aufruhr ist: Auf Erinnerungen an Deutschland folgen Erinnerungen an ihre Kindheit und die Beschreibung des Wiedersehens mit den Eltern. Zum Teil werden auch diese noch unterbrochen, von manchmal nur eine halbe Seite langen Kurzkapiteln, in denen die Hauptfigur etwas auflistet, ein vorsichtiges Gespräch mit ihrer Mutter in Gedanken transkribiert oder ein Telefonat mit Eno wörtlich wiedergibt. Stilistisch hat mir das sehr gefallen, denn obwohl Marias Beweggründe nie direkt geschildert werden, bekommt man doch einen Eindruck von ihrem Innenleben, ihrer Traurigkeit und nicht zuletzt von ihrem sarkastischen Humor.

Doch dieser Stil trägt leider nicht bis zum Ende des Buches. Dadurch, dass vieles anfangs nur angedeutet wird, man als Leser oft im Dunkeln tappt und sich die Geschehnisse nicht so recht erklären kann, erwartete ich während der zweiten Romanhälfte doch eine Art von Auflösung des Vergangenen und eine klare Perspektive für Marias Zukunft. Leider wird „Bestimmt schön im Sommer“ zum Ende hin eher verworren und es fällt schwer, sich die oft nur angedeutete Handlung zusammenzureimen – zumindest ich kam dabei zu keinem zufriedenstellenden Ergebnis. Vielleicht hätten ein paar weitere, deutlicher gehaltene Kapitel helfen können, die Kurve zu kriegen. So habe ich dieses Buch zwar in großen Teilen gerne gelesen, jedoch den Eindruck, dass mir der Zugang zu wichtigen Aspekten der Geschichte verwehrt wurde und sie mich nun ratloser zurücklässt, als ich erwartet habe. Auch das Cover erfüllt die Erwartungen an den Roman im Nachhinein nicht: Die fröhliche Urlaubsstimmung mit Meer scheint nach der Lektüre unpassend, ist doch im Meer Marias Schwester ertrunken. Und so wirkt „Bestimmt schön im Sommer“ trotz guter Ansätze letztlich einfach nicht ausgereift.

Verlag: hanserblau
Seitenzahl: 192
Erscheinungsdatum: 11. März 2019
ISBN: 978-3446261938
Preis: 14,00 € (E-Book: 10,99 €)

Ich habe dieses Buch als Rezensionsexemplar erhalten.

27. Februar 2019

Mark and Delia Owens: Cry of the Kalahari

Ein hochmotiviertes, amerikanisches Paar beschließt, nach dem Studium nach Afrika zu gehen. Die beiden jungen Zoologen haben das gemeinsame Ziel, zur Bewahrung noch nicht von der Zivilisation zerstörter Wildnis beizutragen. Sie entscheiden sich für Botswana als Wirkungsstätte und leben dort fast sieben Jahre lang die meiste Zeit in der völligen Abgeschiedenheit des Deception Valley im Central Kalahari Game Reserve – viele Autostunden entfernt von anderen Menschen, jeglichen Kommunikationsmitteln und vor allem: Wasser. Eine Autopanne kann genauso tödlich enden wie die gelegentlichen Besuche von Löwen, Hyänen und Leoparden im Zeltcamp der beiden. Dass Delia and Mark Owens vor allem die ersten Jahre ihrer Feldforschung überlebt haben, grenzt an ein Wunder.


„Cry of the Kalahari“ ist gewissermaßen ihr Vermächtnis für die Allgemeinheit und fasziniert von der ersten bis zur letzten Seite: Zunächst durch die widrigen Umstände, unter denen die Owens ihre Forschungen in lebensfeindlicher Umgebung aufnehmen, später durch die Schilderungen ihrer Beobachtungen von Schakalen, Wildhunden, Löwen und Braunen Hyänen. Die Autoren sind auf ihrem Gebiet Pioniere, haben sie doch als erste überhaupt das Verhalten der genannten Spezies in der Kalahari untersucht. Wer sich auch nur ein wenig für Tiere interessiert, wird aus dem Staunen nicht mehr herauskommen. Jede einzelne Seite zeugt von der Leidenschaft, mit der Delia und Mark Owens ihre Forschungen betrieben haben und von ihrem Bestreben, sich völlig an die Natur anzupassen, um das Leben der von ihnen beobachteten Tiere so wenig wie möglich durch ihre Anwesenheit zu verändern. Ihre Studienobjekte wachsen dabei nicht nur den Forschern ans Herz, sondern auch deren Lesern, lernen sie doch ihre Charakteristika kennen. Auch Hyänen können abenteuerlustig oder vorsichtig sein, auch Löwen nachlässig oder fürsorglich. Das Ehepaar Owens nimmt seine Leser mit in die Kalahari, nicht zuletzt, um für den Erhalt der Wildnis zu werben. Inzwischen ist „Cry of the Kalahari“ bereits 35 Jahre alt, wirkt jedoch kein bisschen antiquiert. Das Abenteuer bleibt miterlebbar.

Verlag: Mariner Books
Seitenzahl: 342
Erscheinungsdatum: 15. Oktober 1992 (dieser Ausgabe; Erstveröffentlichung des Buches war 1984)
ISBN: 978-0395647806
Preis: 16,50 € (E-Book: 7,99 €)

11. Januar 2019

Laetitia Colombani: Der Zopf

Das folgende Buch wollte ich unbedingt lesen und wurde anfangs trotzdem nicht mit ihm warm. Ich begann es und legte es wieder weg, dann kamen mir ein, zwei andere Bücher dazwischen. Letztendlich ließ mich dieser „Fehlstart“ immer mehr zögern, weiterzulesen, was der Roman nun wirklich nicht verdient hat. Denn er ist gut! Aber nachdem ich mir nun doch ein Herz gefasst und ihn inzwischen beendet habe, kann ich auch in Worte fassen, was mich gestört hat. Und warum das Buch dennoch lesenswert ist.


„Der Zopf“ hat einen schlichten Titel und ein in seiner Farbgestaltung edel wirkendes Cover. Der Debütroman der Französin Laetitia Colombani gibt einen kleinen Einblick in die Leben von drei Frauen, die auf den ersten Blick nichts zu verbinden scheint: Die Inderin Smita gehört zu den unberührbaren Dalits und führt wie ihre Vorfahren ein Leben in totaler Armut. Sarah in Montreal ist eine erfolgreiche Anwältin und Giulia auf Sizilien arbeitet in der Perückenmacherei ihres Vaters. Eigentlich scheinen sich Smita, Sarah und Giulia auf vorgezeichneten Wegen zu befinden, doch dann passiert etwas. Die als gegeben angenommene Ordnung in ihren Leben wird erschüttert und plötzlich müssen bzw. wollen sie etwas verändern. Als Leser begleitet man alle drei dabei, einzelne Kapitel zu jeder der Frauen wechseln sich ab. Diese sind kurz, „Der Zopf“ umfasst keine 300 Seiten und so entwickelt sich die Handlung nicht behutsam, sondern Schlag auf Schlag. Gefühlt bin ich nur so durch das Buch geflogen – und hatte trotzdem Probleme, am Ball zu bleiben, denn die Welten von Smita, Sarah und Giulia weisen keinerlei Gemeinsamkeiten auf und es hat mich gestört, immer schon nach ein paar Seiten wieder herausgerissen und auf einen anderen Kontinent versetzt zu werden. Trotzdem sind diese schnellen, brutalen Wechsel auch eine große Stärke des Romans: Durch die Nebeneinanderstellung der drei Leben wird deutlich, wie verschieden die Lebensbedingungen auch Anfang des 21. Jahrhunderts noch sind. Giulias Alltag auf Sizilien wirkt in Teilen so behütet und traditionell, dass es mich richtiggehend irritierte, als sie plötzlich etwas im Internet recherchierte – bis dahin kam er mir eher wie vor dessen Erfindung angesiedelt vor. Smitas Lebenstraum ist, dass ihre Tochter lesen und schreiben lernen soll, um nicht wie sie und die restliche Familie als Analphabetin zu enden – man wünscht sich, ihre Geschichte würde in einer längst überwundenen Zeit spielen, aber nein, auch das ist Gegenwart. Bei Sarah, der 40-jährigen Kanadierin, kommt man dagegen nicht in die Verlegenheit, sie gedanklich einer anderen Zeit zuordnen zu wollen: Diese Protagonistin ist die Verkörperung einer modernen Frau in einem Industrieland, hat sie doch in einer renommierten Anwaltskanzlei die gläserne Decke durchstoßen und scheint auf der Zielgeraden, die erste weibliche Partnerin zu werden. Dass sie jedoch bereits zwei gescheiterte Ehen hinter sich und einen Tagesvater für ihre drei Kinder engagiert hat, kam mir doch etwas klischeehaft vor.

Es ist der rote Faden des Romans und eine schöne Idee, dass diese Frauen, die sich – so viel kann verraten werden – nie begegnen, dennoch etwas verbindet. Allerdings hätte ich mir etwas mehr Ausgestaltung gewünscht. „Der Zopf“ liest sich intensiv, Autorin Colombani hätte den Einzelschicksalen aber durchaus noch mehr Raum geben können. So wird sie dem Potential ihres Romans in meinen Augen nicht ganz gerecht. Doch vielleicht hatte sie beim Schreiben auch bereits ein anderes Medium im Sinn: Laetitia Colombani ist Schauspielerin und Regisseurin. Verfilmt kann ich mir diesen inhaltlich verknappten Roman bestens vorstellen und bin gespannt – die Rechte sind bereits vergeben, es ist also davon auszugehen, dass „Der Zopf“ auch irgendwann ins Kino kommt.

Verlag: S. Fischer
Seitenzahl: 288
Erscheinungsdatum: 21. März 2018
ISBN: 978-3103973518
Preis: 20,00 € (E-Book: 16,99 €)

8. Dezember 2018

Care Santos: Als das Leben vor uns lag

Dieses Buch handelt von fünf Freundinnen, aber eigentlich ist es kein Buch über Freundschaft, sondern eines über zwischenmenschliche Beziehungen aller Art, den Umgang mit Veränderungen, über Mut und Emanzipation und das Spanien in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ganz schön viele Themen, von denen einige mehr angerissen als auserzählt werden. Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde der Buchcommunity "Lesejury" gerne gelesen.


Man sieht sich bekanntermaßen immer zweimal im Leben, und das erste Mal war in diesem Fall "Als das Leben vor uns lag". Mit "uns" sind die Protagonistinnen des Romans gemeint, die ehemaligen Internatsschülerinnen Olga, Marta, Lolita, Nina und Julia, die das letzte Mal im Alter von ca. 14 Jahren zusammensaßen. Es war der Abschiedsabend, bevor die Zwillinge Olga und Marta das Internat verließen. Doch an diesem Abend ist etwas geschehen, das Leben von einem der Mädchen nahm eine unumkehrbare Wendung. Inzwischen sind die früheren Freundinnen Mitte 40, eine von ihnen initiiert ein Wiedersehen und alle sagen zu. Doch sind sie auch alle so glücklich und erfolgreich, wie es auf den ersten Blick den Anschein hat?

Die spanisch-katalanische Autorin Care Santos hat einen in Barcelona angesiedelten Roman geschrieben, dessen Haupthandlung an zwei Abenden stattfindet – in den Jahren 1950 und 1981. In der Zwischenzeit hat sich natürlich viel getan – im Leben der Protagonistinnen wie auch in der spanischen Politik. Das Land ist ein anderes, aus den fünf Mädchen von damals sind gestandene Frauen geworden, die einiges erlebt haben. Eine von ihnen stellt fest: „Das Leben ist immer riskant, wie ein reißender Strom. Es gibt Menschen, die glücklich und zufrieden am Ufer entlanggehen und die Verwüstungen im Leben der anderen betrachten, und es gibt andere, die ins Wasser fallen und von der Strömung mitgerissen werden. Manche kommen nicht heil raus. Andere […] können sich an irgendetwas festhalten oder an irgendjemandem.“ Am beschriebenen Abend des Jahres 1981 kommt nach und nach ans Licht, zu welcher Kategorie jede der einzelnen Frauen gehört. Und schließlich wird auch über die Katastrophe des Jahres 1950 gesprochen, die vier von ihnen relativ gut verdrängt hatten.

Die Autorin schafft es, jeder ihrer fünf Protagonistinnen gerecht zu werden. Sie hat sehr unterschiedliche Charaktere erschaffen, von denen keiner ins Klischee abrutscht. Anhand der von den Frauen berichteten Erlebnisse lässt sich der Wandel Spaniens miterleben wie auch ein Stück weibliche Emanzipationsgeschichte. Gleichzeitig wartet Care Santos mit einigen überraschenden Wendungen auf. Herausgekommen ist ein kurzweiliger Roman über Beziehungen, Vergebung und die verschiedenen Arten von Liebe. Und die tröstliche Erkenntnis, dass das Leben zwar nicht mehr komplett vor den Frauen liegt, aber auch mit Mitte 40 noch voller neuer Möglichkeiten sein kann.

Verlag: Bastei Lübbe
Seitenzahl: 384
Erscheinungsdatum: 30. November 2018
ISBN: 978-3404177516
Preis: 10,00 € (E-Book: 8,99 €)

9. September 2018

Isabel Allende: Ein unvergänglicher Sommer

Praktisch jeder, dem ich in den letzten Tagen erzählte, dass ich gerade das neue Buch von Isabel Allende lese, verband diesen Namen mit ihrem vor 36 Jahren erschienen Debüt "Das Geisterhaus". Ihr erster und ihr neuester Roman haben (wie vielleicht sogar alle Bücher von Allende?) einiges gemein: Sie handeln von starken Frauen, sind spirituell angehaucht, spielen zumindest teilweise in Lateinamerika und wurden an einem 8. Januar begonnen. Isabel Allende beginnt zwar nicht jährlich, aber nie an einem anderen Datum mit einem neuen Roman. Was für eine ungewöhnliche Tradition!


Ich hatte noch nie zuvor ein Buch von Isabel Allende gelesen, obwohl sich "Das Geisterhaus" sogar in meinem Romanregal findet. Schon die Ausgangssituation von „Ein unvergänglicher Sommer“ zog mich aber gleich in ihren Bann. Eine eiskalte Winternacht in New York bringt drei höchst unterschiedliche Personen zusammen: Den Universitätsprofessor Richard, seine chilenische Untermieterin Lucia und die Guatemaltekin Evelyn, die sich illegal in den USA aufhält. Eine der drei genannten Figuren hat im wahrsten Sinne des Wortes eine Leiche im Kofferraum, die diese neugebildete Schicksalsgemeinschaft notgedrungen zusammen loswerden will. Ein Roadtrip beginnt – kurz nach einem Jahrhundertschneesturm. Und wird das Leben von Richard, Lucia und Evelyn für immer verändern.

Anfangs war ich irritiert, dass mich die Autorin wiederholt aus diesem Roadtrip herausriss. Kapitelweise widmet sie sich immer wieder der Vergangenheit ihrer Protagonisten, die schließlich mehr Raum einnimmt als die eigentliche Geschichte in der Romangegenwart. Von dieser wird man als Leser schon sehr weit weggeführt, wenn man sich z.B. in Evelyns Kindheit vertieft. Sie wächst in extrem ärmlichen Verhältnissen bei ihrer Großmutter auf, einer starken und liebevollen Frau, doch als ihr ältester Bruder sich einer Gang anschließt, brechen sich entsetzliche Ereignisse Bahn. Evelyn als jüngste der drei Hauptfiguren hat schon so viel erlebt, dass es für einen eigenen Roman gereicht hätte und so ist es dann auch ein langer Weg, bis ihre Vergangenheit schließlich mit der Gegenwart zusammengeführt wird. Gleiches gilt für die anderen beiden Protagonisten: Auch ihr bewegtes Leben wird detailliert erzählt. Allende ist eine wahre Meisterin der Beschreibung menschlicher Schicksale, doch an manchen Stellen war mir die Häufung persönlicher Unglücksfälle dann doch zu viel und schien mir auch etwas übertrieben – der Verzicht auf ein, zwei Schicksalsschläge hätte dem Buch vielleicht noch besser getan. Stellenweise kam mir „Ein unvergänglicher Sommer“ überladen vor, aber das gab sich im letzten Buchdrittel, in dem sich alles federleicht zusammenfügt. Die Autorin versteht ihr Handwerk, auch die Sprache des Romans ist durchgängig schön und bei ihrer Schilderung der Romangegenwart hat sie sich außerdem noch einen feinen Humor erlaubt, der dem Buch immer wieder die Schwere nimmt. Allende schafft es, ihre Leser gleich in mehrere Welten zu entführen, die auch noch völlig unterschiedlich sind. Sie legt dabei ihren eigenen Spannungsbogen immer wieder brach, weswegen ich mich gelegentlich zum Weiterlesen aufraffen musste, doch insgesamt hat mir dieser vielschichtige und dramatische Roman gefallen.

Verlag: Suhrkamp
Seitenzahl: 350
Erscheinungsdatum: 13. August 2018
ISBN: 978-3518428306
Preis: 24,00 € (E-Book: 20,99 €)

26. Juli 2018

Christopher Wilson: Guten Morgen, Genosse Elefant

Nachdem insbesondere der letzte Roman, den ich gelesen hatte, schwere Kost war, hatte ich das Bedürfnis, mich als nächstes in etwas Leichteres zu vertiefen. Auf den zweiten Blick wäre das nachfolgende Buch vermutlich ungeeignet gewesen - handelt es doch bei genauerer Betrachtung vom blutigen Ende der stalinistischen Ära. Auf den ersten Blick erkennt man jedoch bereits am Cover, dass es (auch) in die Kategorie Humor fällt und die salopp-lustige Sprache verführte mich sofort zum Weiterlesen.


So nah wie in „Guten Morgen, Genosse Elefant“ kommt man Ich-Erzählern selten, dieser hier spricht einen sogar immer wieder an. Im Jahr der Romanhandlung, 1953, ist Juri Zipit zwölfeinhalb Jahre alt. Er ist ein äußerst ungewöhnlicher Zwölfjähriger, was nicht zuletzt daran liegt, dass er mit sechs Jahren von einem Milchwagen angefahren wurde und vor eine Straßenbahn fiel, die ihn dann noch überfuhr. Sein Gehirn hat dabei leichten Schaden genommen, unter anderem leidet der Protagonist an mit Furchtlosigkeit gepaarter Impulsivität und sagt eigentlich immer, was ihm gerade in den Sinn kommt – nicht die beste Überlebensstrategie im Russland der 1950er Jahre. Beim Unfall keinen Schaden genommen hat hingegen Juris Gesicht, dass anscheinend reine Herzenswärme ausstrahlt und andere Menschen dazu bringt, Juri ihre Geheimnisse anzuvertrauen – worauf dieser allerdings gut verzichten könnte.
Unser ungewöhnlicher Romanheld lebt im Moskauer Zoo, da sein Vater dort der Chefveterinär ist. Und als solcher wird der Tierarzt eines nachts zu Genossen Elefant gerufen – womit allerdings kein Dickhäuter im Zoo gemeint ist. Sein neuer Patient, den einer seiner Minister als elefantenähnlich, nämlich „überaus mächtig, sehr weise und auch sehr freundlich, falls er nicht gerade sehr wütend wird“ beschreibt, entpuppt sich als Stalin höchstpersönlich. Der Diktator hat gerade einen leichten Schlaganfall hinter sich, will davon aber nichts hören. Juris Vater fällt durch seine Diagnose sogleich in Ungnade – aber Juri, mit seinem Engelsgesicht, wird als neuester Vorkoster des „Gärtners des menschlichen Glücks“ auserwählt. Der sogenannte Stählerne leidet nämlich unter der Angst, vergiftet zu werden – und diese ist nicht unberechtigt, hoffen doch eine Menge Menschen auf das Ableben des „Architekten der Freude“ …

Was ist „Guten Morgen, Genosse Elefant“ nun für ein Buch? Komödie, Satire? Ein historischer Roman? Ein Schlüsselroman? Von allem etwas, würde ich sagen. Juri versichert seinen Lesern: „Das was ich erzähle, ist alles wahr. Absolut, komplett, total wahr. Fast. Bis auf die paar Kleinigkeiten, die ich ändere. Ändern muss. Aber nur, was Zeiten angeht. Orte, Namen und Ereignisse.“
Unser Erzähler nimmt sich also die größte schriftstellerische Freiheit überhaupt heraus – und doch reicht es, sich auf Wikipedia das Kapitel zu Stalins letzten Wochen durchzulesen um große Parallelen zu erkennen, Namen zu entschlüsseln etc.

Worin Autor Christopher Wilson allerdings das größte Geschick beweist, ist die Darstellung des Schrecklichen durch die Augen eines Kindes, dem Angst und Verzweiflung krankheitsbedingt fremd sind. Er lässt seinen Juri dessen Beobachtungen auf solch eine kurios-komische Art und Weise schildern, dass sich selbst das Furchtbarste erträglich lesen lässt. Und trotzdem bleibt klar, dass es das Furchtbarste ist, dass Juri in seiner Sonderstellung nur der Hofnarr ist, der das für jeden anderen Unerträgliche erträglich darstellt. Und so liest sich der Roman locker-flockig, ohne eine seichte Lektüre zu sein. Je mehr man über die stalinistische Ära weiß, desto mehr kann man dabei vermutlich rauslesen. „Guten Morgen, Genosse Elefant“ hat eine größere Tiefe, als der erste Blick enthüllt. Der enthaltene Humor ist quasi der Zucker im Kuchen, er macht die Bitternis des Ganzen durchgängig bittersüß.

Gerne hätte ich noch herausgefunden, wie Christopher Wilson auf die Idee kam, dieses Buch zu schreiben. Er scheint Engländer zu sein, hat die Psychologie des Humors ergründet und kreatives Schreiben unterrichtet. Vielleicht wollte er mit seinem Roman demonstrieren, wie Humor alles erträglicher gestalten kann. In jedem Fall hat er mit Juri einen Helden geschaffen, den seine Leser sofort ins Herz schließen und so schnell nicht wieder vergessen werden.

Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 16. August 2018
ISBN: 978-3462050769
Preis: 19,00 € (E-Book: 16,99 €)

12. Juni 2018

Hala Alyan: Häuser aus Sand

Hier ein weiteres Buch aus der Serie "Cover, deren Schönheit beim E-Book so gar nicht rauskommt". Trotzdem sei lobend erwähnt, dass gerade der DuMont Verlag oft wunderschöne Cover für seine Romane gestalten lässt. Ich hatte letzte Woche die Printausgabe von "Was man von hier aus sehen kann" in den Händen und fand auch diese optisch sehr gelungen. Ansonsten haben die beiden Bücher aber nichts gemein, außer dass ich sie beide sehr gerne gelesen habe.


In „Häuser aus Sand“ begleitet der Leser Palästinenserin Alia durch fünf Jahrzehnte: 1963 steht sie kurz vor ihrer Hochzeit mit ihrer Jugendliebe Atef, 2014 ist sie eine alte Frau, die ein ruheloses Leben hinter sich hat. Alia hat ihre frühe Kindheit in Jaffa verbracht, in Nablus die Zeit bis zu ihrem ersten Ehejahr, ihre Kinder sind in Kuweit zur Welt gekommen und als diese aus dem Haus waren, ist sie nach Amman gezogen. Alle Umzüge eint, dass diese nicht freiwillig geschahen, sondern aus Flucht oder Vertreibung resultierten. Und so scheint Alia immer nur in vergänglichen „Häusern aus Sand“ gewohnt zu haben – eine Beduinin wider Willen. Auch wenn sie sich nirgends mehr so heimisch fühlte wie in Nablus, ist ihr Leben erfüllt. Der Leser erlebt es auszugsweise mit – mal aus Alias Sicht, mal aus der verschiedener Familienmitglieder. Mit jedem neuen Kapitel wechselt die Perspektive, gleichzeitig gibt es einen Zeitsprung, mal um ein Jahr, mal um zehn. So entfaltet sich nach und nach eine komplexe Familiengeschichte, in der geliebt, gestritten und getrauert wird. Kinder werden erwachsen, Menschen kommen sich näher und entfernen sich voneinander, hadern oder schließen Frieden mit sich selbst. Autorin Alyan hat ein kunstvolles Gefüge geschaffen und macht das Leben der Familie Yacoub quasi im Zeitraffer erfahrbar. Vor meinem inneren Auge entstanden dabei Bilder von Orten, die ich bislang höchstens aus den Nachrichten kannte. Nun rieche ich beim Gedanken an Jaffa schon fast den Duft sonnengereifter Orangen und kann mir die sengende Hitze in Kuweit so ansatzweise vorstellen wie das quirlige Großstadtleben in Beirut.

Auch wenn Alia und ihre Familie immer wieder umziehen müssen, handelt „Häuser aus Sand“ längst nicht nur von räumlichen Veränderungen. Es geht auch um Generationskonflikte, den Bruch mit Traditionen und die Rückbesinnung auf Werte. Schon Alias Kinder entwickeln sich so unterschiedlich, dass sie selbst nur staunen kann. Der Verlust von Traditionen, Ritualen und auch Bindungen scheint durch die häufigen Ortswechsel begünstigt. Doch auch wenn die einzelnen Familienmitglieder zum Teil über tausende Kilometer verstreut voneinander leben, wenn sie im Alltag kaum mehr arabisch sprechen und ihr gegenwärtiges Leben keinerlei Rückschlüsse auf ihre eigentlichen Wurzeln mehr zulässt, muss das laut Alyan nicht den kompletten Heimatverlust bedeuten. Denn Heimat ist nicht zwangsweise an einen Ort gebunden, auch Familie kann Heimat sein, so unähnlich sich ihre Mitglieder auch sein mögen. So der Tenor von „Häuser aus Sand“ - und das ist nur einer der tröstlichen Gedanken, die ich aus diesem sprachlich schönen und inhaltlich nachdenklich machenden Roman mitgenommen habe.

Verlag: DuMont Buchverlag
Seitenzahl: 396
Erscheinungsdatum: 18. Juni 2018
ISBN: 978-3832198558
Preis: 24,00 € (E-Book: 19,99 €)

30. April 2018

Trevor Noah: Born a crime

Diese autobiographischen Geschichten haben meinen Südafrika-Urlaub sehr bereichert und mir Einblicke in das Land gegeben, die mir sonst weder in Kapstadt, Johannesburg noch auf der Garden Route vermittelt wurden. Sie wurden nicht im eigentlichen "Romanregal" fotografiert, weil ich sie gar nicht mehr nach Hause mitgenommen, sondern gleich nach der Lektüre weiter verliehen habe. Manchmal muss man Prioritäten setzen!


Der deutsche Titel dieses grandiosen Buches ist „Farbenblind“. Warum, hat sich mir nicht erschlossen, denn die Gesellschaft, in die der Südafrikaner Trevor Noah 1984 hineingeboren wird, ist nicht „farbenblind“, sondern zutiefst farbenfixiert, was er von klein auf zu spüren bekommt. Trevor Noahs Hautfarbe belegt ab dem Tag seiner Geburt, dass gegen „Immorality Act No. 5“ der Apartheidsgesetze verstoßen wurde: Er ist farbig – obwohl er eine schwarze Mutter hat. Was nur bedeuten kann, dass sein Vater weiß ist, und dass er und Trevors Mutter den genannten Paragraphen missachtet haben, der Menschen mit unterschiedlichen Hautfarben sexuelle Beziehungen untersagt und Verstöße mit bis zu fünf Jahren Gefängnis ahndet. Vor diesem Hintergrund erklärt sich der Titel der englischen Ausgabe auf einen Blick: „Born a crime“. Was für ein Start ins Leben – ein Leben, in dem der weiße Vater in der Öffentlichkeit panisch die Flucht vor seinem „Daddy“ rufenden Kleinkind ergreift, die Mutter zum Spaziergang im Park gerne eine farbige Freundin mitnimmt und die schwarze Großmutter den Enkel in ihrer Hütte versteckt hält, wenn er sie in Soweto besucht. Trevor Noah ist mit einer besonderen Sensibilität in Bezug auf Hautfarben aufgewachsen – gezwungenermaßen. Er konnte sich die hier gemeinte „Farbenblindheit“ nicht leisten.

In seinen autobiographischen Rückblicken lässt er den Leser an seiner Kindheit und Jugend in Johannesburg teilhaben. Mit fantastischer Leichtigkeit schildert Noah, was es für ihn als farbiges Kind bedeutet hat, im Apartheids- und Postapartheids-gebeutelten Südafrika aufzuwachsen. Bereits auf den ersten Seiten schafft er es mühelos, auch seine ausländischen Leser in diese zutiefst rassistische Welt mitzunehmen und ihren Horizont zu erweitern.
Ich habe Trevor Noahs „Born a crime“ als Geschenk empfunden. Der Autor ist nur zwei Jahre jünger als ich. Er ist unter Bedingungen aufgewachsen, die mir kaum fremder sein könnten und schafft es trotzdem, seine damaligen Lebensumstände gleichsam unterhaltsam und nachvollziehbar zu schildern. Er nimmt seine Leser an die Hand und erklärt, worauf ein nicht-südafrikanischer Leser vermutlich nicht kommt: Wieso bleiben Menschen freiwillig in Townships wohnen? Wieso kam es vor, dass schwarze Mütter ihre Söhne „Hitler“ nannten? Wieso hatten Gebetskreise in Soweto die Hoffnung, dass Gott ein farbiges Kindes eher erhören würde als schwarze Frauen?

Trevor Noah musste von klein auf lernen, was es heißt, anders zu sein, wuchs er doch in einem Land auf, dass Menschen ausschließlich über ihre Hautfarbe und Stammesangehörigkeit definierte. Er lernte nach und nach, sich wie ein Chamäleon an seine Umgebung anzupassen – sein Schlüssel war dabei die Sprache, er beherrschte neben Englisch noch isiXhosa, isiZulu und andere und verblüffte damit, dass er sich so nicht in die Schublade sortieren ließ, in die der typische Farbige gesteckt wurde. Meine naive Vorstellung war ja, dass sich das Thema Hautfarbe mit dem Ende der Apartheid in Südafrika zu größeren Teilen erledigt hätte, doch diese wurde schnell ausgeräumt.

Eine Freundin, die das Buch auf Deutsch angelesen hat, äußerte sich mir gegenüber enttäuscht über die Einfachheit der Sprache. Bei meiner Lektüre auf Englisch ist mir nicht aufgefallen, dass Noahs Stil in irgendeiner Art und Weise schlicht wäre. Ich kenne die Übersetzung jedoch nicht und bin im Englischen sicher nicht so sprachsensibel wie im Deutschen. Es ist klar, dass Trevor Noah kein Literat ist – das ist nicht sein Metier. Der Südafrikaner ist ein höchst erfolgreicher Comedian, der seit 2015 als Nachfolger von Jon Stewart die Late-Night-Show „The Daily Show“ in den USA moderiert. Er ist Unterhalter und hat ein höchst unterhaltsames und trotzdem sehr reflektiertes Buch geschrieben – angesichts des Inhalts ist das in meinen Augen eine große Leistung.

„Born a crime“ vermittelt dem Leser eine leise Ahnung davon, was Apartheid für die Betroffenen wirklich bedeutet hat - und was in Südafrika bis heute im Argen liegt. Es verdeutlicht, warum "Farbenblindheit" bis heute ein frommer Traum ist und ist trotzdem nicht verbittert, sondern feiert das Leben. Ich kann es nur empfehlen.

Verlag: Spiegel & Grau
Seitenzahl: 304
Erscheinungsdatum: 19. September 2017 (Hardcover: 15. November 2016)
ISBN: 978-0525509028
Preis: aktuell 7,99 € (E-Book: 4,49 €)

Ist am 6. März 2017 auf Deutsch beim Karl Blessing Verlag unter dem Titel "Farbenblind" erschienen. Preis: 19,99 € (E-Book: 15,99 €).

18. März 2018

Bianca Marais: Summ, wenn du das Lied nicht kennst

Das folgende Buch wollte ich unbedingt lesen. Das Cover sprach mich zwar gar nicht an (es zieren filigran gezeichnete Vögeln und Pflanzen, in der gedruckten Ausgabe ist es außerdem rosafarben), der Inhalt aber um so mehr.


16.06.1976 – Schicksalstag in Südafrika. Im Township Soweto beginnt ein beispielloser Schüleraufstand gegen das rassistische Bildungssystem sowie das Apartheidsregime an sich. Die Polizei geht mit brutaler Gewalt gegen die größtenteils minderjährigen Demonstranten vor, viele sterben. Mittendrin im Geschehen ist die 49-jährige Beauty Mbali, eine der beiden Hauptfiguren im Roman „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“. Sie demonstriert nicht, sie sucht – ihre 17-jährige Tochter Nomsa, die seit sieben Monaten bei der Familie von Beautys Bruder wohnt, um in Soweto eine höhere Bildung zu erlangen, als es ihr an den Schulen in ihrem Homeland möglich wäre. Beauty kann Nomsa in den Unruhen nicht finden, auch in den Tagen, Wochen, Monaten danach bleibt das Mädchen verschwunden. Doch Beauty gibt ihre Tochter nicht auf.

Auch für die neunjährige Robin ist der 16.06.1976 ein Schicksalstag. Das kleine weiße Mädchen wohnt in der Minenstadt Boksburg, 50 km von Soweto entfernt, und bekommt dort nur wenig von den Unruhen in Soweto mit. Auch ihre Eltern gehen abends unbesorgt zu einer Einladung – werden auf dem Weg dorthin jedoch von Schwarzen ermordet. Von einem auf dem anderen Tag Vollwaise, bleibt Robin nur noch ihre alleinstehende Tante Edith, die Stewardess und mit ihrer plötzlichen Vormundschaft für ein Kind heillos überfordert ist. Schließlich kreuzen sich ihre und Beautys Wege.

Die südafrikanische Autorin Bianca Marais, selbst erst 1976 geboren, schildert die Auswirkungen der Apartheid in „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ aus verschiedensten Perspektiven, was ich als wirklich gelungen empfunden habe. Zunächst einmal werden unterschiedliche Ausprägungen von Rassismus gezeigt: Bösartig, gedankenlos, gewohnheitsmäßig. An Robins Beispiel wird deutlich, was es mit einem Kind macht, wenn es in der Überzeugung aufwächst, es sei aufgrund seiner Hautfarbe anderen Menschen grundsätzlich überlegen. Durch Randbemerkungen von Beauty und anderen schwarzen Protagonisten zeigt sich, wie sich die Apartheid auf alle Lebensbereiche auswirkte: Toiletten für Weiße benutzen? Verboten. Ohne Genehmigung außerhalb des eigenen Homelands unterwegs sein? Verboten. Am Strand spazieren oder im Meer baden? Verboten, auch das ist den Weißen vorbehalten. Paradoxerweise, denn wie lässt Marais ihre Protagonistin Beauty denken: „Ich habe keine Ahnung, warum sie stundenlang in der Sonne braten, um braun zu werden, wo sie unsere Hautfarbe doch so abstoßend finden.“

Doch es gibt auch Weiße, die Beauty helfen. Menschen, denen man ihre guten Absichten vielleicht erst auf den zweiten Blick ansieht. Außenseiter mit gutem Herzen. Der Roman handelt viel von Schwarz und Weiß, ist aber nicht schwarzweiß, was mir sehr gefallen hat.

Allerdings wurde mir „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ irgendwann zu überladen. Nach dem Verlust ihrer Eltern macht Robin eine Wandlung durch, in deren Verlauf sie erkennt, dass die Welt nicht untergeht, wenn sie und eine Schwarze das gleiche Geschirr und Badezimmer benutzen. Eine so begrüßenswerte wie nachvollziehbare Erkenntnis. Dass dieses verlorene, verstörte Mädchen aber schließlich in einer „Shebeen“, einer illegal betriebenen Kneipe in Soweto, eine flammende Rede darüber hält, dass sie hofft, dass Nelson Mandela eines Tages das Land regieren und die Nation heilen wird, so dass sie alle als Gleiche zusammenleben können – das war mir entschieden zu viel der Wandlung und weiser Vorhersehung. Das Kind wächst in einem Maße über sich hinaus, das mir fast märchenhaft erschien. Auch sonst war der Roman an einigen Stellen einfach zu schön, um wahr zu sein. Sowohl Robin als auch Beauty lernen im Verlauf des Buches, „dass einem Freunde an den seltsamsten Orten und in völlig unerwarteter Gestalt begegnen können“. Aber dass Robins neuer Freundeskreis aus einem jüdischen Jungen, einem homosexuellen Paar, weißen Widerständlern und einem Farbigen besteht, kam mir doch arg konstruiert vor; sämtliche diskriminierte Minderheiten schienen vertreten. Hier hat es Autorin Marais für meinen Geschmack einfach übertrieben – sicher aus ehrenwerten Motiven, aber zu Lasten der Glaubwürdigkeit.

Trotzdem ist „Summ, wenn du das Lied nicht kennst“ ein empfehlens- und lesenswerter Roman, der das Südafrika der 1970er Jahre auf viele verschiedene Arten illustriert. Mir hat er es emotional nähergebracht, als es ein Sachbuch, eine Ausstellung oder eine Fernsehdokumentation gekonnt hätten. Dies ist ein Verdienst des Buches. Am Ende deutet Hauptfigur Robin an, dass es eventuell eine Fortsetzung gibt, die ich mir aufgrund des offenen Endes sehr gut vorstellen könnte – und auf jeden Fall lesen würde.

Verlag: Wunderraum
Seitenzahl: 512
Erscheinungsdatum: 12. März 2018
ISBN: 978-3336547944
Preis: 23,00 € (E-Book: 15,99 €)

7. März 2018

Torsten Seifert: Wer ist B. Traven?

Den folgenden Roman habe ich beim Literaturportal Lovelybooks gewonnen. Er wurde mit "Für Fans des Schwarzweißkinos" beworben. Wenn sich die Gelegenheit zufällig bietet, schaue ich vielleicht mal einen alten Heinz Erhart-Film oder "Drei Männer im Schnee", hier war allerdings ein weniger lustiges Schwarzweißfilm-Genre gemeint. Trotzdem war das nicht der Hauptgrund, dass ich mit dem Roman nicht komplett warm wurde.


Wer ist B. Traven? Wer sich diese Frage noch nie gestellt hat, dem seien hier in aller Kürze die Fakten genannt: B. Traven war ein höchst erfolgreicher Autor, dessen Romane und Erzählungen größtenteils in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erschienen. Man geht davon aus, dass er in Mexiko lebte, dem Handlungsort seiner meisten Werke. Wer B. Traven jedoch wirklich war, ist bis heute nicht hundertprozentig erwiesen. Es existieren keine Fotos vom Autor, er trat nirgends in Erscheinung und verheimlichte sowohl seinen Werdegang als auch Aufenthaltsort. B. Traven war ein Phantom – ein bestsellerschreibendes Phantom, was insbesondere den Medien keine Ruhe ließ.
Der Roman „Wer ist B. Traven?“ beginnt damit, dass das amerikanische Life-Magazin im Jahr 1947 eine Art Kopfgeld auf B. Traven aussetzt – die Identität des Bestsellerautors soll um jeden Preis gelüftet werden. Der junge Journalist Leon Borenstein wird von seinem Chef beauftragt, das Geheimnis zu enthüllen und reist zur Verfilmung des Traven-Romans „Der Schatz der Sierra Madre“ nach Mexiko, unter dem Vorwand, Hauptdarsteller Humphrey Bogart interviewen zu wollen. Ihm wird zwar erzählt, dass bereits drei andere Reporter auf B. Traven angesetzt waren, die alle unter mehr oder minder mysteriösen Umständen außer Gefecht gesetzt wurden – doch dem misst er erst einmal keine Bedeutung bei und macht sich auf die Reise. Doch bald muss auch Leon Borenstein am eigenen Leib erfahren, dass B. Traven nicht so einfach zu fassen ist …

Dem Autor Torsten Seifert gelingt es in seinem Roman bestens, Realität und Fiktion zu vermischen. Der Leser macht sich gemeinsam mit Hauptfigur Borenstein auf die Suche nach B. Traven. Egal ob beim Schachspiel mit Humphrey Bogart, in der Stierkampf-Arena oder in einem mexikanischen Bordell – der Roman ist so detailliert, dass es tatsächlich so gewesen sein könnte – abgesehen davon, dass Borenstein eine Erfindung von Seifert ist.

Die Lektüre von „Wer ist B. Traven“ hat mir das Mexiko Mitte des 20. Jahrhunderts atmosphärisch nahegebracht. Damit hatte ich im Vorfeld nicht unbedingt gerechnet und fand es durchaus interessant. Allerdings hatte ich mehr Spannung erwartet, die aber nur gelegentlich aufkam. Grund dafür mag der ein oder andere Zeitsprung oder Ortwechsel sein, der für mich als Leser zu überraschend kam, doch auch den Motiven einiger Protagonisten vermochte ich nicht zu folgen. Teilweise blieben Zusammenhänge einfach verborgen. Für den Ausgang der Geschichte mögen sie nicht unbedingt wichtig gewesen sein, doch jegliche Spannung verpuffte dadurch immer wieder. Mehr als die wahre Identität B. Travens beschäftige mich die Frage, welche Absichten welche Figur eigentlich verfolgte – ohne, dass das irgendwann aufgelöst worden wäre. Auch Leon Borenstein blieb eine eher blasse Haupfigur, mit der ich nicht so richtig mitfiebern konnte.
So blieb ich dann nach Abschluss des Buches auch etwas unzufrieden zurück und hatte das Gefühl, es wäre mir irgendwie nicht gelungen, tief genug einzusteigen.
Dennoch nehme ich einiges an Mexiko-Feeling mit, schöne Sätze und interessante Gedanken. „Wer ist B. Traven?“ ist gut geschrieben und grandios recherchiert. Die Lektüre lohnt sich, ich warne jedoch davor, einen fesselnden Abenteuerroman zu erwarten. Wer so etwas lesen will, sollte – nach all den im Buch zu lesenden Beschreibungen – wohl doch eher direkt zu B. Travens Werken greifen.

Verlag: Tropen
Seitenzahl: 269
Erscheinungsdatum: 14. Oktober 2017
ISBN: 978-3608503470
Preis: 20,00 € (E-Book: 15,99 €)

7. Februar 2018

Yewande Omotoso: "Die Frau nebenan"

Folgendes Buch besitze ich bereits seit ein paar Monaten, habe es aber jetzt erst anläslich eines Kapstadt-Besuchs gelesen. Mein Glück, denn sonst hätte ich wirklich etwas verpasst. Da es abseits aller Touristenpfade spielt, hat es zwar inhaltlich gar nicht so sehr zum Urlaub gepasst, aber einen großartigen Eindruck von den Schwierigkeiten des Miteinanders gegeben, dem Erfahrungen, Prägungen, Traditionen im Weg stehen können - nicht nur in Südafrika.


Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben ...


… wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt – oder der bösen Nachbarin. Hortensia und Marion können davon ein Lied singen, wobei sich hier kaum eine Einteilung in „fromm“ und „böse“ vornehmen lässt. Die Nachbarinnen, bereits jenseits der achtzig und in einem reichen Kapstädter Vorort namens Katterijn wohnend, pflegen eine bereits Jahrzehnte währende Abneigung zueinander. Die dunkelhäutige Hortensia wirft der weißen Marion Rassismus vor, Marion Hortensia dagegen Boshaftigkeit – beides ist gerechtfertigt. Doch als sie, inzwischen verwitwet und auf sich alleingestellt, in unterschiedliche Notsituationen kommen, nähern sie sich einander an und räumen der jeweils anderen widerwillig einen Platz in ihrem Leben ein. Ihr Umgang miteinander bleibt dabei scharfzüngig und schonungslos, aber dennoch müssen sie feststellen, dass sie einander tatsächlich mal Stütze, mal moralischer Kompass sein können – und niemand ist darüber verblüffter als die beiden selbst.

Hortensia und Marion haben sehr unterschiedliche Lebenswege hinter sich, die im Laufe des Romans in Form von Erinnerungen erzählt werden. Jede von ihnen blickt auf ein bewegtes Leben zurück: Marion, 1933 in Südafrika geborene Tochter litauischer Auswanderer, hat sich eine Karriere als Architektin aufgebaut und vier Kinder großgezogen. Hortensia dagegen ist in Barbados aufgewachsen, hat in London studiert und ist schließlich eine so bekannte wie erfolgreiche Textildesignerin geworden, die vor ihrem Umzug nach Kapstadt lange mit ihrem englischen Ehemann in Nigeria lebte. Im Vergleich zu ihr wirkt Marion gelegentlich etwas blass, was nicht nur Hortensias scharfer Beobachtungsgabe und ihrer verbittert-unversöhnlichen Perspektive geschuldet ist. Ein Blick auf den Lebenslauf der Autorin legt nahe, dass ihr die Figur der Hortensia beim Schreiben des Romans auch etwas näherstand, hat sie deren Lebensstationen doch an ihre eigene Biografie angelehnt: Yewande Omotoso ist in Barbados geboren, in Nigeria aufgewachsen und lebt heute in Südafrika. Die 37-jährige Autorin ist sie viel jünger als ihre Protagonistinnen, die dennoch so glaubwürdig wie lebendig erscheinen, wenn auch Marions Konturen nicht ganz so scharf herausgearbeitet wurden wie Hortensias.

Omotoso schildert die beiden unterschiedlichen Frauenschicksale sehr anschaulich. Die sich unterhaltsam lesenden Wortduelle der beiden lockern eine Lektüre auf, die große Fragen anpackt: Wo fängt Rassismus an? Wie kann Versöhnung aussehen? Eine Geschichte über Einsamkeit und Freundschaft, inneren Frieden und Rachegelüste, angesiedelt in der südafrikanischen Post-Apartheid-Ära und damit in einem spannungsgeladenen Umfeld. „Die Frau nebenan“ ist vielschichtig und alles andere als schwarz-weiß. Ein feiner Lesegenuss, der nachwirkt.

Verlag: List
Seitenzahl: 272
Erscheinungsdatum: 10. März 2017
ISBN: 978-3471351444
Preis: 18,00 € (E-Book: 14,99 €)

31. Januar 2018

Homer Hickam: "Albert muss nach Hause"

Zum Monatsende hin habe ich ein weiteres Weihnachtsgeschenk beendet. Meine lesebegeisterte Tante hat es mir geschickt und wie so oft ein gutes Händchen bewiesen. Das Buch hat einen Hauch von Magie in diesen Januar gebracht - ohne dabei in irgendeiner Art und Weise Übersinnliches anzudeuten. Aber schon das Cover zeigt, dass man es hier mit keiner ganz normalen Geschichte zu tun hat ...


„Albert muss nach Hause“ handelt von einem außergewöhnlichen Roadtrip. Elsie und ihr Mann Homer wollen ihren Alligator Albert nach Orlando bringen, wo er vermutlich hergekommen ist – zumindest hat ihn ein von dort stammender Ex-Freund Elsie zur Hochzeit geschenkt. Damals passte Albert noch in eine kleine Pappschachtel, doch inzwischen hat er eine ansehnliche Größe erreicht und es wird Zeit für ihn, das Bergarbeiterstädtchen Coalwood in West-Virginia zu verlassen – findet zumindest Homer. Sorgen bereitet ihm allerdings, dass seine Frau Elsie ihrer Heimat – und eventuell auch ihm – ebenfalls den Rücken kehren will. Homer hofft, dass sich alles regeln lässt, wenn sie Albert erst einmal losgeworden sind. Und so begibt sich das junge Ehepaar auf diese Reise mit ungewissem Ausgang. Ungeplant hat es sogar gleich zwei tierische Begleiter: Neben Alligator Albert kommt auch noch ein so namen- wie herrenloser Hahn mit, dessen Anwesenheit zwar sowohl Romanfiguren als auch Leser vor ein Rätsel stellt, der aber alles in allem eine charmante Figur macht.

Homer Hickam der Jüngere, ein Jahre nach diesem Roadtrip geborener Sohn von Elsie und Homer, ist Autor und Erzähler dieser so skurrilen wie warmherzigen Geschichte. Zwischen den einzelnen Reisestationen schildert er kurz, wie er von seinen Eltern von den jeweiligen Etappen erfuhr; sie wurden ihm im Laufe seines Lebens nach und nach erzählt. Was in diesem Roman tatsächlich der Wahrheit entspricht, wird sein Geheimnis bleiben. Elsie, Homer der Ältere, Albert und die Reise nach Florida scheint es wirklich gegeben zu haben – und die anderen Geschehnisse? „Die haben wir auch alle gemacht,“ sagt Elsie „auch wenn wir sie nicht gemacht haben“. Als Leser kann man kaum anders, als zu hoffen, dass die Erlebnisse von Elsie, Homer und Albert wahr sind – auch wenn sie teilweise ziemlich verrückt erscheinen und mindestens zwei von den drei Hauptfiguren regelmäßig mehr Glück als Verstand haben. Man wünscht sich, dass Elsie in ihrem Leben wirklich die Chance hatte, sich immer wieder neu zu erfinden und dass Homer tatsächlich mit dieser geduldigen Güte gesegnet war, die ihn im Roman auszeichnet. Und Albert? Die eigentliche Hauptfigur des Buches ist der vermutlich sympathischste Alligator, von dem man je gehört hat. Den möchte man am liebsten am Bauch kraulen, bis er grinst, und ihm dabei seine Glückslaute entlocken, die wie „Yeah-yeah-yeah“ klingen.

Die drei mit dem zugelaufenen Hahn auf ihrer Reise zu begleiten, fühlt sich wie ein modernes Märchen an. Ein Märchen in dem Kismet eine große Rolle spielt, in dem „das Alpha und das Omega der amerikanischen Literatur“ in Form von John Steinbeck und Ernest Hemingway Gastauftritte haben und in dem man nicht mal den gefühlt in jedem zweiten Teil vorkommenden Ganoven Slick und Huddie böse sein kann. Ein Märchen, in dem mitunter alles möglich scheint und das wie im Flug vergeht. „Albert muss nach Hause“ ist eine bezaubernde Unterhaltung.

Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 528
Erscheinungsdatum: 9. Oktober 2017
ISBN: 978-3959671262
Preis: 9,99 € (E-Book: 7,99 €)

25. November 2017

Kirsten Boie: "Thabo – Detektiv und Gentleman. Der Rinderdieb"

Ende August und Anfang September dominierten zwei Gentlemen meinen E-Book-Reader. Von dem einen habe ich kürzlich bereits berichtet: Alexander Graf von Rostov, "Ein Gentleman in Moskau". Er hat dem zweiten Gentleman, von dem ich las, in puncto Höflichkeit und formvollendete Manieren zugegebenermaßen einiges voraus, aber das ist verzeihbar - Thabo ist schließlich noch viel jünger als er und geht das Gentleman-Leben auch eher "learning by doing" an.

Ich hatte von "Thabo - Detektiv und Gentleman" noch nie gehört, was sicher daran liegt, dass ich mich nur selten mit Kinder- und Jugendbüchern beschäftige. Allerdings lese ich gerne Bücher, die im südlichen Afrika spielen, und dass eine deutsche Autorin, die ich schon aus meiner eigenen Kindheit kenne, Kinderkrimis schreibt, die in Swasiland angesiedelt sind, fand ich doch sehr spannend. Als es bei Lovelybooks die Gelegenheit gab, dieses Buch in einer Leserunde zu gewinnen und gemeinsam zu lesen, war ich daher sofort dabei.


„Der Rinderdieb“ ist der dritte Band um den swasiländischen Jungen Thabo, der bei seinem Onkel, einem Safari-Ranger aufwächst und einen, bzw. sogar zwei klare Berufswünsche hat: Er will Detektiv und Gentleman werden! In beidem übt er sich schonmal: In diesem Band wird er bereits das dritte Mal in einen Kriminalfall verwickelt, denn erst verschwinden Rinderherden und dann auch noch seine ältere Freundin Miss Agatha, mit der er ab und zu Miss Marple-Filme schauen darf. Außerdem wurden mehrere Hütten abgebrannt. Was geht in und um das Dorf Hlatikulu nur vor sich? Thabo und seine Freunde Emma und Sifiso versuchen, den Fall zu lösen. Dabei zeigt sich, dass Ich-Erzähler Thabo bereits ein Gentleman ist: Höflich hält er seine ausländischen Leser auf dem Laufenden, spricht sie immer wieder direkt an und erläutert ihnen seine Sichtweise der Dinge. Die Urlauber, die in der Lodge von Emmas Mutter leben, geben ihm zum Beispiel oft Rätsel auf: „Touristen sind merkwürdig. Wenn sie sich bei ihrer Safari nicht wenigstens ein bisschen fürchten, sind sie unzufrieden. Andererseits möchten sie aber auch gerne lebend nach Hause zurückkommen.“ Als Leser kann man gar nicht anders, als Thabo, der sein Alter nicht verrät (als Gentleman spricht er nicht darüber) in sein Herz zu schließen.

Dieses Buch war der erste Thabo-Band, den ich gelesen habe – aber nicht der letzte! Auch ohne Vorkenntnisse habe ich mich von Anfang an bestens zurechtgefunden. Die Hauptfigur Thabo hat es mir sofort angetan; Autorin Kirsten Boie schildert seine Perspektive so charmant wie nachvollziehbar. Boie hat durch viele Reisen selbst einen liebevollen Blick auf Land und Leute entwickelt und den gekonnt auf ihre Hauptfigur übertragen. Dadurch, dass sie sich im südlichen Afrika offensichtlich sehr gut auskennt, vermittelt das Buch außerdem einiges an Wissen über die Lebensumstände dort. Das geschieht ganz nebenbei, ohne die eigentliche Geschichte zu stören, da Thabo einfach immer wieder von sich, seinem Kumpel Sifiso und seiner Freundin Emma erzählt. Diese lebt als Tochter der (weißen) Lodge-Inhaberin ein völlig anderes Leben als die Waisen Thabo und Sifiso; letzterer ist mit drei Geschwistern auf sich alleine gestellt, während Thabo bei seinem Onkel aufwächst. Aber als Freunde sind sie alle gleichberechtigt, wenn sie auch ab und an unterschiedliche Sichtweisen auf die Dinge haben. Für die Lösung des Falls sind dann auch alle drei unentbehrlich.

Kirsten Boie vermittelt, dass weder unterschiedliche Besitzverhältnisse noch Lebensumstände noch Hautfarbe etwas über den Charakter eines Menschen aussagen. Was zählt, sind Aufrichtigkeit und Freundschaft.  Ich war einfach nur beeindruckt, wie sie nebenbei auch schwierige Themen anspricht, nichts verschweigt oder beschönigt, dabei aber kindgerecht bleibt und eben auch zeigt, dass die äußeren Umstände nicht das Herz eines Menschen definieren. Ich werde „Thabo“ sicher an einige Kinder verschenken, denn dieses Reinschnuppern in ein weit entferntes Land und das Kennenlernen von Thabo, Emma und Sifiso, die bei aller Pfiffigkeit doch ganz normale Kinder sind – das kann nur bereichernd sein und den Blick auf diese Welt wieder etwas mehr öffnen. Ich kann dieses Buch nur empfehlen.

Verlag: Oetinger
Seitenzahl: 320
Vom Verlag empfohlenes Alter: 10-12 Jahre
Erscheinungsdatum: 21. August 2017
ISBN: 978-3789120343
Preis: 12,99 € (E-Book: 9,99 €)

19. November 2017

Etgar Keret: "Die sieben guten Jahre: Mein Leben als Vater und Sohn"

Als ich zu diesem Buch griff, hatte ich noch nie von Etgar Keret gehört - dachte ich zumindest. Nach der Lektüre googelte ich ihn und stellte fest, dass der israelische Schriftsteller erst Anfang November für die letzte Seite des ZEIT Magazins interviewt worden war; in der Rubrik "Das war meine Rettung", die ich sehr gerne lese.
Und so ist Keret mir also bereits vor knapp zwei Wochen einmal begegnet, aber da mir sein Name damals noch nichts sagte, hatte ich das Interview offensichtlich schnell wieder vergessen. Als ich mir das E-Book runterlud, war mir nicht bewusst, dass er ein internationaler Bestsellerautor ist, dessen Bücher bereits in 37 Sprachen übersetzt wurden. Mich hatten einfach der Titel und die Kurzbeschreibung angesprochen - und das Cover, das in schwarzweiß leider längst nicht so ein Eyecatcher ist wie in gelb auf der Homepage des Fischer Verlages.


Keret erzählt in „Die sieben guten Jahre“ Anekdoten, die sich in den Jahren ab der Geburt seines Sohnes bis hin zum Tode seines Vaters zugetragen haben. Er wird dabei sehr persönlich – so persönlich, dass er sich entschieden hat, dieses Buch nicht auf Hebräisch und nicht in seinem Heimatland Israel zu veröffentlichen. Er schrieb es zwar in seiner Muttersprache, ließ es dann jedoch sofort ins Englische übersetzen und nur diese englische Fassung wurde lektoriert und von ihm überarbeitet. Keret sieht seine ausländischen Leser als Fremde, denen er in einem Zugabteil begegnet und denen er für die Dauer dieser Zugfahrt Geschichten erzählt – bevor er wieder aussteigt und die Wege sich trennen.

Ich habe „Die sieben guten Jahre“ innerhalb von zwei Tagen an allen möglichen Orten gelesen (im Zug allerdings nicht), so sehr haben mir Kerets Anekdoten gefallen. Ich hatte eigentlich mit einem Roman gerechnet, aber das Buch enthält in sich abgeschlossene Geschichten, die chronologisch besagten sieben Jahren zugeordnet werden. Ein winziges bisschen fühlte ich mich an die Erzählungen von Horst Evers erinnert, die ich sehr mag. Keret ist kein Kabarettist, aber er hat Humor und Witz und genau wie eine gewisse Melancholie schwingen diese in seinen Geschichten mit. Sein Stil ist dabei unheimlich leichtfüßig.
Inhaltlich sind die Geschichten eine Mischung aus Alltagsbeobachtungen, eigenen Erlebnissen und Erinnerungen an skurrile Situationen. Ein Streitgespräch mit einem Taxifahrer, der den dreijährigen Sohn des Autors angebrüllt hatte, liest sich ebenso unterhaltsam und weise wie die Geschichte um das Warschauer Keret-Haus, das den Familiennamen wieder zurück in die Geburtsstadt der Mutter brachte.

Kerets Herz gehört seiner Heimat Israel. Der jüdische Glaube an sich scheint für ihn keine große Rolle zu spielen; er selbst glaubt nicht an Gott, lebt aber in einem Land, in dem Religion und Politik untrennbar miteinander verbunden sind. Auch in den „Sieben guten Jahren“ gab es Auseinandersetzungen um den Gaza-Streifen, Operationen mit Namen wie „Gegossenes Blei“ und „Wolkensäule“. Bombenalarme und Gespräche über Krieg gehörten teilweise zum Alltag des Autors und fließen so auch in seine Geschichten ein. Im gleichzeitig traurigen, komischen und berührenden Kapitel „Pastrami“ schildert Keret, wie er und seine Frau mit dem kleinen Sohn spielen, dass sie drei ein Sandwich bilden – so können sie das Kind während eines Bombenalarms gleichzeitig beruhigen und es dazu bringen, sich mit ihnen neben dem Auto in einen Graben zu legen. Der Autor sieht Israels Politik durchaus kritisch, auch das blitzt immer wieder in seinen Geschichten durch. Vor allem erzählen sie jedoch davon, wie Alltag in Israel heute aussieht, und das fand ich sehr interessant. „Die sieben guten Jahre“ haben mir Israel mit all seinen Widersprüchen ein ganzes Stück nähergebracht. Wobei Keret vermutlich zu den Autoren gehört, die über alles schreiben könnten – durch seinen Stil, seinen Witz, seine Ehrlichkeit und seine besondere Beobachtungsgabe wäre das Ergebnis auf jeden Fall lesenswert.

Verlag: Fischer Taschenbuch
Seitenzahl: 224
Erscheinungsdatum: 23. März 2017 (25. Februar 2016 als Hardcover)
ISBN: 978-3100495204
Preis: 10,99 € (E-Book: 9,99 €)

2. November 2017

Amor Towles: "Ein Gentleman in Moskau"

Nachdem in meinen ersten beiden Buchvorstellungen nicht unbedingt schöne oder bequeme Romane rezensiert werden, stelle ich diesmal einen Titel vor, der einen weitaus höheren Wohlfühlfaktor mit sich bringt. Was erstaunlich ist, handelt das Buch doch vom Leben eines russischen Adeligen, der jahrzehntelang im Moskauer Hotel Metropol unter Hausarrest steht. Trotzdem ist "Ein Gentleman in Moskau" erstaunlich kurzweilig und außerdem vergnüglich, feinsinnig und weise.
Wie unten zu sehen ist, habe ich das Buch als E-Book gelesen. Ich habe es bei Vorablesen.de gewonnen und mich Anfang September hineinvertieft.


Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass in diesem Roman nicht viel passiert. Gleich zu Anfang, wir befinden uns im Jahr 1922 in Moskau, wird die Hauptfigur Graf Alexander Rostov zu besagtem lebenslangen Hausarrest an seinem aktuellen Wohnort verurteilt. Dieser ist jedoch nicht das heimische Gut, da der Adelsstand schon einige Jahre zuvor abgeschafft wurde und Graf Rostov es längst verlassen musste. Seitdem lebt er im Hotel Metropol, dem ersten Haus am Platze in Moskau. Es verfügt unter anderem über zwei Restaurants, eine Bar, einen geschlossenen Blumenladen und eine Nähstube, so dass dem 33-jährigen Grafen immerhin nicht sofort die Decke auf den Kopf fällt.

Doch der Hausarrest des Grafen geht über Jahrzehnte, und als Leser begleitet man ihn dabei. Werden seine Begegnungen und Erlebnisse anfangs noch ausführlich geschildert, gibt es schließlich vermehrt Zeitsprünge. Diese wirken jeder Monotonie entschieden entgegen. Und auch sonst ist Graf Rostovs Leben im Hotel nur eine kleinere Ausgabe des Lebens in der richtigen Welt: Auch hier wird geliebt, gelacht und einander geholfen. Aber es wird auch bespitzelt und intrigiert – gegen die ehemals herrschende Klasse und eigentlich gegen jeden, der nicht zu den Bolschewiki zählt, kritisch hinterfragt oder auf die Äußerung seiner eigenen Meinung wert legt.

Bei der Lektüre dieses Romans habe ich einiges über das Leben im Russland des 20. Jahrhunderts gelernt; nicht zuletzt durch die gelegentlichen Fußnoten, die eine Brücke zwischen Fiktion und Wirklichkeit schlagen. Trotz der zerstörerischen Politik dieser Jahre handelt „Ein Gentleman in Moskau“ auch von Idealisten wie Graf Rostovs Freund Michail Fjodorowitsch, von selbstbewussten Frauen wie der Näherin Marina, von gutherzigen Parteimitgliedern wie Ossip Iwanowitsch Glebnikow und nicht zuletzt von Gentlemen wie Graf Rostov. Amor Towles hat als Hauptfigur einen beeindruckenden Philanthropen geschaffen, dessen Gedanken das Buch zu einem Lesevergnügen machen. Stets freundlich, höflich und so heiter wie möglich vermittelt er direkt und indirekt, was es heißt, ein Gentleman zu sein. Das Klischee vom grobschlächtigen Russen wird einem nach der Lektüre dieses Buches kaum mehr in den Sinn kommen.

Graf Rostovs teils philosophische Gedanken zu Heimat, Freundschaft und dem Leben generell machen diesen Roman so bemerkenswert. Ich habe mir ganze Passagen markiert, während ich das E-Book las. Es ging viel zu schnell, um sich alles zu merken, aber ich wollte die Sätze auch nicht einfach so an mir vorüberziehen lassen. Auch sprachlich überzeugen die Inhalte.
Und so ist es zwar größtenteils ein ruhiges Buch, aber es gibt auch dramatische Szenen. Zwar passieren oft nur Kleinigkeiten, doch durch die Sprache und die geschilderten feinsinnigen Gedankengänge werden auch diese interessant. Ein wohlkomponiertes, weises Buch mit genau dem richtigen Ende. Mir hat es sehr gefallen!

Verlag: List Hardcover
Seitenzahl: 560
Erscheinungsdatum: 8. September 2017
ISBN: 978-3471351468
Preis: 22,00 € (E-Book: 18,99 €)